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Brust oder Flasche?

Wirtschaftswissenschaftler suchen nach einer neuen Definition für Wohlstand.
aus DER SPIEGEL 39/2009

Es war ein erstaunliches Bekenntnis für einen Politiker, schon gar für einen wie Nicolas Sarkozy. »Weltweit glauben die Bürger, wir lügen sie an - und sie haben Gründe, so zu denken«, gestand der französische Staatspräsident vergangene Woche an der Pariser Sorbonne dem verblüfften Publikum.

Sarkozys Aussage bezog sich auf die Art, wie die Statistikbehörden das Wachstum einer Volkswirtschaft messen, eine äußerst fragwürdige, ja manipulative Rechnung, wie er findet. Deshalb hatte der Franzose kluge Köpfe, darunter den Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, gebeten, den Wohlstand gleichsam neu zu definieren. »Wenn es darum geht, das Wohlergehen der Gesellschaft zu messen, müssen wir andere Kennzahlen heranziehen«, so Stiglitz. In ihrem Modell, das sie nun vorgelegt haben, empfehlen die Professoren, auch Faktoren wie Nachhaltigkeit oder Bildung miteinzubeziehen.

Dass die klassische Berechnung des Inlandsprodukts erhebliche Defizite aufweist, war schon ihrem Erfinder bewusst, dem Ökonomen Simon Kuznets. »Der Wohlstand einer Nation kann nur schwerlich von der Höhe des Volkseinkommens abgeleitet werden«, erkannte er bereits 1934.

Die Zuwachsrate sagt eben nichts aus über die Verteilung der Vermögen im Land, über den Gesundheitszustand seiner Bewohner oder ihre Lebenserwartung. Die Zahl gibt keinerlei Hinweis auf die Sauberkeit der Flüsse oder die Emissionsbelastung der Luft. Auch was die Bürger ehrenamtlich leisten, schlägt sich in der Statistik mit keinem Cent nieder, ebenso wenig Hausarbeit: Kochen, Putzen, Waschen, Bügeln - volkswirtschaftlich irrelevant.

Wenn sich ein Pflegedienst um die kranke Mutter kümmert, fließt es in die Bilanz ein. Nicht aber wenn es die Tochter ist, die sie pflegt. Und wenn eine Mutter ihr Baby stillt, mag das für das Kind von Vorteil sein, ökonomisch wertvoller wäre es natürlich, die Mutter würde Milch und Flasche im Supermarkt kaufen.

Die Wachstumsrate nimmt sogar dann zu, wenn Dinge zerstört werden, wenn Naturkatastrophen oder Kriege die Menschen ins Verderben stürzen, denn daran verdienen Baubetriebe oder Pharmafirmen: Das Unglück der einen schafft den Reichtum der anderen.

In den vergangenen Jahren haben zahlreiche Wissenschaftler alternative Definitionen von Wohlstand gesucht und einige griffige Metaphern gefunden. Der Schweizer Mathis Wackernagel prägte beispielsweise das Bild vom ökologischen Fußabdruck. Demnach stehen jedem Menschen eigentlich 2,1 Hektar produktiv nutzbarer Erde zur Verfügung, tatsächlich werden für den Verbrauch eines Durchschnittsbürgers aber 2,7 Hektar gebraucht, der Amerikaner benötigt sogar fast 10 Hektar. Und Friedrich Schmidt-Bleek, Doyen der deutschen Umweltforscher, erfand den ökologischen Rucksack, den jeder unsichtbar mit sich herumschleppt.

Für einen zehn Gramm schweren Trauring aus Gold müsste seiner Rechnung zufolge ein Bagger ungefähr fünf Tonnen Natur umschaufeln. Ökologisch gesehen, so Schmidt-Bleek, wiege der Goldring am Finger des Familienvaters mehr »als der Kleinbus, in dem er seine Kinder spazieren fährt«.

Andere Wissenschaftler verfolgen einen konventionelleren Ansatz. Das Statistische Bundesamt legt seit 1996 eine umweltökonomische Gesamtrechnung vor: ein Tableau mit 21 Indikatoren, von der Artenvielfalt bis zur Staatsverschuldung. Die Ursprungsidee, alle Parameter in einer Zahl auszudrücken, haben die Wiesbadener bald aufgegeben. Auch Sarkozys illustre Truppe hat keine Weltformel ausgebrütet, entstanden ist eine Art Armaturenbrett, das verschiedene Messgrößen zeigt.

Nur wenige Forscher wagen eine Synthese und berechnen eine Art grünes Inlandsprodukt. Zu ihnen gehört der Heidelberger Ökonom Hans Diefenbacher. Er hat einen »Nationalen Wohlfahrtsindex« entwickelt.

Ausgangspunkt ist der private Verbrauch, dazu addiert er den Wert von Hausarbeit und ehrenamtlichem Engagement. Davon wiederum zieht er Faktoren ab, die er als schädlich erachtet: die Kosten für die Verschmutzung von Wasser und Luft etwa, aber auch die Ausgaben nach Verkehrsunfällen oder infolge von Kriminalität. Das Ergebnis zeigt eine Kurve, die seit Anfang des Jahrzehnts gegenüber der Wachstumsrate abfällt.

Natürlich habe das Konzept Schwächen, räumt Diefenbacher ein: die Schwierigkeit etwa, die Kosten für Umweltschäden zu bewerten oder das Verschwinden einer Tierart in Euro und Cent auszudrücken. Auch eine gewisse Beliebigkeit bei der Auswahl der Indikatoren wird ihm zuweilen vorgeworfen. »Wir rechnen nicht besser, wir rechnen nur anders«, kontert er dann.

Es herrscht also keineswegs ein Mangel an Ideen, wie Wohlfahrt zu definieren ist - und genau wegen dieser Unüberschaubarkeit ist die Vorherrschaft des klassischen Wachstumsbegriffs nur schwer zu brechen. Bislang jedenfalls hat sich kein Alternativmodell durchsetzen können.

Auch Diefenbacher zielt nicht darauf ab, das Inlandsprodukt abzuschaffen. Ihm genügte es schon, wenn sein Index ähnlich viel Aufmerksamkeit erzielen könnte. Und nicht mehr alle nur auf die eine Prozentzahl starrten.

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