Brutale Strafzinsen USA fürchten Kreditkarten-Crash
New York - Larry Summers ist offensichtlich überarbeitet. Der Top-Wirtschaftsberater von US-Präsident Barack Obama verheddert sich derzeit in allerlei Mega-Projekten: Hinter den Kulissen koordiniert er gleichzeitig die staatlichen Konjunkturpakete, die Rettung der Banken, die Abwicklung der Autobranche. Da kann es schon mal passieren, dass er einschläft - vor versammeltem Publikum.
So geschehen am Donnerstag voriger Woche im Roosevelt Room des Weißen Hauses. Da saß Summers müde am Kopfende eines langen Tisches, das Haupt auf die rechte Faust gestützt. Außerdem anwesend waren: Finanzminister Timothy Geithner, Stabschef Rahm Emanuel, ein Dutzend Wirtschaftsbosse - und Obama selbst. Kurz nachdem der Präsident das Wort ergriffen hatte, fielen Summers die Augen zu. Schließlich rutschte sein Kopf aus der Stützhaltung, und Summers schreckte peinlich berührt empor. Zu spät, Fotografen dokumentierten jeden Moment.
An der mangelnden Brisanz der Tagesordnung konnte es kaum gelegen haben. Denn besagte, halbstündige Sitzung galt der nächsten großen Krise der US-Wirtschaft: Die versammelten Bosse waren Vorstandschefs und Top-Manager der wichtigsten Kreditkartenfirmen des Landes. Darunter: Mastercard, Visa, American Express , Capital One , HSBC , Citigroup , Wells Fargo und Bank of America .
Obama hatte die Herren zur präsidialen Standpauke einbestellt. Er selbst erinnere sich "aus erster Hand" noch bestens daran, "von Kreditkarten abhängig" gewesen zu sein, sagte er, in Anspielung auf die Jahre vor seinen Bucherfolgen, die ihn zum Millionär machten.
Kreditkarten seien zwar unverzichtbar für den Konsum. Und doch: "Die Zeiten, in denen Zinsen und Säumnisgebühren jederzeit, aus jedem Grund erhöht werden können, müssen ein Ende haben." Dies gelte vor allem für die windigen Tricks der Firmen: "Kein Kleingedrucktes mehr, keine verwirrenden Geschäftsbedingungen mehr", forderte Obama.
US-Bürger in der Kreditfalle
Damit stürzte sich der oberste Krisenmanager der USA auf das nächste Milliardenproblem - die eskalierenden Kreditkartenschulden. 78 Prozent aller Amerikaner besitzen mindestens eine Kreditkarte. Zum Vergleich: In Deutschland haben nach Angaben des Allensbach-Instituts nur rund 35 Prozent der 14- bis 64-Jährigen eine persönliche Karte.
Mehr noch: Die explodierenden US-Kartenschulden drohen nun auch in der gesamten Finanzbranche eine neue, ähnlich fatale Kettenreaktion auszulösen wie vor einem Jahr die Hypothekenkrise. In beiden Fällen stützte sich das System auf die Garantie umlaufender Schuldenberge - eine Garantie, die auch bei den Karten jetzt wegbricht.
In den vergangenen zehn Jahren ist die Summe der offenen Kreditkartenschulden aller Amerikaner um 25 Prozent angestiegen. Im Februar 2009, dem bisher letzten gemeldeten Monat, ächzten die US-Bürger nach Angaben der Notenbank unter Kartenschulden in Höhe von insgesamt 956 Milliarden Dollar - 156 Milliarden Dollar mehr als 2004. Zwar hat sich diese Zahl seit ihrem historischen Höchststand von 977 Milliarden Dollar im dritten Quartal 2008 wieder leicht abgeschwächt. Doch nur, weil vielen US-Bürger sich diese allerletzte Finanzoption nicht mehr leisten können.
Im Teufelskreis der Wirtschaftskrise
Ein Drittel der Kreditkartenschulden entfällt auf die wachsende Zahl der Schuldner mit schlechter Bonität - die ihrerseits zusehends Gefahr laufen, säumig oder zahlungsunfähig zu werden: Der Anteil der klammen Kunden hat sich seit Ende 2006 von 3,9 auf 5,6 Prozent erhöht.
Es ist ein Teufelskreis. Die Wirtschaftskrise und die steigende Arbeitslosigkeit nötigen immer mehr Amerikaner dazu, sich auf Kreditkarten zu verlassen, um ihre grundlegendsten - und steigenden - Lebenshaltungskosten zu decken: Miete, Hypotheken, Lebensmittel, Krankenkosten. Denn anders als "debit cards", die die Summen direkt vom Konto abbuchen, vertagen "credit cards" das Problem auf später.
Und machen es dann nur noch schlimmer: Die Zinsen dieser Kreditkarten sind in den vergangenen Monaten dramatisch angestiegen, oft als Strafe für verpasste Zahlungsfristen. Anfang April warnte die Citibank die Kartenkunden, dass der Zinssatz ab sofort automatisch auf 29,99 Prozent angehoben werde, sobald auch nur eine Rate zu spät komme. Aber auch liquide Kunden kämpfen mit steigenden Zinsen - nicht nur bei Citi (plus drei Prozent), sondern beispielsweise auch bei American Express (plus drei Prozent) und Capital One (sechs Prozent).
Bezeichnend für viele Amerikaner ist der Fall von John Velasquez: Der New Yorker hat unter anderem eine Visa-Karte, ausgestellt von der Bank of America. Darauf hatte er 6151 Dollar Schulden angehäuft. Die letzte Monatsrechnung betrug 633 Dollar - inklusive Finanzierungsgebühr (138 Dollar) und Säumnisgebühr (39 Dollar). Selbst nach Zahlung der monatlichen Mindestrate war die Gesamtschuld kaum niedriger geworden.
"Ich kann mir das nicht länger leisten", sagte Velasquez, der gerade seinen Job als PR-Manager verloren hat, zu SPIEGEL ONLINE. Ihm bleiben zwei Auswege: Alle seine Karten zu konsolidieren und per Schuldnerdienst abzustottern - was seine Bonität auf Jahre hinaus verschlechtern würde. Oder die Summe auf eine weitere, neu eröffnete Kreditkarte zu übertragen, zu leicht besseren Zinssätzen. Er entschied sich jetzt für die zweite Variante.
Mit solchen Dilemmata sind heute viele Amerikaner konfrontiert. An den Zivilgerichten häufen sich die Verfahren gegen klamme Kreditkartenbesitzer. In New York verbuchen die Behörden mehr als tausend neue Fälle pro Tag.
Auflagen von der Fed
Die US-Notenbank hat die Banken kürzlich gezwungen, wenigstens die oft grotesken Geschäftsbedingungen transparenter zu gestalten. Alle weiteren Konzessionen lehnten die Unternehmen bisher jedoch ab. "Ich sehe ein, dass Sie alles, was über die Aktionen der Fed hinausgeht, als Overkill sehen", räumte auch Obama bei dem Treffen im Weißen Haus ein. Doch fügte er hinzu: "Ich bin anderer Meinung."
Die Banken haben indes ihr eigenes Problem mit dem Plastikgeld. Wie einst die Ramsch-Hypotheken haben sie auch die Kreditkartenschulden zu "kreativen" Spekulationsvehikeln gebündelt und an institutionelle Investoren weiterverkauft, etwa an Pensions- und Hedgefonds. Damit ermöglichten die Kartenunternehmen ihren Kunden immer neue Kreditlinien - auch für die, die sich das eigentlich nicht leisten konnten.
Und wie bei der Subprime-Krise droht das System jetzt zu kollabieren, weil das schwächsten Glied in der Kette versagt: Werden die ursprünglichen Schuldner zahlungsunfähig, bricht irgendwann das ganze Kartenhaus zusammen. Um sich dagegen abzusichern, erhöhen die Banken nun die Zinsen - und beschleunigen den Zusammenbruch damit nur.
Republikaner lehnen Eingriffe ab
Nun greift der US-Kongress ein, mit Obamas Flankenschutz. Anfang dieser Woche will das Repräsentantenhaus einen Gesetzesentwurf billigen, der unter anderem die Gebühren - derzeit 15 Milliarden Dollar im Jahr - und Zinsen verringern soll. Obama mahnte weitere Eingriffe an: "Einfache Sprache" bei den Kreditkarten-Kontoauszügen, neue "unkomplizierte Kreditkarten" - und verstärkte staatliche Aufsicht der Kartenfirmen.
Solche Maßnahmen dürften allerdings im Senat auf scharfen Widerstand der Republikaner stoßen. Es zeichnen sich langwierige Verhandlungen ab, dessen Ergebnis den drangsalierten Kartenkunden frühestens im nächsten Jahr zu Gute kommt.
Zumal der Kongress unter der Führung der Konservativen einst selbst die Fundamente für die heutige Kreditkartenkrise gelegt hat. Vor vier Jahren verabschiedete die Versammlung mit republikanischer Mehrheit ein Gesetz, das es den Amerikanern erschwerte, aus der privaten Schuldenspirale zu entkommen, den Banken dagegen freiere Hand gab. Das Regelwerk glich einem Kotau vor der Bankbranche, die das Vorhaben mit Lobby-Arbeit und Wahlkampfspenden unterstützt hatte.
Doch die Zeiten haben sich geändert: Jetzt saßen die Chefs dieser Banken artig im Roosevelt Room des Weißen Hauses, um sich von Obama maßregeln zu lassen. Top-Berater Summers war dabei der einzige, der einnickte: "Alle anderen im Raum", berichtete der anwesende Pool-Reporter Keith Koffler vom Kongressdienst "Roll Call" hinterher, "schienen hellwach."