
Vor der Corona-Pleitewelle Der weltweite Schulden-Tsunami


Zentrale der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main
Foto:Frank Rumpenhorst/ dpa
Gewöhnung ist ein verlockender Gemütszustand. Irgendwie wird es schon weitergehen wie gehabt. Warum aufregen? Wir lassen uns gern vom Status quo einlullen, bis wir irgendwann in einer anderen Realität aufwachen.
In der abgelaufenen Woche kamen verstörende Zahlen an die Öffentlichkeit. Das Institut of International Finance (IIF) vermeldete einen »Angriff des Schulden-Tsunamis«: Auf umgerechnet mehr als 270 Billionen (!) US-Dollar belaufen sich derzeit die weltweiten Gesamtverbindlichkeiten. Staaten, Unternehmen, Banken und Privatbürger zusammengezählt haben Schulden aufgehäuft, die mehr als die dreieinhalbfache jährliche Leistung der Weltwirtschaft betragen.
Das Problem ist nicht nur die Höhe der Verschuldung, sondern auch die Dynamik: Allein in den ersten drei Quartalen dieses Jahres stiegen die gesamtwirtschaftlichen Bruttoschulden um 15 Billionen US-Dollar, so die IIF-Kalkulationen.
Auslöser des drastischen Anstiegs im Laufe dieses Jahres ist die Coronakrise. Die Staaten gehen in die Vollen, um den Einbruch der Wirtschaftsleistung durch Shutdowns und Lockdowns abzufedern. Unternehmen haben sich mit Schulden vollgesogen, um bei wegbrechenden Einnahmen flüssig zu bleiben. Privatbürger versuchen ihren Lebensstandard in der schwersten Wirtschaftskrise seit Generationen halbwegs aufrechtzuerhalten. All das kommt auf Schuldenstände obendrauf, die bereits vor Ausbruch der Pandemie hoch waren.
Nun könnte man die Zahlen abtun als Panikmache einer Lobbyorganisation. Das IIF ist ein Zusammenschluss großer Finanzunternehmen; derzeitiger Chairman ist Axel Weber, Verwaltungsratschef der Schweizer UBS und vormals Präsident der Deutschen Bundesbank.
Allerdings passen die Zahlen des IIF zu den Befunden anderer Institutionen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnete kürzlich vor, dass allein die Schulden der Staaten in Relation zur Wirtschaftsleistung Rekordniveaus erreicht haben: Der Westen zusammengenommen, steht in Relation zur Wirtschaftsleistung so tief in der Kreide wie zuletzt am Ende des Zweiten Weltkriegs. In den Schwellen- und Entwicklungsländern sind die Werte so hoch wie niemals zuvor. Aktuell sei die Anfälligkeit des globalen Finanzsystems »hoch und steigend« . Statistiken der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) zeigen ähnliche Tendenzen.
Es ist nicht so, dass eine baldige Normalisierung in Sicht wäre. Schreibt man die bisherigen Trends fort, rechnet das IIF bis Ende des Jahrzehnts mit einem weiteren Anstieg der weltweiten Gesamtverschuldung – auf dann 360 Billionen Dollar.
Kann das gut gehen?
Pleiten, Pech und Erdoğan
Betroffen sind zunächst Schwellen- und Entwicklungsländer. Die Ratingagentur Fitch hält inzwischen 38 Länder für finanziell so geschwächt, dass sie Gefahr laufen, ihre Staatsschulden nicht mehr bedienen zu können.
Einige sind schon pleite: In der abgelaufenen Woche stellte Sambia seine Zinszahlungen auf einige Dollar-Anleihen vorläufig ein. Der Kupferproduzent hatte jahrelang von hohen Rohstoffpreisen profitiert. Internationale Anleger, auf der Suche nach positiven Renditen angesichts mickriger Zinsen im Westen, liehen dem afrikanischen Staat gern Geld. Dann brach der Kupferpreis ein – und mit ihm die Staatseinnahmen.
Erschwert wird die Situation vielerorts dadurch, dass Schwellen- und Entwicklungsländer einen Großteil ihrer Kreditaufnahme in Dollar, teils auch in Euro getätigt haben. Das war für sie von Vorteil wegen der niedrigen Zinsen im Westen. Und solange die Bewertungen ihrer Währungen hoch war und ihre Solvenz gesichert schien, ließen sich durch die Finanzierung in Hartwährung einige Wünsche erfüllen.
Die Coronakrise hat sie nun kalt erwischt. Einnahmen brechen weg, Ausgaben für Gesundheit und Soziales steigen, und die Währungen werten ab. Sambias Kwacha ist seit Jahresanfang gegenüber dem Dollar um ein Drittel gefallen. Entsprechend teuer wird aus sambischer Sicht der Schuldendienst.
Die Türkei, hoch verschuldet in Auslandswährung, versucht momentan, den Verfall der Lira mit drastischen Maßnahmen zu stoppen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat seinen Schwiegersohn vom Posten des Finanzministers entfernt, außerdem einen neuen Zentralbankchef eingesetzt, der in der abgelaufenen Woche die Leitzinsen auf annähernd 15 Prozent hochgesetzt hat. Da sowohl der türkische Staat als auch Unternehmen und Banken zu beträchtlichen Teilen in Dollar und Euro verschuldet sind, schmerzt die rapide Abwertung der Währung doppelt.
Argentinien traf es bereits früher in diesem Jahr. Internationale Gläubiger nahmen wohl oder übel hin, dass der südamerikanische Staat ausstehende Anleihen nur zu 55 Prozent zurückzahlt.
Was passiert, wenn die Zinsen steigen?
Im Westen liegen die Dinge anders, ebenso in China. Die Schulden der Staaten und Unternehmen sind zwar bedeutend höher als in ärmeren Volkswirtschaften. Aber sie lauten ganz überwiegend auf heimische Währung. Das nützt vielen Firmen zwar am Ende auch nichts, wenn bei wegbrechendem Geschäft die Überschuldung naht. Aber immerhin bedrohen nicht wild schwankende Wechselkurse ihre Solvenz.
Außerdem greifen die Notenbanken massiv in die Märkte ein und halten die Zinsen niedrig. Seit Februar hat die Bank von Japan 75 Prozent der neu emittierten Schuldverschreibungen aufgekauft, die Europäische Zentralbank (EZB) 71 Prozent, die Federal Reserve in den USA 57 Prozent, so der IWF. Damit sind Staatspleiten im Westen zunächst ausgeschlossen. Dennoch stellt sich die Frage, wie weit sich die Verschuldung noch aufblähen lässt – oder ob es irgendwann doch eng wird.
Immerhin ist es möglich, dass die Zinsen nicht ewig so niedrig bleiben wie derzeit. Dafür spricht insbesondere die Demografie. In den vergangenen Jahrzehnten sparten die großen Jahrgänge der Nachkriegsgenerationen fürs Alter. Diese Anlegergelder sorgten für eine massive Ausweitung des internationalen Kapitalangebots. Wenn sich diese Altersgruppen allmählich in den Ruhestand verabschieden, werden sie erfahrungsgemäß weniger sparen und einen Teil ihrer Vermögen verkonsumieren wollen. Das Kapitalangebot ginge zurück, der Preis für Kapital – der Zins – würde wieder steigen. Dieser Verknappungseffekt könnte beträchtlich sein, da die demografische Entwicklung in den großen westlichen Volkswirtschaften ähnlich verläuft. Diese Überlegungen sprechen dafür, die Schuldenstände nicht hemmungslos immer weiter in die Höhe zu treiben.
Finanzielle Unterdrückung
Wie man auch sehr hohe Schuldenstände abbauen kann, haben die USA und Großbritannien in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg vorgeführt. Damals gelang es, mit einer Mischung aus Wirtschaftswachstum und leichter Inflation die Last der Verbindlichkeiten allmählich zu erleichtern. Dazu kam die Strategie der »finanziellen Repression«: Die Zinsen waren phasenweise niedriger als die Inflationsrate, sodass Gläubiger einen Wertverlust erlitten. Eine strikte Finanzmarktregulierung sorgte dafür, dass das Geld nicht in attraktivere Anlagen abfloss. Die Bürger akzeptierten diese Art der schleichenden Enteignung, weil in den Nachkriegsjahrzehnten zugleich die Einkommen spürbar stiegen.
In gewisser Weise erleben wir derzeit eine Neuauflage dieser Strategie. Bei Nullzinsen und leichter Inflation sind die Realzinsen heute wieder negativ. Was fehlt, ist die realwirtschaftliche Dynamik. Ohne Wachstum und ordentlich steigende Einkommen wird es schwierig, hohe Schuldenlasten auf Dauer zu tragen – wirtschaftlich und politisch.
Vorige Woche haben wir an dieser Stelle darüber diskutiert, was sich gegen das Abknicken des deutschen Wachstumspfads tun lässt. Berechnungen des Sachverständigenrats (»Fünf Weise«) zeigen: 2025 werden die volkswirtschaftlichen Produktionsmöglichkeiten (»Produktionspotenzial«) nur noch halb so schnell wachsen wie ein Jahrzehnt zuvor. Das ist problematisch, denn das Produktionspotenzial ist eine wichtige Kenngröße für die Entwicklung des Wohlstands und für die Tragfähigkeit der Staatsverschuldung.
Allerdings ist die Entwicklung in anderen Ländern noch weit schwieriger, darunter in hoch verschuldeten, stagnierenden Eurostaaten wie Italien und Griechenland. Eine europäische Wachstumsagenda ist deshalb kein frivoler Luxus, sondern notwendig, um die Finanzstabilität zu erhalten.
Zum Schluss eine Überraschung
Deutschland könnte – und sollte – sich unter den gegebenen Bedingungen mehr öffentliche Schulden leisten. International gesehen sind wir die große Ausnahme: mit Verbindlichkeiten von aktuell um die 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, trotz Corona-Bazooka. In anderen westlichen Ländern sind 120 Prozent inzwischen die Norm. Auch die Privatwirtschaft ist moderat verschuldet, anders als das etwa in den USA oder in Frankreich der Fall ist.
Der deutsche Staat kann sich derzeit nicht nur umsonst Geld leihen, er kassiert bei Negativzinsen sogar einen Aufschlag. Investiert er dieses Geld in Vermögenswerte, die langfristig positive volkswirtschaftliche Renditen abwerfen – etwa: Bildung, Forschung, klimaneutrale Energie- und Verkehrsnetze –, wäre das ein gutes Geschäft.
Es sollte nicht so weit kommen, dass derjenige, der spart, der Dumme ist. Aber das ist eine andere Geschichte – die Sie, wenn Sie möchten, im aktuellen manager magazin lesen können.
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Berichtssaison I – Geschäftszahlen von Wintershall/Dea.