Coronakrise und Verbraucherschulden in den USA Ohne Airbag in den Crash

Autohändler in Kalifornien: Die US-Bürger fühlten sich lange auf der sicheren Seite
Foto: Kirby Lee/ APMillionen Amerikaner müssen in diesen Tagen eine finanzielle Triage-Entscheidung treffen: Zahle ich meine Hypothek? Oder besser die Kreditkartenschulden? Die Krankenversicherung? Die Stromrechnung? Oder die monatliche Rate fürs Auto?
So auch die 24-jährige Ashleigh Hanks. Die junge Frau hatte ein Jobangebot in einer Beilwurf-Bar in Clarksville, Tennessee. Doch das Coronavirus machte ihre Hoffnungen vorläufig zunichte. Das Axtwerfen gilt nicht als essenzielle wirtschaftliche Aktivität. Ersparnisse habe sie keine, sagte Hanks der Internetseite "Marketwatch" - dafür aber 1500 Dollar Restschulden aus einer Operation und keinen Schimmer, wie sie die nächste Rate für ihren gebrauchten Honda finanzieren solle: "Ich habe Angst, alles zu verlieren, wofür ich gearbeitet habe."
Mehr als 30 Millionen Amerikaner haben sich innerhalb weniger Wochen arbeitslos gemeldet, und viele wissen nicht, wie weiter. Jeder zweite Geringverdiener sagte in einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Pew, er könne nicht alle Rechnungen bezahlen. In der Mittelschicht ist es immerhin noch jeder Vierte, bei dem das Geld nicht reicht.
Schulden von mehr als 14 Billionen Dollar
Die meisten Amerikaner haben Schulden statt Ersparnisse. Im Februar, kurz bevor die Pandemie die Wirtschaft lahmlegte, stieg das Volumen der Konsumentenkredite noch einmal kräftig um mehr als sechs Prozent. Die Menschen fühlten sich auf der sicheren Seite. Die Wirtschaft wuchs und wuchs, die verfügbaren Einkommen ebenso, und die Arbeitslosigkeit war so niedrig wie seit Jahrzehnten nicht.
Dann kam Covid-19.
Insgesamt summieren sich die Hypotheken, Kreditkarten-Außenstände, Autofinanzierungen und Studienschulden auf mehr als 14 Billionen Dollar - ein Rekord. Zwar ist die Verschuldung in Relation zur Wirtschaftsleistung damit niedriger als vor der letzten Rezession. Aber Experten warnen, dass ein wachsender Teil der Kredite für Alltagsausgaben oder Produkte draufgehe, deren Wert anders als der von Immobilien im Laufe der Zeit nicht steigt.
Mit dem Absturz der Konjunktur ist die Verschuldung für viele Familien zur Falle geworden - und für die Volkswirtschaft zum Risiko. Die Investmentbank UBS sieht in diesem Jahr eine Kreditsumme von mehr als einer Billion Dollar in Gefahr:
950 Milliarden Dollar aus säumigen Hypotheken,
110 Milliarden Dollar an Kreditkartenschulden
und 60 Milliarden Dollar aus Autokrediten
könnten Not leidend werden, schätzen die Analysten. Der Kreditkartenriese Citigroup hat vorsorglich Rückstellungen gebildet. American Express hat angekündigt, massiv Kosten zu senken, um sich für die Ausfallwelle zu wappnen. Diese Unternehmen trifft die Krise gleich doppelt: Nicht nur müssen sie die Verluste verkraften, wenn ihre Kunden zahlungsunfähig werden. Zugleich sinken ihre Provisionseinnahmen, weil Hotels und Restaurants geschlossen sind, und verunsicherte Bürger das Geld zusammenhalten.
Der stille Pakt
In einer Art stillem Pakt kämpfen Politik, Banken und Verbraucher darum, die Zeit anzuhalten. Das vom US-Kongress beschlossene Hilfspaket erlaubt es rund 70 Prozent der Eigenheimbesitzer, Zahlungen erst einmal auszusetzen. Ähnliches gilt für diejenigen, die Studienschulden beim Staat haben. Die Finanztöchter der Autokonzerne wie GM, Fiat, BMW oder Toyota stunden Raten, um Privatinsolvenzen zu verhindern. Selbst die Edelmarke Maserati, Teil des Fiat-Chrysler-Konzerns, bietet klammen Kunden einen Zahlungsaufschub von bis zu 120 Tagen an. "Wir sind hier, um zu helfen", versichern derweil die Kreditkartengesellschaften auf ihren Internetseiten. Fast alle gewähren Aufschub, manche sogar Nachlass, oder sie verzichten auf die üblichen Überziehungszinsen von 15 Prozent. Zugleich allerdings drehen sie Kunden mit schlechter Bonität langsam den Hahn zu, indem sie Karten sperren oder die Ausgabenlimits herabsetzen.
Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 180 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.
Doch je länger die Krise dauert, desto schwieriger wird sich die Pleitewelle stoppen lassen. Rund 110 Millionen Amerikaner sind mit Außenständen auf der Kreditkarte in das Corona-Desaster gestartet. Und wer im April nicht zahlen konnte, wird mutmaßlich auch im Mai nicht genügend Einkommen haben. Nach Erhebung des New Yorker Fintech-Unternehmens Dv01, das die Aktivitäten von Online-Kreditplattformen wie LendingClub verfolgt, waren Anfang April schon rund zwölf Prozent der Verbraucherkredite dieser Anbieter säumig. Einen derart rasanten Anstieg der Rate habe "ich in meinen 30 Jahren im Geschäft nicht gesehen", sagte William Ryan von der Investmentbank Compass Point dem Magazin "Forbes".
Schon vor der Krise habe es Alarmzeichen gegeben, sagt auch Torsten Slok, Chefökonom von Deutsche Bank Securities. Vor allem bei Jüngeren, Geringverdienern, Minderheiten und Geringqualifizierten sei die Ausfallrate schon damals gestiegen. "Die Verbraucher waren anfällig", sagt Slok: "Der Ausgangspunkt vor der Krise war nicht gut. Und das hat sich jetzt deutlich verschärft."
Dass die Verbraucherkredite nun einen Beinahe-Finanzkollaps wie 2008 auslösen könnten, glaubt Slok jedoch nicht. Anders als die zu Paketen verschnürten Subprime-Häuserkredite seien die Konsumentenkredite nicht bei einzelnen Anbietern konzentriert, sondern breit in den Portfolios der institutionellen Anleger gestreut.
Für die US-Konjunktur ist das Risiko trotzdem beträchtlich. Immerhin seien es normalerweise gerade die Verbraucherausgaben, die Amerikas Wirtschaft am Laufen hielten, warnt die demokratische Senatorin Elizabeth Warren, die mehr Hilfen für die verschuldeten Haushalte fordert. Ihr Argument: "Wenn die Amerikaner am Ende in Schulden ertrinken, wird das die Erholung der Wirtschaft bremsen, weil die Menschen dann weniger für Waren und Dienstleistungen ausgeben."
Ashleigh Hanks aus Tennessee hat ihr Problem ohne die Hilfe der Regierung gelöst. Die junge Frau startete einen Spendenappell auf der Plattform GoFundme. 3415 Dollar kamen binnen weniger Tage zusammen, viel mehr, als sie für das Auto überweisen musste. "Meine Rechnungen sind bezahlt, und ich bin nun schuldenfrei", jubelte Hanks auf Twitter.