Missbrauch von Corona-Hilfen Der Berliner Geldautomat

Berlin bekommt viel Lob: Die Milliardenhilfe für Kleinstunternehmer kam schnell und unbürokratisch. Doch das Geld floss offenbar auch an viele, die es gar nicht brauchen.
Foto: Michael Kappeler/ DPA

An Begeisterung für sich selbst hat es dem Berliner Senat noch nie gefehlt. Doch selten wird die überschwängliche Selbsteinschätzung von einer breiteren Öffentlichkeit geteilt. Ganz anders ist das in der Coronakrise: Die schnelle und unbürokratische Auszahlung der Soforthilfen für Ladenbesitzer, Gastwirte und kleine Dienstleister hat den Regierenden viel Anerkennung eingebracht.

Berlin fand auch international Beachtung, in Ost und West: Die "New York Times" schrieb Lobendes. Der glückliche Facebook-Post eines ursprünglich aus Sankt Petersburg stammenden Fremdenführers, er habe zum ersten Mal etwas Gutes durch einen Staat erfahren, wurde in seiner erstaunten russischen Heimat 20.000-fach geteilt .

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Das Programm habe "in nur wenigen Tagen unzähligen Menschen wieder Luft zum Atmen gegeben", findet Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne). Es habe "der Stadt in ihrer ganzen Breite unter die Arme gegriffen und ist ein riesiger Erfolg".

Die Frage ist allerdings, ob das Programm womöglich zu breit angelegt war - und auch unter den ein oder anderen Arm griff, der eigentlich allein stark genug gewesen wäre.

Ein gut verdienender Berliner Manager fiel jedenfalls aus allen Wolken, als ihm seine Frau nach dem Abendbrot eröffnete: Schatz, ich könnte morgen 5000 Euro vom Senat bekommen. Die selbstständig tätige Sprachlehrerin hatte sich um einen Platz in der Warteliste des Berliner Soforthilfeprogramms für Kleinunternehmer bemüht. 

Tausende Euro für ein gut versorgtes Ehepaar

Hätte sie den Antrag zu Ende ausgefüllt, sie hätte mit großer Wahrscheinlichkeit binnen kurzer Frist auch eine erkleckliche Summe auf dem Konto gehabt. So wie ihre Bekannten, die sie auf das Programm aufmerksam gemacht hatten, und die Beträge zwischen 5000 und 14.000 Euro ausgezahlt bekamen - obwohl nicht alle Existenzsorgen wegen Corona haben. Teils, weil sie neben der gemeldeten Selbstständigkeit auch noch einer zweiten Tätigkeit nachgehen, in Festanstellung. Oder weil sie nicht durch Kosten etwa für ein eigenes Ladengeschäft oder Büro belastet sind. Oder weil der Partner gut verdient.

In einem Fall überwies der Senat 9000 Euro auf das Konto eines Journalisten, der zwar auf dem Papier auch ein Gutachterbüro betreibt, in den vergangenen Jahren aber offenbar nur wenig Aufträge bearbeitet hat - und dessen Partnerin bei einem Dax-Konzern arbeitet.

"Allet sollte so einfach wie möglich sein - aber nicht zu einfach."

Auch mit dem Antrags- und Formularwesen vertraute Fachleute melden leise Zweifel an, ob das Prinzip der großen Gießkanne wirklich geeignet war für die Hilfe, die die Politik versprochen hatte. "Im Prinzip war der Antrag auf Soforthilfe so einfach wie der Gang zum Geldautomaten", lästert ein Steuerberater. Wenn einem die Sache so leicht gemacht werde, komme das fast einer Einladung zum Missbrauch gleich. "Wie sagte Einstein so treffend", sagt der Fachmann, der seinen Namen nicht veröffentlicht sehen möchte, in breitem Berlinerisch: "Allet sollte so einfach wie möglich sein - aber nicht zu einfach."

Bei der in Berlin federführenden Investitionsbank IBB will man solche Einwände nicht ohne Weiteres gelten lassen. Im elektronischen Antragstool habe man "einige automatische Prüfmechanismen" integriert, sagt IBB-Kommunikationschef Jens Holtkamp. Diese Prüfroutinen seien ergänzt worden durch manuelle Stichprobenüberprüfungen. "Alle auffälligen Anträge schauen wir uns sehr genau an". Man gehe weiterhin davon aus, dass zweifelhafte Auszahlungen im "Vergleich zu den bewilligten Anträgen eine vernachlässigbare Größe bleiben".

Das Dilemma: Prüfen - oder schnell sein?

Noch ist nicht abzuschätzen, wie groß der Anteil der missbräuchlich gestellten - und bewilligten - Anträge tatsächlich ist. Einzelfälle sind es allerdings offenbar nicht. So berichtet ein selbstständiger Tanz- und Fitnesslehrer dem SPIEGEL, er habe etwas überrascht festgestellt, dass ihm statt der beantragten 5000 Euro sogar 8000 Euro überwiesen seien worden. Warum, das könne er selbst nicht verstehen. In seinem Bekanntenkreis sei es vielen ähnlich ergangen. Geld sei auch an einen Kollegen geflossen, "der einen festen und weiter bezahlten Job hat". Alle würden sich nun fragen, "was wir mit dem Geld überhaupt machen dürfen". 

Dass solche Fälle möglich sind, ist auch Folge eines Dilemmas: Als die Corona-Epidemie weite Teile des Wirtschaftslebens abrupt stilllegte, mussten die Behörden schnell handeln. Jeder Tag Zögern, jede von Antragstellern zu erfüllende Bedingung und jedes einzureichende Formular erhöhen den Aufwand - und damit die Wahrscheinlichkeit, dass die Hilfen einige Firmen nicht mehr rechtzeitig erreichen. Berlin entschied sich für ein besonders unbürokratisches Vorgehen: einen Antrag online, Name, Steuernummer, ein paar Klicks. 

Klar ist: Für viele Selbstständige, Kleinunternehmer oder Angehörige der Freien Berufe ist das Geld immens wichtig - und die Geschwindigkeit, mit dem es bewilligt wird. Nur so können viele ihren Betrieb erhalten und etwa Kosten für ein angemietetes Büro auffangen, ohne in die Pleite zu rutschen. 

Höhere Hemmschwelle

Andere Bundesländer entschieden sich dennoch für ein anderes Vorgehen: In Baden-Württemberg etwa müssen die Anträge nicht elektronisch, sondern schriftlich eingereicht werden. Das verlängert zwar die Wartezeit, erhöht aber auch die Hemmschwelle. Rheinland-Pfalz besteht ebenfalls auf von Hand unterschriebene Formulare.

In Überprüfungen in Baden-Württemberg wiesen dennoch mehr als ein Drittel der Anträge Fehler auf oder waren unvollständig. In Hessen wiederum fallen einige Selbstständige komplett durchs Raster: Da Künstler etwa vor allem Lebenshaltungskosten, nicht aber Betriebsausgaben haben, könnten sie bei den dortigen Soforthilfen leer ausgehen. Für sie greifen dann die Hartz-IV-Regeln.

In Nordrhein-Westfalen wurden sechs Prozent der eingereichten Anträge nicht bewilligt, weil die Prüfer dort schwerwiegende Fehler vermuteten, teils aber auch Verbrechen. Allein im Regierungsbezirk Köln liegen rund 5000 Fälle auf dem Stapel "genauere Prüfung". Viele davon sind Anträge von Firmen, die als Gesellschaften bürgerlichen Rechts (GbR) organisiert sind. Bei diesen Konstruktionen kann es vorkommen, dass jeder Gesellschafter einen eigenen Antrag stellt. Den Landesbehörden sind Fälle von Firmen bekannt, bei denen Dutzende Gesellschafter Anträge stellten.

Berlin hofft auf die Ehrlichkeit der Empfänger

Auch in Berlin schwant den Beamten offenbar inzwischen, dass zahlreiche Gelder an die falschen Adressaten geflossen sein könnten. Die Verwaltung bereitet ein Schreiben vor, es soll in der kommenden Woche per Mail an alle Empfänger von Corona-Hilfen verschickt werden. Einerseits soll es zur Vorlage beim Finanzamt dienen, wie IBB-Sprecher Holtkamp erklärt. Andererseits aber auch "jedem die Möglichkeit geben, seine Angaben noch einmal zu überprüfen".

Dabei schwingt die Hoffnung mit, der eine oder andere werde seinen Bedarf vielleicht selbst noch einmal kritisch prüfen - und zu viel gezahltes Geld zurücküberweisen. Jedenfalls würde eine Nachprüfung durch das Land erfolgen, warnt Holtkamp. Finanzämter sowie die Rechnungshöfe von Bund und Land, aber auch EU-Behörden stünden Kontrollen zu.

Im Einzelfall sei mit schwerwiegenden Konsequenzen zu rechnen. Bewusst falsche Angaben im Antragsformular etwa kämen einer falschen Versicherung an Eides statt gleich, je nach Organisation und Tätigkeit des Antragstellers komme dann der Tatbestand des Betrugs oder des Subventionsbetrugs in Betracht. Solche Vergehen können mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren der Geldstrafen geahndet werden.

Der Berliner Manager glaubt nicht, dass zu Unrecht gezahlte Mittel zu substanziellen Teilen zurückgeholt werden können. Er hat per Mail eine Beschwerde an den Finanzsenator geschickt. "Warum hat der Senat nicht wenigstens ein paar Stunden darüber nachgedacht, wie er Mitnahmeeffekte begrenzen kann? Wieso gab es keine Frage nach Ersparnissen, nach dem Gesamteinkommen des Haushalts?", fragt er.

Nun habe die Stadt binnen kurzer Frist "1,3 Milliarden Euro durch den Schornstein geblasen. Aber demnächst heißt es wieder, für die Sanierung der Schulen sei kein Geld da."

Anmerkung der Redaktion: Wir haben die Angaben zum Verfahren in Rheinland-Pfalz korrigiert. Anträge können dort laut Investitions- und Strukturbank des Landes nicht nur per Post, sondern auch online eingereicht werden - sofern diese zuvor ausgedruckt, unterschrieben und wieder eingescannt worden sind.

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