Geändertes Infektionsschutzgesetz Warum Schließungen immer noch möglich sind

Die »epidemische Notlage von nationaler Tragweite« läuft aus. Bund und Ländern steht das neue Infektionsschutzgesetz zur Verfügung. Drohen bei weiter steigenden Corona-Zahlen wieder Shutdowns?
Lokal in Pirna: Vorausplanung wird komplizierter

Lokal in Pirna: Vorausplanung wird komplizierter

Foto: Daniel Schäfer / imago images/Daniel Schäfer

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Eigentlich hatten Olaf Scholz und seine Mitstreiter von den Grünen und der FDP geplant, am Mittwoch ihren großen Verhandlungserfolg zu verkünden. Die Ampel steht, sollte die Nachricht lauten. Stattdessen schob sich die Coronakrise in den Vordergrund. So kündigte der voraussichtlich künftige Kanzler Scholz (SPD) zunächst einmal die Einrichtung eines ständigen Bund-Länder-Krisenstabs im Kanzleramt an, der den Kampf gegen die dramatische Entwicklung koordinieren soll. Es gehe darum, die Lage eng zu beobachten, die Wirkung von Maßnahmen zu überprüfen und weitere Schritte zu entwickeln, sagte Scholz.

Wenn die Zahlen sich weiterhin so dynamisch entwickeln, dürfte eine engere Abstimmung allein kaum noch ausreichen. Zumal der Bund den wichtigsten Hebel für ein wirksames Eingreifen bereits aus der Hand gegeben hat. Denn an diesem Donnerstag endet nach mehr als anderthalb Jahren auch die Feststellung der »epidemischen Notlage von nationaler Tragweite«, dank derer die Bundesregierung spezielle Befugnisse hatte und so Maßnahmen ohne Zustimmung des Parlaments verhängen konnte. SPD, Grüne und FDP sahen diese Rolle allerdings kritisch. Deshalb brachten die drei Parteien eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes auf den Weg, die am Mittwoch in Kraft getreten ist. Die Sonderbefugnisse der Regierung enden, den Ländern steht stattdessen ein eigener, kleinerer Maßnahmenkatalog in der Coronabekämpfung zur Verfügung. Die Wirksamkeit der neuen Regelungen wird allerdings schon in Zweifel gezogen.

Was heißen die neuen Regelungen für die Wirtschaft? Drohen weitere Shutdowns oder Schließungen von Läden?

Die Instrumente, die den Ländern nun zur Verfügung stehen, sind die bekannten – allerdings sind dabei Beschränkungen ausgenommen, die besonders tief in die Grundrechte eingreifen: Es können keine pauschalen Ausgangsverbote mehr verhängt oder Veranstaltungen generell verboten werden. Auch die flächendeckende Schließung von Gastronomie, Geschäften, Hotels und Schulen oder Universitäten ist nicht mehr vorgesehen. Einrichtungen können nur noch dichtgemacht werden, wenn es dort zu einem Corona-Ausbruch kam.

Dafür gilt inzwischen im öffentlichen Nahverkehr und am Arbeitsplatz bundesweit eine 3G-Regel: Personen müssen geimpft, genesen oder getestet sein. Die Länder haben zudem die Möglichkeit, in weiteren Bereichen wie Gastronomie 3G- und 2G-Regelungen zu beschließen sowie Masken- und Abstandsgebote zu verhängen. Die Länderparlamente können außerdem in Zukunft eigenständig eine epidemische Lage ausrufen, um weitergehende Maßnahmen zu verhängen.

Zumindest für Konzerne und größere Unternehmen dürfte all das kaum eine große Umgewöhnung bedeuten, denn 3G ist hier ohnehin schon gängige Praxis. Allenfalls der bürokratische Aufwand steigt, weil nun die Arbeitgeber für die Überprüfung der Nachweise zuständig sein sollen. Bei einem Genesenen- oder Impfnachweis ist das mit einem Mal erledigt, die Ungeimpften müssen hingegen täglich einen negativen Test vorlegen. Zwei davon sollen die Arbeitgeber zur Verfügung stellen, die anderen gehen zulasten des jeweiligen Arbeitnehmers.

Großer Kontrollaufwand

Für kleinere Betriebe und solche, die ihre Mitarbeiter in der Regel außer Haus einsetzen, wird der Aufwand schon größer. »Das neue Testregime stellt unsere Unternehmen vor große Herausforderungen«, erklärt Steffen Kampeter vom Arbeitgeberverband BDA. Betriebe des Bauhandwerks etwa oder Gebäudereiniger scheuten den großen Kontrollaufwand und würden lieber eine Impfpflicht am Arbeitsplatz sehen.

Die Homeoffice-Pflicht dürfte ebenfalls für nur wenige Betriebe Neuland bedeuten. Ausnahmen wie beim letzten Lockdown bleiben ohnehin bestehen, etwa, wenn Reparatur- und Wartungsaufgaben ausgeführt werden müssen.

Wesentlich stärker werden von den Maßnahmen dagegen jene Branchen in Anspruch genommen, die bereits beim ersten Lockdown zu den Leidtragenden zählten: Gastgewerbe, Einzelhandel, körpernahe Dienstleistungen und Freizeiteinrichtungen. Denn auch wenn die flächendeckende Schließung von Hotels, Gastronomie und Geschäften nicht mehr möglich ist, gibt die Entwicklung der Coronazahlen weiterhin den Rhythmus vor. Das führt zunächst einmal zu einem hohen Maß an Unsicherheit, weil Vorausplanungen wie etwa Reservierungen immer mit Vorbehalten verbunden sind.

Mehrere Eskalationsstufen

Hinzu kommen die Richtlinien, die die Ministerpräsidentenkonferenz zusätzlich zu dem neuen Gesetz vereinbart hat, und die bestimmen, ab wann welche Maßnahmen spätestens verhängt werden müssen. Als Maßstab dafür dient die Hospitalisierungsrate, an der sich ablesen lässt, wie viele Patienten pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen mit Covid ins Krankenhaus eingeliefert werden.

Steigt die Hospitalisierungsrate auf drei an, sind flächendeckende 2G-Regelungen zwingend. Liegt der Schwellenwert bei sechs, gilt 2G-plus: Die Länder können dann auch von Geimpften und Genesenen einen Test einfordern. Dies gilt vor allem in Diskotheken, Bars und anderen Orten, an denen das Infektionsrisiko aufgrund der Anzahl der Personen und der schwierigeren Einhaltung von Hygienemaßnahmen besonders hoch ist.

Impfnachweis-Erinnerung an der Ladentür

Impfnachweis-Erinnerung an der Ladentür

Foto: Peter Kneffel / dpa

Bei einer Rate von neun müssen Landesregierungen das gesamte Instrumentarium einsetzen. Nach der Novelle des Gesetzes können Landesregierungen dann auch Kontaktbeschränkungen anordnen sowie die Anzahl von Personen beschränken, die an Veranstaltungen teilnehmen oder Geschäfte, Restaurants und Hotels besuchen dürfen. Im Extremfall dürfte das faktisch der Schließung ganzer Branchen gleichkommen, wenn etwa die Maximalzahl von Sitzplätzen in Restaurants oder Theatern so stark eingeschränkt wird, dass der Betrieb zum Zuschussgeschäft wird.

Tatsächlich haben mehrere Bundesländer schon Verschärfungen verabschiedet oder in Planung, die sich für die betroffenen Branchen wie eine neue Form des Lockdowns anfühlen dürften. So werden etwa in Berlin ab dem kommenden Wochenende zu den meisten Geschäften wohl nur noch Geimpfte und Genesene Zutritt haben – ausgenommen sind Supermärkte, Drogerien und Apotheken. Zudem soll in Berlin überall dort, wo bereits 2G-Regeln greifen – etwa im Kultur- und Freizeitbereich – eine Maskenpflicht gelten. Dort, wo das nicht möglich ist, zum Beispiel in Diskotheken, sollen alternativ ein Test und Abstandsregeln nötig sein.

Übergangsfrist bis 15. Dezember

In Sachsen-Anhalt, Thüringen und Bayern haben die Parlamente vor Auslaufen der epidemischen Notlage sogar noch weitreichendere Einschränkungen des öffentlichen Lebens beschlossen. In der Gastronomie soll eine Sperrstunde ab 22 Uhr gelten. Klubs, Bars und Diskotheken werden ganz geschlossen, Weihnachtsmärkte dürfen gar nicht erst öffnen. Ebenso müssen Schwimmhallen, Saunen und Thermen dichtmachen, wenn dort kein Schulsport stattfindet. In Bayern müssen sich Kultur- und Sportveranstaltungen zudem mit maximal 25 Prozent der möglichen Zuschauer zufriedengeben.

In vielen Bereichen wie Kultur- und Sportveranstaltungen, Messen und Tagungen soll gar eine 2G-Plus-Regelung gelten. Das heißt Zugang nur für Geimpfte und Genesene, die zuvor zusätzlich einen negativen Schnelltest absolvieren. Ausnahmen von den 2G-Regelungen gelten jedoch für den Groß- und Einzelhandel, medizinische und therapeutische Leistungen sowie Sport- und Musikangebote für ungeimpfte Jugendliche, die in den Schulen regelmäßig negativ getestet werden.

Die Bundesländer machen damit von einer Übergangsfrist Gebrauch, die bis zum 15. Dezember gilt. Haben Länder vor dem Auslaufen der epidemischen Lage demnach Maßnahmen verhängt, die tiefer greifen als vom neuen Gesetz vorgesehen, bleiben diese Regeln zunächst bestehen. Branchenspezifische Lockdowns etwa, die nicht mehr zum neuen Maßnahmenkatalog gehören, können so noch bis Mitte Dezember weiter gelten.

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Schon jetzt meldet insbesondere die Union Zweifel an, ob den Ländern nach diesem Zeitpunkt noch genügend Spielraum für Maßnahmen zur Verfügung steht. Dem neuen Gesetz stimmten die unionsgeführten Länder im Bundesrat daher nur unter einer Bedingung zu: Der designierte Bundeskanzler Scholz versprach, dass der Bund das neue Gesetz bis zum 9. Dezember evaluieren und notfalls noch einmal nachschärfen werde. Auf Dauer angelegt ist auch der neue Maßnahmenkatalog ohnehin nicht. Die Regeln gelten ab jetzt bis zum 19. März 2022, danach können sie einmal mehr verlängert werden – oder auslaufen.

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