Strafprozess gegen Drahtzieher des Cum-Ex-Skandals Die geheimnisvolle Kiste des Hanno Berger

Hanno Berger (M.) und seine beiden Pflichtverteidiger
Foto: Oliver Berg / dpaDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Schon direkt zu Beginn des Prozesses gegen Hanno Berger wird klar, dass der Angeklagte kein gewöhnlicher Beschuldigter ist. Nicht nur, dass Berger das Bonner Landgericht an diesem Montagmorgen in Handschellen betritt, die er mit dem Rücken zum Publikum von einem Gerichtsdiener lösen lässt. Sondern auch, dass der Mann, der als Mastermind des Cum-Ex-Steuer-Schmus gilt, für das Gericht überraschend einen Umzugskarton neuer Unterlagen aus seinem Schweizer Exil mitgebracht hat. Dorthin war er 2012 geflohen, um sich der deutschen Justiz zu entziehen.
Der Karton steht jetzt, wo doch eigentlich die Anklage gegen ihn vorgelesen werden soll, irgendwo im Gerichtsgebäude herum und muss herbeigeschafft werden. Keine Kleinigkeit offenbar, die Sache zieht sich. Immerhin, so versichert Bergers Anwalt, der 71-Jährige habe die Kiste schon selbst getragen, »so schwer ist die also nicht!«
Schließlich findet das kniehohe Ding seinen Weg in den Verhandlungssaal der 12. Strafkammer. Berger wirkt kurzzeitig aufgeregt wie ein Kind unterm Weihnachtsbaum ob des zusätzlichen Aktenbergs, von dem er sich Entlastung erhofft. Denn eines ist klar: Berger ist unschuldig – zumindest in den Augen von Berger.
Zwar drohen dem korpulenten Mann im nachtblauen Anzug mit dem schütteren Haar und der Ausstrahlung eines brummigen Großvaters bis zu zehn Jahre Gefängnis; strafbare Handlungen kann er selbst in seinem Tun indes nicht erkennen, wie er über die Jahre mehrfach klargestellt hat. Seine zur Schau gestellte Harmlosigkeit wird auch deutlich, als ihn Richter Roland Zickler, dank eines früheren Prozesses selbst ein veritabler Cum-Ex-Experte, den Angeklagten nach seinem letzten Beruf fragt: »Steuerberater«.
Steuerberater: Ein Beruf, der so aufregend klingt wie ein verregneter Herbsttag an der Nordsee, aber allem Anschein nach unendliche Möglichkeiten bietet, im Graubereich deutscher Gesetze das Vermögen von Mandanten zu mehren. Und gegebenenfalls auch das eigene. Berger, davon ist die Kölner Staatsanwältin Anne Brorhilker überzeugt, hat genau das getan. Steuerhinterziehung und Betrug wirft sie ihm vor; er und sein ehemaliger Anwaltspartner sollen bei inkriminierten Cum-Ex-Geschäften mit der Hamburger Traditionsbank M.M. Warburg exakt 27.333.998 Euro eingestrichen haben.
Was Hanno Berger und Wolfgang Kubicki verbindet
Die gut 27 Millionen Euro stehen pars pro toto für ein System, das Berger, ein ehemaliger Steuerbeamter aus Frankfurt am Main, nicht erschaffen, aber dermaßen verfeinert hat, dass der Superlativ »größter Steuerskandal der deutschen Geschichte« gerechtfertigt klingt. Auch dank seiner Expertise hatten Investoren, Banken und Aktienhändler den deutschen Fiskus mit Cum-Ex-Deals über Jahre um Milliarden Euro geprellt. Dabei wurden Aktien mit (»cum«) und ohne (»ex«) Dividendenanspruch um den Stichtag hin- und hergeschoben. Für diese Transaktionen ließen sich die Beteiligten Kapitalertragsteuer erstatten, die sie nie gezahlt hatten.
Der Skandal ist so komplex, wie man es bei kruden Finanzgeschäften erwarten darf, lässt sich aber letztlich auf eine einfache Formel bringen: dass es weder legal noch legitim sein kann, eine einfach gezahlte Steuer mehrfach vom Staat zurückzuverlangen.
Doch was so eindeutig klingt, war rechtlich lange umstritten. Menschen wie Berger oder sein früherer Anwalt, der heutige Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki, verwiesen auf Steuerschlupflöcher, die auszunutzen keine Straftat seien.
Tatsächlich trägt die Politik eine gewaltige Mitschuld an diesem System. In einer vielleicht typisch deutschen Mischung aus Desinteresse, Bräsigkeit und Kumpanei sah die Politik jahrelang zu. Die Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), Peer Steinbrück und Olaf Scholz (beide SPD) ließen Leute wie Berger gewähren. Gerade den heutigen Bundeskanzler umgibt ein Faktennebel bezüglich der mit Berger verbandelten Warburg Bank, zu der er in seiner Zeit als Hamburger Bürgermeister offenbar gute Kontakte pflegte. Hoch bezahlte Anwälte, vor allem der Kanzlei Freshfields, lieferten den Investoren und Banken Gutachten, die dem System einen legalen Anstrich verpassten.
Das System ähnelte einer öffentlich weithin sichtbaren Verschwörung in Nadelstreifen gegen den deutschen Staat, ohne dass es diesen sonderlich zu stören schien.
Inzwischen ist dank eines ersten höchstrichterlichen Urteils des Bundesgerichtshofs (BGH) von 2021 immerhin klar, dass Cum-Ex-Geschäfte strafbare Steuerhinterziehung darstellen und Gewinne daraus eingezogen werden können. Der Staat also kann sich endlich sein Geld zurückholen. Der Schaden liegt irgendwo zwischen 5 und 20 Milliarden Euro, so genau weiß das niemand.
Nie mehr zurück ins Paradies?
Aber irgendwo muss der Fiskus ja ansetzen. Und jene 27 Millionen Euro, um die es an diesem Montagmorgen in Bonn geht, sind ja nicht nichts. Vor allem aber bietet der Prozess, für den 20 Verhandlungstage angesetzt sind, die Bühne für die Rückkehr von Berger, den Cum-Ex-Spiritus-Rector, wie ihn die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt nennt. Ab kommender Woche steht Berger auch in Wiesbaden vor Gericht, ebenfalls wegen Cum-Ex. Darauf, beide Verfahren zusammenzuführen, konnten sich die Staatsanwaltschaften nicht einigen.
Der Angeklagte, der in der Justizvollzugsanstalt Frankfurt-Preungesheim inhaftiert ist, wird also pendeln müssen. Dass er in sein Haus im Bergdorf Zuoz, einem kleinen eidgenössischen Paradies im Oberengadin, zurückkehren wird, scheint indes ausgeschlossen.
Vor zehn Jahren war Berger in die Schweiz geflohen, als die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt seine Kanzlei durchsuchte. Auf den Fersen ist ihm seither Staatsanwältin Brorhilker, eine unscheinbare Juristin, die mit unfassbarem Eifer das Cum-Ex-Geflecht entwirrt hat und zu Bergers Nemesis geworden ist. Sie dürfte seinen leicht kuriosen Auftritt vor Gericht genießen, schließlich stellt die Gegenüberstellung der beiden vielleicht wichtigsten Protagonisten des Skandals den vorläufigen Höhepunkt des Aufklärungsprozesses dar. Und mit der gleichen stoischen Zähigkeit, mit der Brorhilker Berger über Jahre verfolgt und schließlich die Schweizer Behörden zur Auslieferung des Angeklagten bewegt hat, liest sie nun die Anklage vor.

Staatsanwältin Brorhilker: Bergers Nemesis
Foto: Oliver Berg / dpaAb 2007 habe Berger mit der Warburg Gruppe, der HypoVereinsbank und der Unternehmensgruppe Ballance Cum-Ex-Geschäfte mit deutschen Aktien getätigt, um sich Kapitalertragsteuern unrechtmäßig erstatten zu lassen – ohne diese vorher überhaupt abgeführt zu haben. »Dabei war es der Angeschuldigte, der die Idee zur Durchführung von Cum-Ex-Geschäften bei der Warburg Bank vorstellte und erfolgreich platzieren konnte«, liest Brorhilker vor.
Bis 2011 sei das so gegangen, die unrechtmäßigen Steuerrückzahlungen beliefen sich auf 278 Millionen Euro, lautet der Vorwurf. Ein Zehntel davon floss in die Taschen von Berger und seinem Kompagnon, der bereits zugesagt hat, die Hälfte davon zurückzuzahlen.
Als die Staatsanwaltschaft mit der Verlesung der Anklage fertig ist, wäre eigentlich Berger an der Reihe. Doch der will lieber vorerst schweigen. Er tut das auf Anraten seiner Pflichtverteidiger, was ein eigenes Kuriosum in diesem spektakulären Prozess darstellt. Denn die drei von ihm bestellten Wahlverteidiger hatten zuvor ihre Mandate niedergelegt, angeblich, weil Berger »beratungsresistent« sei und sich vor Gericht länglich ausbreiten wolle.
Die Juristen traten die Flucht an, sodass Berger jetzt eben die beiden Pflichtverteidiger zur Seite stehen. Die haben ihn nun doch erfolgreich zum Schweigen gebracht, auch mit Verweis auf die angegriffene Gesundheit des 71-Jährigen, der seit Monaten in Untersuchungshaft sitzt.
Vielleicht muss der Mann, dessen Steuertricks über Jahre den Fiskus geschröpft haben, aber auch erst einmal in seinem Umzugskarton nachschauen, was die dort lagernden Aktien hergeben. Berger, so viel ist gewiss, wird seinen großen Auftritt vor dem Landgericht Bonn noch kriegen. Und in Wiesbaden hat er demnächst noch eine zweite Bühne. Zeit für Showtime bleibt reichlich.