Löhne Da tickt 'ne Bombe
Die Müllmänner kamen morgens um acht Uhr. Doch die Kollegen von der VEB Stadtwirtschaft Berlin wollten nicht die Tonnen leeren. Sie verlangten von ihren Arbeitgebern im Rathaus Auskunft, was denn nach dem Unionstag 1. Juli mit ihren Löhnen werde.
Die Müll-Gewerkschafter hatten mit der Regierung Modrow noch einen Tarifvertrag ausgehandelt, die Einkommen sollten zum 30. Juni um 400 bis 600 Mark steigen. Am Montag vergangener Woche erklärte der Ost-Berliner SPD-Stadtrat Kurt Blankenhagel der Reinigungstruppe schlicht: »Der Vertrag ist ungültig.«
Noch am selben Nachmittag beschloß eine Vertrauensleute-Versammlung der Stadtwirtschaftler den Streik. Am Dienstag, morgens um fünf Uhr, rollten 210 Müllwagen vor das Rote Rathaus, den Sitz des Magistrats.
Der Streik der Ost-Berliner Müllmänner war der erste große Ausstand in der Noch-DDR, in dem es um die zukünftige Lohnentwicklung in der gesamten Republik geht. Es wird wohl nicht der letzte bleiben. Oberbürgermeister Tino Schwierzina schmetterte vergangene Woche die Forderungen seiner Reinigungsmannschaft erst einmal ab. »Das hätte Signalwirkung«, warnte er.
Da hat er recht. Auch Krankenhaus-Mitarbeiter, Polizisten, Wasserwirtschafter oder Verkehrsbetriebe wollen nach dem Währungswechsel mehr Geld - notfalls mit Hilfe weiterer Streiks. »Da tickt 'ne Bombe«, meint Frank Batsch, Kfz-Schlosser und Vertrauensmann der Stadtreinigungswerkstätten.
Nicht nur im öffentlichen Dienst, auch in der Metallindustrie, mit 1,6 Millionen DDR-Beschäftigten größte Branche der Republik, ist die Stimmung explosiv. Am vergangenen Donnerstag nachmittag verließen die Tarifexperten der IG Metall ohne Ergebnis die Verhandlungen mit den Ost-Arbeitgebern im Klubhaus der Ifa-Fahrzeugwerke in Berlin. Die Metaller wollen diese Woche über Kampfmaßnahmen beraten.
Mit einem Generalstreik drohten Ende vergangener Woche auch die Beschäftigten der Interflug. Das Personal der DDR-Fluglinie konnte sich mit dem Arbeitgeber nicht über ein Rationalisierungsschutzabkommen einigen.
Kaum rollt das wunderbare West-Geld ins Land, nehmen die Bewohner des ehemaligen Arbeiter-und-Bauern-Staates auch schon westliche Sitten an: Sie wollen immer mehr von der guten Mark. Gesamtmetall-Präsident Werner Stumpfe kommt das vor, als würde man »auf der sinkenden Titanic über die Auswahl der Süßspeisen streiten«.
Die neue Begehrlichkeit droht, in den Augen der Arbeitgeber, das Experiment Währungsunion zu gefährden, noch ehe es richtig begonnen hat. Denn nur wenn die Löhne nicht stärker steigen als die Produktivität, argumentieren sie, kann eine Massenarbeitslosigkeit verhindert werden. Opel-Chef Louis Hughes hat angekündigt, er wolle die Entscheidungen über den Bau eines Automobilwerkes in Eisenach von der Entwicklung der Löhne abhängig machen.
Die DDR-Bürger sehen nicht volkswirtschaftliche Zusammenhänge, sie schielen auf den Wohlstand der Bürger im Westen. Selbst DDR-Manager meinen deshalb, daß die Löhne in der DDR schnell auf bundesrepublikanisches Niveau steigen müßten, sonst heuerten ihre besten Mitarbeiter im Westen an.
Doch es sind gar nicht so sehr die Lohnforderungen, die die Arbeitgeber aus der Fassung bringen, es ist das Paket, in dem sie verpackt sind. Mit einer Vielzahl von Maßnahmen wollen die Gewerkschafter, so das Stuttgarter ÖTV-Vorstandsmitglied Willi Hanss, »die negativen Auswirkungen der Wirtschafts- und Währungsunion für die Beschäftigten ausgleichen«.
Die Forderungen der Metaller etwa zielen darauf ab, die zu erwartende Arbeitslosigkeit in der DDR per Tarifvertrag abzufedern. So soll es für zwei Jahre einen Kündigungsschutz geben. Die Betriebe sollen das staatliche Kurzarbeitergeld auf 100 Prozent des letzten Lohns aufstocken. Gezahlt wird, so fordern die Gewerkschafter, auch wenn ein Arbeitnehmer während dieser Zeit nicht wie vorgesehen an Fortbildungen teilnimmt. Ein noch von der Modrow-Regierung zugesagtes Abkommen über Rationalisierungsschutz mit hohen Abfindungen soll weiter gelten. Vieles davon geht über die Rechte westdeutscher Arbeitnehmer hinaus. Solche Sozialleistungen würden die heruntergewirtschafteten Betriebe der DDR wohl überfordern und den Strukturwandel in der DDR behindern. »Wir sind da in einer Zwickmühle«, räumt IG-Metall-Chef Franz Steinkühler ein.
Mit simplen Lohnerhöhungen in Richtung Westniveau haben die Arbeitgeber dagegen weniger Probleme. So ging im Mai eine Steigerung der Gehälter für Versicherungsangestellte in der DDR um 50 Prozent mühelos durch. Im Juni wurde auch den Sparkassenangestellten ein Plus von durchschnittlich 50 Prozent zugestanden.
Die Zulage ist gleich doppelt gesichert: ÖTV, vertreten durch die DDR-Gewerkschaft Öffentliche Dienste, und die bundesdeutsche Gewerkschaft Handel, Banken, Versicherungen schlossen jeweils eigene Tarifverträge mit den Sparkassen ab. Die beiden Gewerkschaften konkurrieren um die neuen Mitglieder im Osten und überboten sich gegenseitig in ihren Forderungen.
Doch mit ihrer gewohnten Prozent-Arithmetik kommen die Tarifpartner in der DDR nicht sehr weit. Einheitslösungen sind gefährlich. Die Betriebe unterscheiden sich gewaltig. Was der eine noch gerade verkraftet, gibt dem anderen den Rest. Das Instrument zentraler Verhandlungen, eine Errungenschaft der Einheitsgewerkschaften, eignet sich dafür kaum.
Die Ost-Berliner Müllmänner zum Beispiel brachten ihre Arbeitgeber mit einem Bündel von Vorschlägen in Verlegenheit. Geschickt kombinierten sie ihre Lohnforderungen mit einem Katalog neuer Gebühren für die Müllabfuhr.
Zwischen Ost- und West-Berlin klaffen die Preise für die Abfallbeseitigung noch viel stärker als die Löhne auseinander. Ein Müllfahrer im Osten verdient mit Leistungszuschlägen bis zu 1500 Mark, der Kollege drüben bekommt mehr als das Doppelte. Die Gebühren für gewerblichen Abfall betragen dagegen in West-Berlin rund das Zehnfache. Bei diesem Preisgefälle lohnt es sich für viele West-Firmen, ihren Müll jenseits der Grenze zu entsorgen.
Seit der Wende werden die östlichen Müllmänner mit Abfall zugeschüttet. Eine Gebührenerhöhung, so die schlaue Rechnung, würde die Müll-Lawine bremsen. Zugleich fiele auch genügend Geld für eine Lohnerhöhung ab.
Der Magistrat übernahm gern die Anregung, die Gebühren zu erhöhen. Über höhere Löhne soll jedoch erst im Laufe des Juli gesprochen werden.
Die Müllmänner haben sich dennoch durchgesetzt: Sie erhalten eine Leistungszulage von 30 Prozent - und die entspricht ziemlich genau der Lohnerhöhung, die mit der Regierung Modrow vereinbart worden war. f