»Da würd' ich lieber laufen«
Die Zukunft der DDR-Region und das soziale Gleichgewicht in Deutschland hängen vom Fortbestand der Industrie in der DDR-Region ab. Hier ein skizzenhaftes Bild einiger Schlüsselindustrien:
Im Stahlbereich waren in der Rohstahlproduktion für einen Ausstoß von 8 Millionen Tonnen (1989) in der DDR etwa 80 000 Arbeitnehmer beschäftigt; in der BRD für etwa 41 Millionen Tonnen nur 180 000 Menschen. Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung hält eine Halbierung der Belegschaftszahl in der DDR-Stahlindustrie für wahrscheinlich.
Der Anteil moderner Produktionsverfahren (Oxygenstahl) beträgt in der DDR nur 31 Prozent (BRD: 83 Prozent). 40 Prozent der Rohstahlproduktion werden immer noch in Siemens-Martin-Öfen hergestellt, ein Verfahren, das in der BRD seit mehr als zehn Jahren auch wegen der starken Umweltbelastung eingestellt wurde; diese Kapazitäten werden in der DDR stillgelegt werden müssen.
Der Maschinenbau in der DDR hat über Jahre besondere staatliche Förderung erfahren. Bei Erfindungen für die Textil- (VEB Textima), Verpackungs(VEB Nagima) und Druckmaschinenindustrie (VEB Polygraph) rangierten in den Jahren 1983 bis 1988 die DDR-Unternehmen noch vor den bundesdeutschen. Der Werkzeugmaschinenbau in der DDR (Exportquote: 70 Prozent) liegt mit einem Anteil von 6,7 Prozent an den Weltexporten auf Rang 5 vor den Vereinigten Staaten. Im Schwermaschinenbau gibt es Sektoren, in denen DDR-Unternehmen technisch führende Positionen einnehmen.
Der Maschinenbau hat einen Investitionsbedarf von 160 Milliarden D-Mark, der in erster Linie produktivitätssteigernden Ausrüstungen der Unternehmen dienen wird. Allerdings beträgt der Rückstand zum Beispiel in der Steuerungstechnik im Werkzeugmaschinenbau gegenüber den Marktführern der BRD nach Aussagen des Ost-Berliner Instituts für angewandte Wirtschaftsforschung zwei Gerätegenerationen.
Die Automobilindustrie (einschließlich der Zulieferindustrie) war auch in der DDR ein bedeutender Wirtschaftszweig mit etwa 65 000 Beschäftigten und einer Jahresproduktion von über 210 000 Pkw-Einheiten (1989). Aber die Produktion war vom internationalen Markt abgeschottet, Produkte und Produktionstechnik hoffnungslos rückständig.
Das Engagement von Volkswagen, Opel und Mercedes-Benz (Nutzfahrzeuge) wird zwar moderne Produktionskapazitäten im Automobilsektor der DDR aufbauen: Volkswagen plant bis 1994 etwa 1000 Fahrzeuge pro Tag in Zwickau zu montieren (zunächst wird allerdings mit 50 Fahrzeugen begonnen); Opel wird vermutlich (wenn der Standort Eisenach sich gegenüber Antwerpen und Österreich durchsetzen kann) mit etwa 40 Fahrzeugen der Marke Opel Vectra pro Tag beginnen - die Montage eines Nachfolgefahrzeugs soll bis 1993 auf eine Anzahl von maximal 800 pro Tag erweitert werden; BMW beabsichtigt lediglich die Herstellung von Großwerkzeugen für seine Produktion in der DDR.
Der Personalbestand der Automobilindustrie in der DDR aber wird auf mindestens die Hälfte reduziert werden müssen. Auch wenn die Pläne von Volkswagen, Opel und Daimler-Benz gelingen, wird das Engagement der westlichen Unternehmen in der DDR letztlich dazu führen, daß die DDR ihre bisher selbständige Automobilindustrie verliert.
Der Bereich der Elektrotechnik und Elektronik war bisher eine der wichtigen Schlüsselindustrien der DDR. In ihm waren etwa 14 Prozent der Beschäftigten der gesamten DDR-Industrie tätig, über 460 000 Menschen. Die Produkte der DDR gelten nur in wenigen Bereichen (Leuchten, Kabel, Leitungen) als wettbewerbsfähig. Trotz starker staatlicher Förderung lag die Produktivität nur bei etwa 50 Prozent der entsprechenden Unternehmen in der BRD. Fachleute rechnen mit dem Verlust von mindestens 50 000 Arbeitsplätzen in der Mikroelektronik; dies scheint optimistisch.
Voraussetzung für das Überleben der Branche ist der Anschluß an die westeuropäische Forschung und Entwicklung. Aber auch hier gilt: Die DDR-Unternehmen sind nur zu erneuern mit erheblicher westlicher Beteiligung. Damit werden sie aber zugleich einen wesentlichen Teil ihrer bisherigen Leitungs- und Forschungsfunktion verlieren.
Die chemische Industrie in der DDR hat gewaltige Umweltprobleme. Die Haftungsfragen sind in besonderem Maße dafür verantwortlich, daß Investitionen aus der BRD und aus dem Ausland so zögernd erfolgen. Die in der DDR-Chemie weitverbreitete Karbochemie ist nicht nur extrem umweltbelastend, sondern auch im Vergleich zur Petrochemie besonders unrentabel und muß im wesentlichen eingestellt werden.
Die Ausrüstungen sind zum großen Teil völlig veraltet: 55 Prozent der Ausrüstungen (Maschinen und Anlagen) gelten als über 15 Jahre alt; 20 Prozent über 25 Jahre. Der chemischen Industrie wird ein Verlust von etwa zehn Milliarden D-Mark allein 1990/1991 prognostiziert. Sie benötigt über 15 Milliarden D-Mark für Fördermaßnahmen und Investitionszulagen, wenn sie in reduziertem Rahmen überhaupt überleben soll.
Der Finanzbedarf für die in der ehemaligen DDR so genannte Leichtindustrie bis 1993 wurde auf etwa 30 Milliarden D-Mark geschätzt, der Anteil der Eigenfinanzierung kann nach Schätzungen höchstens bei 30 bis 60 Prozent liegen. Diesen Industriebereich wettbewerbsfähig zu machen würde also enorme Kraftanstrengungen kosten. Die Produkte dieser Branche zeigen die generellen DDR-Probleme: In Barchfeld werden zum Beispiel Rollstühle hergestellt, die zwar dem modernen Standard entsprechen. Aber der Preis von vormals etwa 20 000 Mark lag um 3000 Mark unter den Herstellungskosten, das Konkurrenzmodell aus der BRD kostet 8000 D-Mark. Auch die Fahrräder aus den Mitteldeutschen Fahrradwerken sind wenig konkurrenzfähig. Ein Mitarbeiter: »Das kauf' ich nicht, da würd' ich lieber laufen.«
Ein wichtiger Bereich innerhalb dieses Industriesektors ist die Textilindustrie, die auf dem Gebiet der ehemaligen DDR etwa genauso viele Arbeitnehmer zählt (227 000) wie in der Bundesrepublik. Die Produktivität in dieser Branche liegt aber nicht einmal bei 20 Prozent des BRD-Niveaus. 40 Prozent der Produktionskapazitäten sind im internationalen Vergleich als völlig überholt anzusehen.
Im August 1990 veröffentlichte das Berliner DIW eine Studie über die mit 335 000 (BRD: etwa 400 000) Beschäftigten äußerst bedeutsame Nahrungsmittelindustrie der DDR: »Für die Marktwirtschaft schlecht gerüstet.« Die Produktivität lag im Vergleich zur entsprechenden BRD-Industrie 1988 nur bei 43 Prozent (1970 noch bei 60 Prozent). Die Produktionsgebäude stammen überwiegend aus der Zeit vor dem Krieg, häufig noch aus den Gründerjahren. Es wird mit der Entlassung der Hälfte aller Beschäftigten gerechnet.