RUHESTAND Danebengegriffen
An schönen Worten hat es nicht gemangelt. Für Norbert Blüm, den Arbeitsminister, sollte der Vorruhestand eine entscheidende Waffe »im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit werden«. Der Bonner Regierung erschien das Gesetz als »Angebot zu einem Beschäftigungspakt zwischen Staat und Tarifparteien«.
Schon mit 58 Jahren, so hatten die Bonner im März 1984 beschlossen, können Arbeitnehmer in den Ruhestand gehen. Auf die Arbeitsplätze sollten Jüngere nachrücken.
Wunderschöne Zahlen verbreiteten die Regierenden. »Mit rund 475000 in den Vorruhestand tretenden Arbeitnehmern« sei 1985 zu rechnen. Wenn jeder zweite Arbeitsplatz wieder besetzt würde, gäbe es »für rund 250000 Arbeitslose und Jugendliche zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten«.
Inzwischen steht fest, daß die Bonner bei ihren Prognosen grob danebengegriffen haben. Kaum mehr als 50000 Arbeitnehmer haben ihre Arbeitsplätze geräumt. Gerade 24140 Arbeitsplätze von Vorruheständlern konnten zwischen Mai 1984 und Ende Dezember 1985 an Arbeitslose oder Jugendliche vergeben werden.
Das blamable Resultat ist ein beachtliches Politikum. 1984 hatten die christlich-liberale Regierung und die Unternehmer-Verbände die Vorruhestandsregelung als Alternative zur Wochenarbeitszeitverkürzung herausgeputzt.
Die frühere Rente, so hieß es, koste die Unternehmen weniger und schaffe mehr neue Jobs. Konservativere Gewerkschaften wie die IG Bau oder die IG Nahrung-Genuß-Gaststätten einigten sich mit den Arbeitgebern auf entsprechende Tarifverträge.
Inzwischen triumphieren die Anhänger der Wochenarbeitszeitverkürzung im Gewerkschaftslager. Die Metallgewerkschafter, die für die 35-Stunden-Woche stritten, sehen in Blüms Vorruhestand den »erwarteten Mißerfolg«. Mit der schließlich erkämpften 38,5-Stunden-Woche hätten sie 100000 zusätzliche Stellen geschaffen, viermal mehr, als der Vorruhestand erbracht habe.
Das Desaster mit dem Vorruhestand war absehbar, der Frührente haften allzu viele Handikaps an.
Der staatliche Zuschuß von 35 Prozent des Vorruhestandsgehalts, maximal bis zur Grenze von 65 Prozent des früheren Einkommens, macht die Sache für die Beschäftigten zu dürftig und für die Betriebe zu teuer. Erhöhen die Betriebe die Vor-Rente per Tarifvertrag, dann wird ihre Belastung noch größer. Belassen sie es bei den mageren 65 Prozent, können die Arbeitnehmer das Angebot nicht nutzen, weil die Einkommenseinbußen zu groß wären. Hinzu kommen schließlich noch Abstriche bei der späteren regulären Rente.
Offensichtlich war, dank der guten Konjunktur, auch die Bereitschaft der Arbeitgeber zu Vor-Renten-Vereinbarungen gering. Gesetz und Tarifverträge lassen dem Unternehmer genug Möglichkeiten, Vorruhestandswünsche abzuschlagen oder wenigstens zeitlich aufzuschieben.
Je nach Tarifvertrag dürfen pro Jahr höchstens zwei bis fünf Prozent der Beschäftigten gehen. Für Betriebe mit weniger als 20 Arbeitnehmern heißt das: Der Chef kann schon gegen den vorzeitigen Abgang eines einzigen Mitarbeiters sein Veto einlegen.
Für rund ein Drittel aller Beschäftigten haben Gewerkschaften und Arbeitgeber inzwischen Tarifverträge über den Vorruhestand abgeschlossen. Betroffen davon sind derzeit etwa 275000 Arbeitnehmer, Männer zwischen 58 und 62 sowie 58- und 59jährige Frauen. Im Schnitt offerieren die Tarifverträge ihnen Vorruhestandsgehälter von 75 Prozent ihrer früheren Bruttoverdienste.
Die neuesten Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit belegen: Nur wo die Vorruhestandszahlungen überdurchschnittlich und die Einspruchsmöglichkeiten der Unternehmen gering sind, nutzten Arbeitnehmer den Vorruhestand in größerer Zahl: im Textil- und Bekleidungsbereich, in der Nahrungs- und Genußmittelindustrie sowie bei den großen Automobilkonzernen.
Richtig populär ist die Vor-Rente indes nur in einer Branche: Jeder zweite Vorruheständler kommt vom Bau. Das liegt zum einen daran, daß die Unternehmen den Wunsch des Arbeitnehmers, vorzeitig auszuscheiden, laut Tarifvertrag nicht abschlagen können; sie dürfen den Wechsel aufs Altenteil nur etwas aufschieben. Zum anderen ist die Dotation der Vorruheständler in der Bauwirtschaft überdurchschnittlich gut.
Die Baufirmen finanzieren die Vor-Rente über eine gemeinsame Kasse, die den Arbeitgebern bislang alle Kosten der Frühpensionierung erstattete. Gelegentlich war das sogar mehr. Besetzte der Bauunternehmer eine vom Vorruheständler geräumte Stelle mit einem Lehrling, durfte er gleich dreimal kassieren: aus der Baukasse, vom Arbeitsamt und aus der gemeinsamen Bau-Ausbildungskasse. Ein »ungeheures Geschäft«, wie ein Mann aus der Bauindustrie berichtet.
Auch politisch behagte den Unternehmern das Konzept, wie der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie seinen Mitgliedsverbänden per Rundschreiben erläuterte: »Die sogenannte Fünferbande im DGB (Bau, Bergbau, Chemie. Nahrung und Genuß, Textil) hat durch das erfolgreiche Alternativkonzept des Vorruhestandes beachtlichen Auftrieb erfahren... Der Spaltpilz im DGB gedeiht. Der politische Einfluß der Gewerkschaftszentrale geht zurück. Dies kann unserem Staatswesen nur gut bekommen.«
Ob diese Rechnung aufgeht, ist fraglich. Eine Nachbesserung ist nicht in Sicht - das Gesetz läuft ohnehin 1988 aus.
Einer in Bonn profitiert indes vom Reinfall mit dem Vorruhestand: Gerhard Stoltenberg. 2,2 Milliarden Mark an Steuerausfällen hatte der Finanzminister allein für 1985 kalkuliert. Weil die sozialpolitische Wohltat der Regierung keine Resonanz fand, bleiben dem Finanzminister die Steuern erhalten.