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Steuern »DAS KANN NICHT SO BLEIBEN«

Wieder legt der Finanzminister einen Plan zur Steuerbefreiung des Existenzminimums vor, und wieder geben ihm die Fachleute keine Chance: Weil Waigel eine radikale Reform des Steuersystems scheut, vergrößert jeder neue Entwurf das Chaos. Und wichtige Komplexe werden in dem Werk ganz ausgespart.
aus DER SPIEGEL 9/1995

Drei schön bunte Steuerkurven projizierte der Betriebswirtschaftsprofessor Hans-Peter Bareis an die Wand, dann kam er ins Grübeln. »Warum«, fragte er, »diese merkwürdige Scheu, ich verstehe das nicht.«

Zwei Kurven stellten Theo Waigels neues Steuersystem dar: eine zeigte die Belastung, die andere die Entlastung. Für die dritte hatte der Professor Waigels Linien zu einer aussagekräftigen Kurve zusammengeführt (siehe Grafik).

Warum aber der Finanzminister ausgerechnet diese einfache Variante scheut, mochte sein Mitarbeiter Christian Forst den bei einem Steuervereinfachungssymposium versammelten Experten nicht sagen. Die Fachleute wußten die Antwort auch so: Auch der neue Anlauf des Finanzministers, das Existenzminimum vom Zugriff des Fiskus zu entlasten, hat rechtliche Macken.

Waigels Grafik-Gewirr verschleiert einen indirekten, politisch riskanten Einstieg in die Besteuerung der Rentner. Die Renten aus der gesetzlichen Alterssicherung werden danach unterhalb eines Jahreseinkommens von rund 43 000 Mark steuerlich schlechter behandelt als Rentenbestandteile in höheren Jahreseinkommen. Wegen dieses willkürlichen Belastungssprungs ist die Reform wahrscheinlich wieder verfassungswidrig.

Der Referentenentwurf wurde im Bonner Finanzministerium noch gedruckt, da stimmten Bareis und Adalbert Uelner, Ex-Abteilungsleiter bei Waigel, im 30 Kilometer entfernten Brühl bereits überein: »Das kann nicht so bleiben.«

Die neue Panne ist nach der gleichen Methode passiert wie die vorherigen Reinfälle des Steuerpolitikers Waigel. Die Beamten mußten sich, angeführt von Waigels Staatssekretär Franz-Christoph Zeitler, politischen Vorgaben beugen, die mit dem Auftrag des Verfassungsgerichts zur Freistellung des Existenzminimums nicht zu vereinbaren sind.

Heraus kam handwerkliche Flickschusterei, die in den nächsten Monaten unter Zeitdruck nochmals geändert werden dürfte. Anschließend folgt das langwierige Gezerre im Vermittlungsausschuß. Und so ist am Ende weiterer Wildwuchs im Steuerdschungel die logische Folge.

Wieder einmal hat Waigel die Chance verpaßt, die längst überfällige, echte Reform der Einkommensteuer vorzulegen. Wieder einmal hat er die Auflagen des Verfassungsgerichts nicht erfüllt.

Die Verfassungshüter fordern seit langem die Steuerbefreiung des Existenzminimums. Am 1. Januar 1996, so haben sie entschieden, muß das Einkommensteuerrecht diesem Anspruch genügen. Eine Reform war nicht mehr zu vermeiden.

Waigel berief eine Kommission unter dem Vorsitz von Bareis. Die präsentierte nach der Bundestagswahl im November 1994 einen Reformvorschlag aus einem Guß: Das steuerfreie Existenzminimum sollte 13 000 Mark betragen und als Grundfreibetrag ausgewiesen werden.

Die mit diesem Modell verbundenen Einnahmeausfälle des Staates wollte die Kommission durch Ausforsten der zahllosen Subventionen und Vergünstigungen einzelner Gruppen finanzieren.

Den Rat der ausgewiesenen Experten schob Waigel beiseite. Er hatte sich längst anders festgelegt. Die Reform durfte nicht mehr als 16 Milliarden Mark kosten. Steuervorteile zu streichen erschien Waigel nicht verlockend. Er fürchtet den Widerstand starker Lobby-Gruppen und kann nicht auf den Beistand der Opposition setzen.

Der erste vom CSU-Chef präsentierte Tarif geriet zum Reinfall. Das Geld, das er bei Kleinverdienern unterhalb des Existenzminimums nicht mehr abgreifen darf, wollte er sich bei Bürgern mit Einkommen zwischen 15 000 und 30 000 Mark wieder hereinholen.

Der Tarif hatte vor allem einen Schönheitsfehler: Einkommensbezieher zwischen 15 000 und 30 000 Mark müßten von jeder zusätzlich verdienten Mark bis zu 33,8 Prozent an den Staat überweisen, Besserverdiener kämen mit niedrigeren Grenzsteuersätzen davon: Der sogenannte Waigel-Buckel in der Steuerkurve verunstaltete den Tarif. Kleinlaut mußte Waigel seinen Entwurf zurückziehen.

Nach den neuen Plänen liegt das Existenzminimum bei etwas über 12 000 Mark. Dieses Einkommen ist eigentlich schon mit über 1200 Mark Steuern belastet. Deshalb räumt der Finanzminister diesem Steuerzahler eine »Grundentlastung« in derselben Höhe ein. Das Ergebnis: Steuerzahlung und Steuervergünstigung heben sich gegenseitig auf, das Existenzminimum bleibt steuerfrei.

Bei steigendem Einkommen steigt die Steuerschuld, die Grundentlastung jedoch wird immer geringer. Bei 43 000 Mark ist sie auf Null zusammengeschnurrt. Von da an zahlt der Bürger die Steuer, die der linear-progressive Tarif verlangt.

Das komplizierte Modell von Geben und Nehmen erspart es Waigel, das Existenzminimum in Form eines Grundfreibetrages für alle auszuweisen. Er kassiert bei denen, die nach Abzug der Steuern mehr als das Existenzminimum übrig haben, den zunächst gewährten Vorteil Stückchen für Stückchen wieder ein und hält die Reform so bezahlbar.

Noch komplizierter aber wird es, wenn Waigels Steuerpläne und das Rentenrecht aufeinandertreffen. Selbst Fachleute blicken da kaum noch durch, sie wissen nur - so geht es nicht.

Je höher das Einkommen steigt, desto geringer wird die Grundentlastung. Solange es um den raschen Abbau dieses Postens geht, zählt die Rente voll, bis er bei 43 000 Mark ganz abgeschmolzen ist.

Danach aber, jenseits von 43 000 Mark, werden wohlhabendere Bürger, zu deren Alterseinkommen neben Miet- und Kapitalzinsen auch eine Sozialrente zählt, gnädiger behandelt. Plötzlich zählt die Rente für den Fiskus wieder nur mit dem üblichen Satz von 27 Prozent.

In diese Falle mußte Waigel laufen, weil er sich weigert, eine systemgerechte Reform zu riskieren: das Existenzminimum als Grundfreibetrag für alle auszuweisen, ohne die Kunstform einer »außertariflichen Grundentlastung«. Dann könnte er die Beiträge zur Alterssicherung vollständig steuerfrei lassen, müßte aber die Renten selbst wie jedes andere Einkommen versteuern. Genau das hatte die Bareis-Kommission vorgeschlagen.

Waigel gerät mit seiner Lösung einmal mehr mit der Verfassung in Konflikt. Er nimmt die Entschlossenheit der Karlsruher Richter, an ihren Kriterien festzuhalten, nicht ernst.

In ihrer Entscheidung über die Verschonung des Existenzminimums hatten die Richter dem Minister nahegelegt, Steuerausfälle durch das Streichen nicht zwingend gebotener Steuervergünstigungen wettzumachen. In mehreren Urteilen schrieben sie zudem fest, zwingende Ausgaben für die Familien seien »nicht disponibel« und sollten von der Besteuerung abgezogen werden dürfen.

Der Finanzminister müßte dieser Karlsruher Wegweisung eigentlich folgen, im Referentenentwurf aber macht er das Gegenteil: Er verbessert die Steuersparmöglichkeiten für Hobbysportler, ändert dagegen beispielsweise nichts an den völlig unzulänglichen Abzügen für die Unterstützung pflegebedürftiger Eltern (siehe Grafik Seite 83).

»Die Verfassung drängt auf und zwingt zur Vereinfachung des Steuerrechts«, mahnte der Karlsruher Verfassungsrichter Paul Kirchhof in Brühl. Kirchhof: »Nur das einfache, verstehbare Recht kann ein gerechtes Steuerrecht sein.« Eine Typisierung mache, wenn sie den Regelfall einigermaßen realitätsgerecht widerspiegelt, den durch Quittungen belegten Nachweis überflüssig.

Waigels neuer Wurf enthält zwar auch einige Steuervereinfachungsparagraphen von zweifelhaftem Wert. Doch an heiklen Problemen wagt der Minister nicht zu rühren. Sein Helfer Zeitler rühmt sich sogar ausdrücklich, an die private Nutzung von Betriebs-Pkw, das umstrittene Arbeitszimmer in der Privatwohnung oder die Bewirtungsspesen sei man nicht rangegangen - »aus pragmatischen Gründen«.

Der berüchtigte Paragraph 19a steht weiterhin im Gesetz. Er regelt mit 1965 Wörtern eine Steuerermäßigung von ganzen 60 Mark pro Jahr für Arbeitnehmer in Großunternehmen, er ist auch für Experten kaum verdaulich.

Ersatzlos streichen, so der Rat der Bareis-Kommission: Das hätte sogar noch 200 Millionen Mark Mehreinnahmen gebracht. Waigel geht einen anderen Weg: Er verlängert den überflüssigen Bandwurmparagraphen um weitere vier wortreiche Absätze und faßt zwei Absätze neu.

Zwei wichtige Komplexe fehlen in dem Entwurf des Jahressteuergesetzes völlig: die Neuordnung des Familienleistungsausgleichs und der Eigenheimförderung. Diese Teile sollen noch nachgeliefert werden. Das erhöht den Zeitdruck im parlamentarischen Verfahren. Ohnehin ist der Finanzminister mit seinem Werk zu spät dran.

Sein Abteilungsleiter Forst scheint dagegen allein vom Volumen des Erreichten schon beeindruckt zu sein. Über 360 Seiten zähle der Referentenentwurf, 29 Gesetze und Verordnungen würden geändert, vom Einkommensteuergesetz bis zum Steuerstatistikgesetz, rühmte er ausgerechnet auf dem Steuervereinfachungssymposium der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft in Brühl. Da kam Freude auf.

»Ich bin sicher«, spottete der Verfassungsrichter Paul Kirchhof, »daß die Lektüre des Gesetzentwurfes die geistige Beweglichkeit der Steuerjuristen fördern wird.« Ob aber die Richtung stimme, sei doch sehr zweifelhaft. Y

[Grafiktext]

Fall 1: Aufwendung f. Soziales

Fall 2: Spende fürs Hobby

Waigels kompliziertes Modell

[GrafiktextEnde]

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