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»Das Ziel ist Überleben«

Die Reisebranche leidet unter den Folgen des Golfkriegs. Firmen lassen die Mitarbeiter nicht mehr fliegen, Urlauber stornieren ihre Buchungen - der Luftverkehr hat drastisch abgenommen. Die Fluggesellschaften sind von der Krise besonders hart betroffen, die Verluste steigen gewaltig. Der Lufthansa droht ein Milliardendefizit.
aus DER SPIEGEL 6/1991

Tagelang wartete Siegfried Monski auf jemanden, der »den Mumm hat, etwas zu tun«. Dann tat er selber etwas.

Monski ließ 10 000 Plakate drucken und schickte sie an fast alle deutschen Reisebüros. Der fett gedruckte Text: »Fliegen war noch nie so sicher wie jetzt . . .«

Die Plakataktion des Stuttgarter Reiseunternehmers (Orion Interconti Touristik) war ein Akt der Verzweiflung. Monskis Geschäfte gehen schlecht wie nie.

Monski ist kein Einzelfall. Die Reisezunft leidet unter der Angst der Menschen vor Terroranschlägen auf Flugzeuge und Flughäfen. »Seit dem Beginn des Golfkriegs«, klagt Monski, »geht bei uns nichts mehr.«

Die Zeiten sind unsicher, die Deutschen bleiben am liebsten zu Hause. Der Krieg am Golf hat das Verhalten vieler Menschen verändert - und niemand bekommt das so sehr zu spüren wie die Reisebranche. Geschäftsleute verschieben den geplanten Flug oder fahren lieber mit der Bahn. Urlaubsreisen werden abgesagt oder gar nicht erst gebucht. Die Fluggesellschaften dünnen ihre Flugpläne aus, Hotelzimmer bleiben leer. Taxifahrer, Ladenbesitzer und Kneipiers auf den Flughäfen klagen über drastische Umsatzeinbußen. »Die Leute haben einfach Angst«, weiß ein Mitarbeiter der Reisebüro-Kette DER.

Die Angst steigert sich gelegentlich zur Hysterie. Die Hersteller von Konserven melden Rekordumsätze - viele Deutsche legen sich eine eigene Reserve zu; Gasmasken sind ausverkauft.

Betont vorsichtig reagieren die Personalchefs vieler Firmen; sie lassen ihre Mitarbeiter nicht mehr fliegen.

Ausnahmen werden nur in dringenden Fällen gemacht. Esso-Manager etwa, die unbedingt zur Konzernzentrale in New York müssen, dürfen starten - aber von abgelegenen Orten wie Zürich oder Lissabon. Die Reisestelle stellt keine Tickets über Frankfurt aus.

Die allgemeine Angst vorm Fliegen nützt vor allem der Deutschen Bundesbahn. Die erste Klasse in den Intercity-Zügen ist schon seit Wochen voll besetzt. Wer kurzfristig auf die Schiene will, muß mit der zweiten Klasse vorliebnehmen. Auch die Vermieter von Videokonferenzstudios erleben seit der Golfkrise einen unverhofften Boom.

In den weitläufigen Hallen des Frankfurter Flughafens, sonst täglicher Treffpunkt für etwa 100 000 Menschen, herrscht ungewohnte Stille. Die Warteschlangen vor den Abflugschaltern sind verschwunden, die einst überfüllte Besucherterrasse ist wie leergefegt. »Wo sind nur die Leute geblieben?« wundert sich eine Stewardess der Lufthansa.

Mehr als 30 tägliche Flüge waren vergangene Woche in Frankfurt mangels Nachfrage gestrichen. In den übrigen Maschinen hatten die wenigen Passagiere ungewöhnlich viel Platz. In den Jumbos der Pan Am etwa saßen manchmal nur ein paar Dutzend Leute.

»Wo kein Leben ist, ist auch kein Geschäft«, stöhnt Horst Hiller, Pächter der größten Ladenkette auf dem Rhein-Main-Airport. In den mehr als 100 Geschäften, vom englischen Kaufhaus Harrods bis zu Blumen-Leonhardt und Beate Uhse, warteten die Verkäufer vergebens auf Kundschaft.

Weniger Gäste meldet das Hotelgewerbe. Im Frankfurter Sheraton, in dem vor allem die Transit-Passagiere aus Amerika und Fernost ausbleiben, stehen pro Nacht etwa 75 Zimmer frei. Bis zu 500 Stornierungen verbuchte das Hamburger SAS Plaza Hotel in der vergangenen Woche, normalerweise sagen etwa 100 Gäste ab. »Manche Hotels«, berichtete der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband, würden demnächst wohl ganze Stockwerke verriegeln.

Am schlimmsten sind die Fluggesellschaften von der Reiseangst betroffen. Die Deutsche Lufthansa ließ in der vergangenen Woche täglich mehr als 60 Hin- und Rückflüge ausfallen. Die Flüge in den Nahen Osten waren schon vorher eingestellt worden.

Die Auslastung der eingesetzten Lufthansa-Jets sank auf den Rekord-Tiefstand von etwa 40 Prozent - normal sind 60 bis 65 Prozent. Nach Lufthansa-Kalkulationen bringt schon ein Prozent weniger Auslastung einen jährlichen Verlust von 125 Millionen Mark. Bei anhaltender Flaute und unverändertem Flugplan würde die Gesellschaft mithin einen Jahresverlust von mindestens 2,5 Milliarden Mark einfliegen.

Über den Atlantik wagen sich nur noch die ganz Mutigen. Der Lufthansa-Airbus mit der Flugnummer LH 408 von Düsseldorf nach New York etwa hatte am Montag vergangener Woche gerade 64 Passagiere an Bord - bei insgesamt 164 Plätzen. Die Düsseldorfer LTU, die Linienflüge von Düsseldorf nach New York anbietet, verzeichnete einen Passagierverlust von mehr als 50 Prozent. Der unverwartet hohe Rückgang der Fluggastzahlen löste bei der Lufthansa hektische Krisensitzungen aus. Der Vorstand beauftragte die Streckenmanager, bis zum Freitag der vergangenen Woche einen Flugplan auszuarbeiten, der die Verluste des halbstaatlichen Unternehmens begrenzt.

Das allerdings ist gar nicht so leicht. Die Planer können nicht einfach die Verbindungen streichen, auf denen das Aufkommen besonders stark gesunken ist. Jede Lufthansa-Maschine ist in einen täglichen Umlauf eingebunden, der schon beim Wegfall einer Strecke völlig durcheinandergeraten könnte.

Die Lufthansa-Manager haben sich daher nicht nur aufs Streichen konzentriert, sondern auch größere Flugzeuge durch kleinere ersetzt. Wo bisher ein großer Airbus flog, wird nun eine Boeing 727 eingesetzt. Der große Airbus fliegt statt dessen auf den Routen, die bisher von noch größeren Maschinen bedient wurden. »Das funktioniert«, so Chefplaner Klaus Nittinger, »wie der Domino-Effekt.«

Entlassungen sind bisher nicht geplant. Ein Teil des Lufthansa-Personals soll in Freischichten, Schulungen und Sonderurlaub geschickt werden - soweit das reicht. Wie schnell sich die Lage der Beschäftigten verschlimmern kann, erfuhren die Mitarbeiter der Lufthansa Service GmbH. Das zweitgrößte Bordverpflegungsunternehmen der Welt beantragte für seine insgesamt 6600 Beschäftigten von diesem Montag an Kurzarbeit. All diese Maßnahmen werden allerdings kaum verhindern, daß die Lufthansa in den nächsten Monaten horrende Verluste einfliegen wird. Schon im vergangenen Jahr häufte sich im Flugbetrieb ein Minus von mindestens 500 Millionen Mark an. In diesem Jahr kann daraus leicht eine Milliarde oder noch mehr werden. _(* Am Donnerstag nachmittag letzter ) _(Woche. )

Am ärgsten drückt der hohe Kerosinpreis die Gesellschaft ins Defizit. Der Preis für Flugbenzin stieg seit August von etwa 150 Dollar pro Tonne auf 300 Dollar in dieser Woche, im vergangenen Oktober lag er sogar bei 500 Dollar. Die Lufthansa mußte bis heute zusätzlich 210 Millionen Mark bezahlen.

Einen Vorteil allerdings hat die Krise der Luftfahrt-Branche für die Lufthansa: Ihr kleiner Konkurrent Aero Lloyd könnte zum Aufgeben gezwungen werden. Aero Lloyd mußte in der vergangenen Woche fast die Hälfte der Liniendienste streichen, die Firma wird nur noch durch eine Finanzspritze der Bayerischen Landesbank in der Luft gehalten.

Ins Trudeln sind selbst Gesellschaften geraten, die bisher als stabil galten. Die Air France hat 1990 einen Verlust von mindestens einer Milliarde Franc eingeflogen. Nun will das Unternehmen die Lieferung bereits bestellter Flugzeuge aufschieben. Die skandinavische SAS gab bekannt, daß wegen der schlechten Geschäftslage 3500 der insgesamt 22 000 Mitarbeiter entlassen werden sollen. British Airways will bis zu 5000 Stellen streichen.

Noch schlimmer schüttelte die Golfkrise Amerikas Fluggesellschaften. Nur vier Tage nach Ausbruch des Golfkriegs strich TWA die Hälfte seiner internationalen Flüge sowie ein Zwölftel seiner Arbeitsplätze. »Das einzige Ziel der Unternehmenspolitik«, erzählten TWA-Manager den revoltierenden Gewerkschaftern, »ist Überleben.«

Die meisten US-Airlines trifft der Nahost-Schock in einer ohnehin schon trostlosen Lage. Mit Ausnahme von American, United und Delta sind sämtliche Fluggesellschaften der USA finanziell angeschlagen. Eastern, die schwächste von allen, stellte ihren Betrieb zwei Tage nach Ausbruch des Kriegs ganz ein.

Im Rennen um die Passagiere operieren die US-Gesellschaften immer ungenierter mit Billigst-Tarifen. Der Flug von New York nach London ist inzwischen für etwa 250 Dollar zu haben. Bei diesem Preis kann weder die Lufthansa noch eine andere europäische Gesellschaft mithalten.

Die Manager der europäischen Fluggesellschaften erkannten die Gefahr, die ein ruinöser Wettbewerb mit sich bringen kann. Am Dienstag vergangener Woche sprachen sie bei der EG-Kommission in Brüssel vor. Air-France-Präsident Bernard Attali bat die Brüsseler Beamten, für eine begrenzte Zeit Preis- und Kapazitätsabsprachen zu erlauben.

Die Linienfluggesellschaften haben die Probleme jetzt schon, die Charterflieger sind bisher noch nicht so stark betroffen. Die deutschen Ferienflieger stellten schon Anfang Januar ihre Flüge nach Ägypten, Israel und in die Türkei ein. Aber die Zahl der Reisen in diese Länder war nicht allzu hoch. Bei der Lufthansa-Tochter Condor etwa lag der Anteil dieser Länder bei nicht einmal zehn Prozent.

Zu den großen Verlierern gehören bisher nur Ägypten-Spezialisten wie die Stuttgarter Hetzel-Reisen. Das schwäbische Unternehmen macht im Winter ein Drittel seines Umsatzes mit Reisen an den Nil. Ein großer Teil der insgesamt 20 000 Plätze konnte nicht verkauft werden. »Das ist futsch«, grämt sich Chefin Elke Hetzel-Maute.

Doch das Sommergeschäft läuft erst an, und da geht es um andere Summen. Vor allem Reiseveranstalter, die sich auf die Türkei und das östliche Mittelmeer spezialisiert haben, leiden unter einer Stornowelle. Der Hamburger Türkei-Spezialist Öger-Tours etwa hatte noch im Dezember 4000 Buchungen für einen Sommerurlaub in der Türkei. Die Hälfte davon war schon in der vergangenen Woche storniert.

Nun geht es Reiseunternehmer Vural Öger so wie vielen seiner Kollegen: Er hat für knapp die Hälfte seiner 44 Angestellten vom 1. Februar an Kurzarbeit angemeldet.

Die großen Veranstalter, der Marktführer TUI und der Branchenzweite NUR Touristic, spüren den Rückgang des Geschäfts ebenfalls. »Der Krieg«, so NUR-Geschäftsführer Wolfgang Beeser, »zieht seine Schleifspuren.«

Spätestens dann kommen auch die Charterfluggesellschaften in Bedrängnis. Die Reiseveranstalter nämlich können bis vier Wochen vor dem Abflugtermin die gecharterten Maschinen wieder abbestellen, eine Stornogebühr wird nicht fällig. »Im Sommer kommt das Loch«, sagt Condor-Sprecher Rainer Ortlepp.

Jean Pierson, Chef der Flugzeugfirma Airbus Industrie, sieht für die Fluggesellschaften sogar die »größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg« heraufziehen. »Viele Airlines«, so Pierson, »werden in eine Art Koma verfallen.«

Was der Airbus-Chef nicht sagte, aber wohl mitteilen wollte: Nach der Krise der Fluggesellschaften folgt unweigerlich die nächste Krise - die der Flugzeughersteller.

* Am Donnerstag nachmittag letzter Woche.

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