Dax knackt die 5000 "Weniger Rendite wäre gesünder"
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Herr von Rosen, nachdem der Dax erstmals im März 1998 die 5000er Marke übersprang, folgte zunächst der viel bejubelte Börsenboom, dann der jähe Absturz. Wie viel von diesem ungesunden Klima steckt in der aktuellen Hausse?
Von Rosen: Wir sind damals in eine Euphorie hineingeraten, die durch die jeweiligen Markt- und Kursentwicklungen nach oben getrieben wurde. "Gier frisst Hirn" haben wir dieses Verhalten genannt. Für Warnungen wie "Keine Aktien auf Kredit" oder "Nie mehr als zehn Prozent Depotanteil vom Neuen Markt" sind wir kritisiert worden. Ob der aktuelle Aufschwung ähnlich ungesunde Elemente enthält, wird sich erst später analysieren lassen. Es gibt aber bestimmte Faktoren, die mit den damaligen keineswegs zu vergleichen sind.
SPIEGEL ONLINE: Welche Faktoren sind das?
Von Rosen: Zum Beispiel das Kurs-Gewinn-Verhältnis als Kennzahl für die Ertragskraft der Unternehmen. Damals hatten die Emittenten im Durchschnitt ein KGV von mehr als 20. Heute liegt der Wert nach erheblichen Umstrukturierungen vieler Gesellschaften bei 13. Gemessen daran ist der Dax heute niedriger bewertet. Das ist sicher positiv. Es gibt aber auch Warnsignale.
SPIEGEL ONLINE: Was beunruhigt Sie?
Von Rosen: Im langjährigen Durchschnitt liegt die Aktienrendite um zwei bis drei Prozent über der Rendite von festverzinslichen Wertpapieren - also zwischen acht und zehn Prozent. Das sind Erfahrungswerte aus über 100 Jahren. Natürlich schwanken die Jahresrenditen der Aktien stark um diesen Trendwert. Tatsächlich hat der Dax 2005 aber bereits um 17 Prozent zugelegt. Bezogen auf das aktuelle KGV kann man zwar immer noch von einem Aufholen sprechen. Wir müssen aufpassen, dass dieser Schwung nicht übergangslos in eine neue Euphorie mündet. Dies können wir allerdings nicht steuern. Dennoch: Etwas weniger Rendite wäre mittel- bis langfristig gesünder.
SPIEGEL ONLINE: Das wirtschaftliche Umfeld in Deutschland jedenfalls ist nicht unbedingt dazu geeignet, eine Aufschwunggeschichte zu erzählen. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Konjunktur lahmt und die Binnennachfrage stagniert. Welche Gründe hat der Dax-Anstieg?
Von Rosen: Dafür gibt es sicherlich mehrere Auslöser. Die Unternehmensgewinne sind deutlich gestiegen. Die freiwillige und gesetzliche Transparenz der Aktiengesellschaften ist größer, was sie attraktiver für Anleger macht. Auch verbessert der niedrigere Euro-Kurs die Wettbewerbsfähigkeit vieler Konzerne. Letztendlich unterschätzen die Deutschen nach wie vor den Wert ihrer Unternehmen - im Gegensatz zu ausländischen Investoren. Warum kaufen denn sogenannte "Heuschrecken" deutsche Firmen? Doch nicht aus sozialen Gründen. US-Amerikaner wissen sehr genau, dass viele deutsche Gesellschaften unterbewertet sind. Sie investieren und strukturieren um. Auch das treibt die Kurse an. Am Ende gilt: "Die Hausse nährt die Hausse." Bei wachsenden Kursen springen die Anleger auf - manche früher, viele leider erst relativ spät.
SPIEGEL ONLINE: Beobachter weisen immer wieder auf die Neuwahlen als kurstreibende Kraft hin. Welchen Anteil hat die Politik an der Hausse?
Von Rosen: Auch das hat zumindest für eine positive Stimmung an den Märkten gesorgt. Die Wahlen sollte man aber nicht überbewerten. Wenn der Vize-Kanzler Oskar Lafontaine heißt, dürfte die Stimmung schnell kippen.
SPIEGEL ONLINE: Umgekehrt hat sich der Dax als erstaunlich robust erwiesen. Der hohe Ölpreis nach Hurrikan "Katrina" und die Terrorattacken von London können den Kursanstieg nicht stoppen. Haben diese Faktoren an Einfluss auf das Marktgeschehen eingebüßt?
Von Rosen: Teilweise. Die Anschläge von London haben dem demokratischen Gemeinwesen nichts anhaben können. London ist nicht umgekippt. Das ist gut an den Märkten angekommen. Der hohe Ölpreis hingegen scheint mittlerweile eingepreist zu sein. Die aktuellen Ausschläge nach oben, zum Beispiel nach dem verheerenden Wirbelsturm in den USA, dürften eher als vorrübergehend wahrgenommen werden. Die Märkte haben gelernt, mit derlei Einschnitten zu leben.
SPIEGEL ONLINE: In der Boomphase machten die Anleger Bekanntschaft mit betrügerischen Dotcom-Gründern. Heute sind es Manager von Dax-Konzernen wie Infineon, die mit Korruptionsaffären Schlagzeilen machen. Hat die Häufung Folgen für den Aufschwung?
Von Rosen: Im Boom sind viele Geschäftsideen nicht aufgegangen. Nur wenige Einzelfälle der Kursverluste waren tatsächlich auf Betrügereien zurückzuführen. Das ist natürlich schlimm genug, aber nicht die Hauptursache. Genauso kann ich jetzt nicht erkennen, dass die Korruption heute ausgeprägter und anders ist als früher. Die Vorfälle zeigen aber, dass die Sensoren besser funktionieren als zuvor. Durch gelebte Corporate Governance und neue Gesetze gehen wir dieses Thema heute besser an. Und auch die Investoren sind sensibler und kritischer geworden.
SPIEGEL ONLINE: Durch den tiefen Fall der Aktienmärkte ist das Vertrauen in Aktien als Geldanlage beim Kleinsparer zerstört worden. Inwieweit trägt der aktuelle Aufschwung zur Wiederbelebung einer Aktionärskultur bei?
Von Rosen: Im ersten Halbjahr 2005 gab es laut unserer Statistik einen Zuwachs von 300.000 Aktionären in Deutschland. Das kann als erstes Zeichen eines wieder einsetzenden Vertrauens gewertet werden. Von einem Durchbruch kann allerdings keine Rede sein. Es zeigt, dass wir das Thema Aktie besser verankern müssen, vor allem als Bestandteil der individuellen Altersvorsorge. Da müssen aber alle mitmachen. Die Aktie muss auch von institutionellen Anlegern und Pensionsfonds stärker genutzt werden. Auch die Politik ist gefragt. Wobei ich meine Zweifel habe, ob die Menschen unseren Politikern einen gelebten Bezug zur Aktienkultur abnehmen.
SPIEGEL ONLINE: Lohnt sich der Einstieg für Kleinanleger jetzt noch, oder ist es schon wieder zu spät, um eine anständige Rendite zu erzielen?
Von Rosen: Das kommt auf den einzelnen Anleger an. Für einen Berufsanfänger, der jetzt damit beginnt, über einen Fonds für die Altersvorsorge in Aktien zu investieren, lohnt es sich sicherlich. Das geht schon ab 100 Euro im Monat. Dieser Anleger profitiert langfristig über die Durchschnittsentwicklung ganz sicher. Einem 63-Jährigen, der für sechs Monate seine kompletten Ersparnisse anlegen will, würde ich hingegen vom Aktienkauf abraten.
Das Interview führte Jörn Sucher