Dax-Reform Fast das gesamte deutsche Börsenkapital in einem Index

Börse in Frankfurt am Main
Foto:DANIEL ROLAND / AFP
Eines vorneweg: Die Rüstungslobby kann durchatmen. Ihre Mitgliedsfirmen werden von den neuen deutschen Börsenregeln nicht wie befürchtet diskriminiert. Im Gespräch war zeitweise, Unternehmen aus den wichtigsten Indizes der Deutschen Börse auszuschließen, deren Umsatz zu mehr als zehn Prozent aus dem Verkauf »kontroverser Waffen« entspringe.
Gut, dass es nicht so gekommen ist. Denn eine solche »Lex Airbus« hätte unter Umständen den Rauswurf des Luftfahrt- und Rüstungskonzerns aus dem MDax bedeutet und eine seltsame Botschaft gesendet: Anleger hätten nicht vom Erfolg eines Unternehmens profitieren können, das eines der wenigen Beispiele für gelungene europäische Kooperation ist und Rüstungsgüter für den zusammenwachsenden Kontinent herstellt. Und dass es herkömmliche Rüstungsgüter – nicht kontroverse Waffen wie Streubomben oder ABC-Waffen – in einer zunehmend multipolaren Welt mit aggressiven Playern braucht, sollte klar sein.
Alle anderen Reformideen, die die Deutsche Börse Anlegern und Verbänden zur Konsultation vorlegte, wurden von diesen angenommen. Manches davon ist so banal, dass man sich wundert, dass es überhaupt schriftlich fixiert werden musste. Etwa, dass Unternehmen testierte Jahres- sowie Quartalsberichte veröffentlichen und bei Verstößen den Index verlassen müssen. Oder dass sie einen Prüfungsausschuss im Aufsichtsrat bilden müssen, der überwachen soll, ob sauber bilanziert wird und das Risikomanagement stimmt.
Beides ist eine direkte Reaktion auf den Wirecard-Skandal, der den Standort Deutschland inklusive seiner Börse aufs Ärgste blamiert hat. Allerdings sind von Wirtschaftsprüfern testierte, regelmäßig eingereichte Bilanzen sowie Ratsausschüsse keine Gewähr dafür, dass nicht gelogen und betrogen wird. Wirecard hat die allermeiste Zeit rechtzeitig unter- oder ganzjährig seine Geschäftszahlen rapportiert, bloß waren die offenkundig größtenteils frei erfunden. Vielversprechender wäre, Bilanzprüfer bei Fehlverhalten schmerzlich bluten zu lassen. Das freilich ist Aufgabe des Gesetzgebers, der sich in dieser Hinsicht nicht besonders professionell anstellt.
Am augenfälligsten ist die Erweiterung des Deutschen Aktienindex Dax von 30 auf 40 Unternehmen, um die volle Bandbreite der deutschen Wirtschaft zu spiegeln. Das ist insofern gelungen, als der Dax künftig satte 94 Prozent des Wertes börsennotierter deutscher Unternehmen abbildet, weit mehr als in Japan, den USA oder Frankreich. Darunter leidet der schrumpfende MDax, der die mittelgroßen Unternehmen, das Herz der deutschen Wirtschaft, umfasst.
Manko für Europas größte Volkswirtschaft
Welche Auswirkungen die Dax-Erweiterung auf 40 Mitglieder haben wird, ist ungewiss; die Regeln treten erst im September 2021 in Kraft. Aber dass schon mit 40 Unternehmen fast die gesamte Börsenkapitalisierung des Landes abgedeckt wird, ist bedenklich. Wird damit doch offenkundig, wie wenige deutsche Firmen überhaupt an der Börse sind und wie schwach ausgeprägt die Kapitalmarktkultur ist.
Das ist ein gewaltiges Manko für Europas größte Volkswirtschaft: Kaum irgendwo sonst hängt die Finanzierung von Unternehmen so wenig vom Kapitalmarkt und so sehr von Banken ab wie in Deutschland. Die Folge: geringe Eigenkapital- beziehungsweise hohe Fremdkapitalquoten; ein ruinöser Wettbewerb der Banken, die im Kampf um Marktanteile mit billigen Krediten um sich schmeißen; das hartnäckige Misstrauen deutscher Sparer gegenüber Aktien, selbst in Zeiten ultraniedriger Zinsen.
Am folgenreichsten ist die Regel, dass alle künftigen Dax-Kandidaten in den zwei letzten Finanzberichten vor Aufnahme in den Index Gewinne vor Steuern und Abschreibungen aufweisen müssen. Nicht nur, dass diese Regel mit Blick auf Wirecard überhaupt nichts genutzt hätte: Der zusammengebrochene Finanzdienstleister hat jährlich gewaltige Gewinne ausgewiesen, er hätte diese Regel also locker erfüllt – wären die Prüfer nicht auf sein Blendwerk hereingefallen.
Vor allem stellt dieses Kriterium ein Hindernis dar für Unternehmen, die neu am Markt sind, rasch wachsen und von Investoren als heiße Wette auf die Zukunft gesehen werden, etwa weil sie ein vielversprechendes Geschäftsmodell haben, um in ein paar Jahren eine Branche zu dominieren. Die Natur solcher Unternehmen ist es, Anlaufverluste zu produzieren. So wie Amazon in seinen ersten Jahren.

Warum sollte es nicht den Investoren überlassen sein, auf ihren Instinkt zu vertrauen und ins Risiko zu gehen, sofern sie davon überzeugt sind, dass die Wette aufgeht? Dieses Risiko ist integraler Bestandteil einer Marktwirtschaft. Platzt die Wette, und ein Unternehmen kann à la longue keine Gewinne erwirtschaften, wird es aus dem Markt ausscheiden.
Ja, für den Anleger kann das schmerzliche Verluste bedeuten. Was im Übrigen auch für den umgekehrten Fall gilt: für Unternehmen nämlich, die schon eine Ewigkeit im Dax sind, aber jahrelang ausschließlich Verluste produzieren. Bei der Deutschen Bank werden sie jedenfalls froh sein, dass die Zweijahres-Gewinnregel nicht auch für Dax-Oldtimer gilt.
Aber Marktwirtschaft bedeutet nicht, automatisch gegen Verluste abgesichert zu sein. Auch wenn man derzeit den Eindruck hat, dass marktwirtschaftliche Prinzipien in der Politik nicht hoch im Kurs stehen.
Von Diversität hat die Deutsche Börse offenbar nichts gehört
Etwas anderes dagegen hat die Börse augenscheinlich vergessen, in ihr neues Regelwerk hineinzuschreiben: die Pflicht, Aufsichtsrat und Vorstand möglichst divers zu besetzen. Das will, richtigerweise, zwar gerade der Gesetzgeber mit der Frauenquote vorschreiben. Indes nur für Unternehmen, die mehr als 2000 Mitarbeiter haben. Wer unter der 2000er-Marke bleibt, für den gilt die Frauenquote nicht. Die Deutsche Börse hätte sie nichtsdestotrotz verpflichtend einführen können, denn es gibt genügend Unternehmen, die unter der Marke bleiben.
Funfact: Wirecard, Auslöser der jetzigen Indexreform, wäre auch in dieser Hinsicht ein Musterknabe gewesen. Im Vorstand betrug die Frauenquote 25 Prozent, im Aufsichtsrat waren es zeitweise sogar 50 Prozent. Auch das hat den Zusammenbruch nicht verhindert.
Aber zweifellos tut Diversität jedem Unternehmen gut, bis in die Führungsspitze hinein. Das belegen umfangreiche Studien wie auch die eigene Wahrnehmung. Nicht nur in dieser Hinsicht ist also noch Luft nach oben bei den neuen Indexregeln der Deutschen Börse.