»Der Wettbewerb hat nicht funktioniert«
SPIEGEL: Herr Klaue, Sie haben angekündigt, das Kartellamt wolle künftig stärker die Versicherungswirtschaft kontrollieren. Warum?
KLAUE: Wir wollen nicht stärker kontrollieren, sondern die uns vom Gesetzgeber übertragene Aufgabe erfüllen. Und das heißt: Wir müssen für einen ordentlichen Wettbewerb in diesem Bereich sorgen.
SPIEGEL: Hat das Kartellamt denn in der Vergangenheit diese Aufgabe nicht erfüllt?
KLAUE: Doch, natürlich. Jetzt allerdings wird bei den Versicherern eine Tendenz sichtbar, die in der Vergangenheit nicht so deutlich zu erkennen war. Das Risiko wird einseitig immer mehr auf die Versicherungsnehmer verlagert. Die Firmen versuchen ein System zu schaffen, bei dem die Versicherungssummen und die Prämien automatisch den höheren Aufwendungen angepaßt werden.
SPIEGEL: Die neuen Anpassungsklauseln in der Hausratversicherung haben Sie geärgert?
KLAUE: Genau. Mit den neuen Hausrat-Klauseln können die Versicherer die Versicherungssumme und die Prämien regelmäßig heraufsetzen. Diese Automatik geht uns zu weit.
SPIEGEL: Das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen hat die Anpassungsklauseln genehmigt. War das nicht in Ordnung?
KLAUE: Das Aufsichtsamt hat, wie wir auch, ein Gesetz zu handhaben, und es wird nicht ausbleiben, daß wir uns dann und wann gegenseitig in die Quere kommen. Die Gleitklauseln in der Hausratversicherung mußten wohl genehmigt werden, doch damit wird uns jede Möglichkeit der Mißbrauchsaufsicht genommen.
SPIEGEL: Inwiefern haben die Versicherer hier ihre Macht mißbraucht?
KLAUE: Für uns sind die Gleitklauseln ein Preisbestandteil. Wenn der kollektiv am Markt über den Weg eines Kartells eingeführt wird, berührt dies natürlich unsere Aufsichtspflicht.
SPIEGEL: Das Versicherungsamt genehmigt Kartelle in der Versicherungswirtschaft, die das Kartellamt nicht mehr knacken kann?
KLAUE: Es werden zumindest die Voraussetzungen für Kartellabsprachen in einzelnen Zweigen geschaffen. Die Gleitklauseln gehen im Sammelgenehmigungsverfahren durch, und die Unternehmen nutzen dies aus. Wir können dann gegen die kollektive Erhöhung der Prämien nichts mehr machen.
SPIEGEL: Wo sehen Sie da überhaupt eine Chance für das Kartellamt?
KLAUE: Wir würden gern bei der Genehmigung solcher Gleitklauseln, die ja Voraussetzung für dieses von mir beschriebene kollektive Verhalten sind, mitwirken wollen. Wir möchten hier unseren Einfluß geltend machen, soviel Wettbewerb wie möglich zu erhalten.
SPIEGEL: Wieviel Wettbewerb ist denn möglich?
KLAUE: Den Unternehmen muß die Fähigkeit genommen werden, Wettbewerbsbeschränkungen in großem Umfange einzuführen. Heute können sie über ihre Verbände Tarifwerke schaffen, die ein gleichförmiges Verhalten ermöglichen. Wenn eine Vielzahl von Unternehmen nicht in der Lage ist, ohne Hilfe der Verbände autonom Prämien zu kalkulieren, kriegen wir auch keinen Wettbewerb hinein. Kleinere, schwächere Unternehmen werden durch die gemeinsam kalkulierten Prämien gestützt und am Markt gehalten. Mir wäre es viel lieber, von der Struktur her, wir hätten an Stelle von 500 Versicherungsunternehmen, die so geschützt werden, 25 leistungsfähige Unternehmen, die ohne Verbandshilfe selbst kalkulieren könnten.
SPIEGEL: Sie meinen, daß ruhig die eine oder die andere schlecht wirtschaftende Versicherungsfirma in Konkurs gehen könnte?
KLAUE: Da können Sie von mir als Mann des Kartellamtes nur ein Ja als
Antwort erwarten. Vielleicht müßten wir uns, wie beim privaten Bankgewerbe, ein Auffangsystem ausdenken, das den kleinen Mann schützt, wenn seine Versicherungsgesellschaft kaputtgeht.
SPIEGEL: Mit diesen Plänen werden Sie weder bei den Versicherungsunternehmen noch beim Aufsichtsamt Begeisterung entfachen. Wie realistisch schätzen Sie die Chancen für solche kühnen Vorschläge ein?
KLAUE: Das kann ich im Augenblick nicht ermessen. Aber denken Sie einmal an die Widerstände, die bei den Banken gegen die Einlagensicherung bestanden, die dann letztlich doch verwirklicht wurde. Ich habe die Hoffnung, daß wir auch in der Versicherungswirtschaft - zu ihrem eigenen Schutz und zu ihrer marktwirtschaftlichen Legitimation - zu einem neuen System kommen werden.
SPIEGEL: Wollen Sie mehr Wettbewerb ohne das Aufsichtsamt schaffen? Ist das Amt überflüssig?
KLAUE: Sicher nicht. Das Versicherungsamt ist in unser Rechtssystem eingebunden, ist notwendig, jedenfalls so, wie wir Versicherungswirtschaft in unserem Lande betreiben. Aber wenn die Genehmigungspraxis des Aufsichtsamtes dazu führt, daß die Mißbrauchsaufsicht so ausgehöhlt wird, wie dies zur Zeit den Anschein hat, dann werden wir, das Kartellamt, überflüssig.
SPIEGEL: Ist das Aufsichtsamt ursprünglich nicht angetreten, um den Verbraucher zu schützen?
KLAUE: Nein, die vorrangige Aufgabe des Aufsichtsamtes besteht darin, den Bestand der Unternehmen zu sichern. Für den Verbraucherschutz ist vor allem das Kartellamt zuständig. Wettbewerb ist im Interesse des Verbrauchers.
SPIEGEL: Was hätte der Kunde von einem stärkeren Wettbewerb der Versicherer?
KLAUE: Der Kunde käme langfristig in den Genuß einer besseren Versicherungsleistung. Das kann sich in einer niedrigeren Prämie, aber auch in einem besseren Service, großzügiger Schadensregulierung oder ähnlichem zeigen.
SPIEGEL: In der Tat steigen die Prämien ja immer höher, während die Firmen ohne jedes Risiko immer größere Vermögen anhäufen.
KLAUE: Auf Dauer kann auch ein Versicherungsunternehmen in der Marktwirtschaft nur existieren, wenn es Gewinne macht. Auf der anderen Seite sind Gewinne in der Marktwirtschaft nur dann rechtmäßig, wenn sie im Wettbewerb erzielt worden sind und nicht im Windschatten staatlicher Fürsorge. Sie sind auch nicht gerechtfertigt, wenn sie aus marktbeherrschenden Stellungen oder aus Kartellabsprachen gezogen werden. Und das scheint hier in großem Maße der Fall zu sein. Wir werden bei der Beurteilung der Vermögensanlagen in diesem Wirtschaftsbereich allerdings berücksichtigen müssen, daß der Wettbewerb in den vergangenen Jahrzehnten nicht voll funktioniert hat.
SPIEGEL: Fühlen Sie sich nicht provoziert, wenn der größte deutsche Versicherungskonzern, die Allianz, das Geschäft der Vermögensanlagen einer Holding überläßt, die nun frei über dieses ausgegliederte Kapital verfügen kann?
KLAUE: Dieses Kapital kommt dem Versicherungsnehmer, dem es eigentlich zustände, in der Tat nicht zugute. Aus der Sicht des Unternehmens ist dies natürlich eine ganz richtige und konsequente Entscheidung. Mich hat allerdings etwas gewundert, daß diese Angelegenheit in der deutschen Öffentlichkeit so wenig Widerhall gefunden hat. Wenn ich mir vorstelle, daß zum Beispiel in der Elektrizitätsversorgung die Unternehmen über den Strompreis jahrzehntelang Gewinne angehäuft hätten, um anschließend diese Gewinne in anderen Bereichen zu investieren - ein Aufschrei wäre durch die deutschen Lande gegangen. Das deutsche Versicherungssystem, einschließlich Aufsicht, hat solche Vorgänge legalisiert.
SPIEGEL: Es kann doch nicht im Sinne des Gesetzgebers sein, daß die Überschüsse, die zwangläufig durch dieses staatlich regulierte System entstehen, von den Versicherern kassiert werden, als sei es ihr Geld?
KLAUE: Mit Sicherheit ist es nicht so gedacht gewesen. Es ist auch ein grober Verstoß gegen die Grundgedanken unserer Marktwirtschaft, wenn das Risiko einseitig einer Seite, nämlich den Kunden, aufgebürdet wird. Wenn sich die deutschen Versicherer Schritt für Schritt in diese Richtung bewegen, verlieren sie immer mehr die Legitimation, privatwirtschaftlich auch über ihren Gewinn verfügen zu können. Wie die Lemminge laufen sie in diese Richtung.
SPIEGEL: Wie wollen Sie die Lemminge stoppen?
KLAUE: Durch mehr Wettbewerb. Sonst wird auf diese Branche die Diskussion zwangsläufig zukommen, wie sie in Zukunft organisiert sein darf: privatwirtschaftlich, gemeinnützig oder gar in irgendeiner Form vergesellschaftet.