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»Die SS-20 steckt voll West-Technologie«

Westliche Datenverarbeitungsanlagen helfen der kurzatmigen sowjetischen Rüstungsindustrie immer wieder auf die Sprünge. Für die Manager des grauen Technologietransfers ist der Computerexport in den Osten ein Bombengeschäft. Der Kaufmann Richard Müller aus Jesteburg hat es damit zum Multimillionär gebracht. *
aus DER SPIEGEL 52/1983

Der Lotse war an Bord, das Fallreep eingezogen. Die »MS Elgaren« war klar zum Auslaufen, als es am Afrika-Kai des Hamburger Hafens lebendig wurde. Ein Wagen mit Blaulicht stoppte, zwei Männer sprangen aus dem Auto, liefen auf die Pier und enterten mit einem Durchsuchungsbefehl das Schiff.

Tags drauf meldete die Hamburger Zollfahndung triumphierend, sie habe eine illegale Ladung amerikanischer Militärcomputer im Wert von zwei Millionen Mark, die für einen Empfänger im Ostblock bestimmt gewesen war, in letzter Minute abgefangen.

Die Beschlagnahme-Aktion auf der »Elgaren« im Hamburger Hafen war bis Mitte November dieses Jahres der größte Coup gegen den grauen Technologietransfer von West nach Ost. Doch der Triumph der Hamburger Zollfahnder verblaßte schnell vor einem noch größeren Erfolg der schwedischen Kollegen in gleicher Sache.

Am 20. November wurde die »Elgaren« im Hafen von Hälsingborg auf Ersuchen des amerikanischen Handelsministeriums noch einmal durchsucht. Die schwedischen Zollfahnder fanden vier Container, die die Hamburger Kollegen in der Eile der nächtlichen Blitzaktion übersehen hatten. Inhalt: elektronisches Datenverarbeitungsgerät im Wert von fünf bis zehn Millionen Mark.

Der Preis sagt wenig über den Gebrauchswert der beschlagnahmten Ware. Die in Hamburg und Hälsingborg abgefangenen Container enthielten unter anderem zwei komplette elektronische Datenverarbeitungsanlagen vom Typ VAX 11-780.

Die Anlage wurde ursprünglich zum zivilen Gebrauch entwickelt. Sie wird erst kriegsverwendungsfähig, wenn man zwei dieser Computer mit Hilfe eines - gleichfalls in Hälsingborg beschlagnahmten - »Multiporters« aneinanderkoppelt.

Aus zwei VAX 11780 wird dann ein VAX 11-782, der zur Zeit leistungsfähigste Rechner, der sich als Feuerleitsystem für Atomraketen eignet - vorausgesetzt, daß er mit dem passenden Computer-Programm gefüttert wird.

Die VAX-compatible Software traf ein paar Tage darauf per Luftfracht in Stockholm, passendes Zubehör per Bahn in Malmö ein. Das Elektronengehirn war von der Herstellerfirma Digital Equipment von _(In einem Atomkraftwerk bei Leningrad. )

Boston im US-Staat Massachusetts nach Südafrika geliefert, dort jedoch nicht installiert, sondern nach Europa weiterverfrachtet worden. Versender der abgefangenen Ladungen war die in Kapstadt eingetragene Handelsgesellschaft Optronix, Empfänger die Integrated Time in Malmö, eine Tochtergesellschaft der Semitronic im schweizerischen Zug. Die wiederum ist eine Schwester der Techimex in Harmstorf (Landkreis Harburg bei Hamburg).

Organisator der Zickzack-Operation und Inhaber der daran beteiligten (nichtamerikanischen) Firmen ist der Exportkaufmann Richard Müller, 42, aus Jesteburg in der Nordheide, der sich in der einschlägigen Dealerszene einen Namen als Marktführer gemacht hat. Richard Müller wird - in anderer Sache - seit dem 15. Dezember von der Staatsanwaltschaft in Lübeck gesucht. Drei seiner engsten Mitarbeiter sind seit Mitte des Monats in Haft.

Das Management der Integrated Time hat inzwischen verlauten lassen, das in Hälsingborg, Stockholm und Malmö sequestrierte Datenverarbeitungssystem sei zur Installation in einem schwedischen Rechenzentrum im Stockholmer Vorort Täby bestimmt gewesen. Doch Zollgeneraldirektor Björn Eriksson hält die Vermutung für »nicht unbegründet«, daß die Sendung für einen Endabnehmer im Ostblock bestimmt war.

Starke Indizien sprechen für diese Vermutung. Das Original-Verpackungsmaterial mit dem Firmenaufdruck des Herstellers sowie Typenbezeichnungen und andere Erkennungsmarken waren beseitigt worden. Der Frachtbrief stimmt nicht mit dem Inhalt der Container überein.

Das wichtigste Indiz freilich ist Richard Müller selbst. Müller gilt als erfolgreichster Vertreter einer Spezies von Kaufleuten, die das westöstliche Knowhow-Gefälle zur Wohlstandsmehrung nutzen und die dafür mitverantwortlich sind, daß die Sowjet-Union trotz ihrer strukturellen Kurzatmigkeit im weltweiten Rüstungswettlauf nie allzuweit zurückfällt.

Ohne westliche Kybernetik wäre die östliche Waffentechnik um zehn Jahre zurück. Der konservative Pentagon-Berater Miles Costick ist davon überzeugt, daß die meisten bedeutenden sowjetischen Waffensysteme auf West-Technologie basieren. Ähnlicher Ansicht sind auch neutrale Beobachter. Auf einem Seminar der Friedrich-Ebert-Stiftung bezifferte kürzlich Heinrich Vogel, Direktor des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln, den »Anteil illegal transferierter westlicher Technologie bei militärischen Neuentwicklungen des Warschauer Paktes« auf rund 70 Prozent.

Das »Coordinating Committee for East-West Trade Policy« (Cocom) in Paris gibt im Auftrag der Nato und Japans regelmäßig Listen von technologisch hochwertigen Gütern heraus, deren Export in den Ostblock untersagt ist. Doch weil es der Cocom an der Macht zur Durchsetzung ihrer Beschlüsse fehlt und weil die nationalen Behörden Verstöße gegen die Cocom-Akte meist als Gentleman-Delikte oder als Ordnungswidrigkeiten verfolgen, werden die Embargo-Bestimmungen überall souverän unterlaufen.

Die spektakulärsten Fälle wurden in den vergangenen Jahren ausgerechnet in den Vereinigten Staaten registriert - in jenem Land, dessen Cocom-Lobby unermüdlich die lockere Geheimhaltungsmoral der Bündnispartner beklagt: *___Amerikanische Firmen lieferten der Sowjet-Union ____Empfänger für das »Omega«-Navigationssystem der US ____Navy, mit deren Hilfe nun auch U-Boote der Roten Flotte ____weltweit ihre Positionen mühelos bestimmen können. *___Die Spawr Optical Research Inc. in Kalifornien ____verkaufte wassergekühlte Laser-Spiegel an die ____Sowjet-Union, die heute als Herzstück von Prototypen ____sowjetischer Killer-Satelliten gelten. *___Anfang des Jahres fanden Pentagon-Spezialisten in einer ____vor Rhode Island angetriebenen sowjetischen ____Spionageboje zur Ortung von U-Booten die exakte Kopie ____eines hochwertigen Mikrochips der Serie 5400, den Texas ____Instruments für die US Navy herstellt.

Selbst die gefürchtete SS-20-Mittelstreckenrakete steckt laut Miles Costick »voll West-Technologie«. Das Steuerungssystem konstruierten die Sowjets nach Ansicht westlicher Geheimdienste mit Hilfe von IBM-Rechnern der Typen 360 und 370. Die Computer wurden von der deutschen IBM-Tochter in den Osten geliefert.

Die Kursrechner der Rakete entwickelte höchstwahrscheinlich das »Massachusetts Institute of Technology«. Die komplizierten Kreiselkompasse vom Typ Mirv, die die drei Atomsprengköpfe der SS-20 unabhängig voneinander und mit einer mittleren Zielabweichung von 300 Metern in verschiedene Ziele steuern, arbeiten mit dem »Bryant Centalign-B«-Kugellagersystem, das in den USA patentiert wurde.

Die westlichen Hersteller liefern zu den geschmuggelten Computern bisweilen sogar noch den Wartungsdienst. Die Vertriebswege sind so sicher, daß die Sowjets defekte Rechner auf den verbotenen Wegen, auf denen sie in den Ostblock gekommen sind, auch wieder heraus- und nach erfolgter Reparatur wieder hineinschaffen.

Kurzum: Mit dem Einsatz von ein paar hundert Millionen Dollar haben die Sowjets strategisch-technisches Know-how erworben, für das der Westen in den letzten zehn Jahren über hundert Milliarden Dollar ausgegeben hat. Und einen gut Teil der Dollarmillionen - da sind sich westdeutsche Ermittlungsbehörden ganz sicher - hat Richard Müller aus Jesteburg kassiert.

Über den Umfang von Müllers Transaktionen haben Bundesnachrichtendienst, CIA und der britische Geheimdienst MI-5 nur grobe Vorstellungen. In acht Jahren gingen den amerikanischen und den westeuropäischen Zollbehörden, soweit bekannt wurde, nur drei Müller-Sendungen ins Netz. Dutzende, wenn nicht Hunderte aber kamen durch.

Das Vertriebsschema war stets gleich. Nur die Versandwege änderten sich ständig.

Die Ware wurde von einer der zahlreichen Müllerschen Firmen beim Produzenten bestellt und dann auf einem weltweiten Zickzackkurs über Dritt-, Viert- und Fünftländer in den Ostblock geschickt. Die beliebtesten Transitländer sind Kanada (weil die Ausfuhr von US-Erzeugnissen nach Kanada nicht genehmigungspflichtig ist), die neutrale Schweiz und Südafrika mit seinen ungewöhnlich liberalen Ausfuhrbestimmungen.

Annäherungswerte über die Dimension seiner Erträge liefert lediglich die Müllersche Lebenshaltung. Soviel ist sicher: Richard Müller war der reichste Mann von Jesteburg. Und Jesteburg mit dem Millionärsvorort Bendestorf ist immerhin die mutmaßlich reichste Gemeinde ihrer Größenordnung im Hamburger Elbvorland.

In normalen Jahren, so schätzt ein Bendestorfer Exportkaufmann, der mit Müller zeitweilig befreundet war, machte er zehn bis fünfzehn Millionen Mark - und zwar netto. Und soweit sich seine Busineß-Vita rekonstruieren läßt, ist er seit etwa zehn Jahren im Geschäft.

Als Richard Müller 1976 am Jesteburger Osterberg ein bescheidenes Einfamilienhaus bezog, hatte er nicht mal Geld für Möbel. Doch dann begann sich explosionsartig rätselhafter Wohlstand um ihn auszubreiten.

Er erstand eine Traumvilla im Vorort Wiedenhof und trieb mit wahllosen Grundstückskäufen die Jesteburger Immobilienpreise in die Höhe. Weil er in Deutschland nichts Passendes für die Innenausstattung seiner Residenz am Seevenweg fand, kaufte er ein englisches Manor-Haus aus dem letzten Jahrhundert, ließ das Interieur herausreißen und in Jesteburg wieder einbauen. Und weil die Gattin das Rauschen der Buchen so liebt, ließ Müller eine ausgewachsene Blutbuche von einem schweren Lastenhubschrauber einschweben und im Garten vor seinem Haus ins Erdreich senken.

Müllers größter Stolz war das Trakehnergestüt Wiedenhof, das in seinen Glanzzeiten an die hundert edle Hengste und Stuten beherbergte. Kosten spielten keine Rolle. Einem Bauern, der sich zierte, ihm sein Lieblingspferd zu verkaufen, legte er einen Blankoscheck auf den Tisch und forderte ihn auf, eine »angemessene Summe« einzusetzen. Der Bauer gehorchte. Müller bekam das Pferd.

Doch all die noblen Rösser - ebenso wie Villa und Wagenpark (Bentley, Jaguar, Porsche und Ferrari) - waren nichts als Ausdruck des Müllerschen Imponiergehabes. Nur seine Frau und sein Gestütsleiter wußten, daß er nicht reiten konnte.

Aber er konnte auch nicht segeln und besaß trotzdem eine der prachtvollsten Segeljachten zwischen Kiel und Stockholm, den Dreimaster »Tonga«, den er von Fürst Rainier von Monaco gekauft

hatte. In Jesteburg erzählte Müller, er habe für die »Tonga« eigens eine Insel vor der schwedischen Küste als Liegeplatz gekauft.

Wahr ist immerhin, daß die »Tonga« oft monatelang vor der Insel Björnö lag - in Sichtweite der in die Felsen geschlagenen Marinebasis Muskö, vor der letztes Jahr die schwedische Marine Jagd auf fremde Unterseeboote machte.

Ehefrau Sieglinde zeigte gleichfalls keine Neigung, den neuen Reichtum zu verschleiern. Sie begann, teure Pelze zu horten, und fand Gefallen daran, ihre Brötchen beim Bäcker mit Tausendmarkscheinen zu bezahlen.

Wenn Müllers Ferien machten, war stets auch das Personal dabei. Einmal mieteten sie an der Cote d''Azur eine 24-Meter-Motor-Jacht mit Parkdeck für den Porsche. Ein andermal charterten sie für den Safari-Urlaub in Kenia die gesamte erste Klasse im Lufthansa-Jumbo. Vom Urlaub auf den Seychellen waren sie so begeistert, daß sie sich gleich ein Haus mit Palmengrundstück auf der Hauptinsel Mahe kauften.

Richard Müller - gebürtiger Berliner mit Schweizer Paß - baute die gegenüber Zugereisten sonst durchaus intakte Heidjer Mißtrauensschwelle durch verschwenderisches Mäzenatentum zielstrebig ab. Er verdiente sein Geld mit leichter Hand. Aber er teilte es auch mit leichter Hand wieder aus. Einer Kinderschar, die nach alter Heidjer Sitte zu Pfingsten singend und sammelnd durchs Dorf zog, warf er leger ein Bündel Fünfziger über den Zaun. Für die Angstellten gab''s zu Weihnachten 5000 Mark in bar oder auch mal einen neuen »Golf« als Gratifikation. Bei den örtlichen VW-Händlern hat Müller in den letzten Jahren sieben Automobile als Präsente fürs Personal erstanden.

Die Philanthropen vom Waldorf-Schulverein sind heute noch voll des Lobes über Richard Müllers Spendabilität. Für einen Neubau der Rudolf-Steiner-Schule in Hamburg-Harburg stiftete er vor Jahren 1,6 Millionen Mark. Auf der Einweihungsfeier wäre es um ein Haar zum Eklat gekommen, als einer der Festgäste halblaut, doch vernehmlich frotzelte: »Der alte Steiner würde sich im Grab rumdrehen, wenn er wüßte, daß die Spende aus Moskau kommt.«

Daß »Moneten-Müller«, wie sie ihn nannten, auf unredliche Weise an seine Millionen gelangt sein könnte, das kam den Jesteburgern nicht in den Sinn. Müllers Ostkontakte schienen nicht verdächtig - schon deshalb, weil er gar keinen Hehl daraus machte. Er hatte häufig Besuch aus Moskau, Budapest, Prag und Ost-Berlin, erzählte im geselligen Kreis gern von seinen zahlreichen Ostblockreisen, von seiner Beteiligung an einer ungarischen Computerfirma und von seiner Wohnung am Visegradenz, Nummer 46, in Budapest.

Daß der Neu-Jesteburger jahrelang Autos mit Schweizer Nummern fuhr und daß seine Angestellten ihre Gehälter aus der Schweiz bezogen, fanden weder Finanzbehörden noch Gemeindeverwaltung suspekt. Eine Gewerbesteuerforderung der Gemeinde Harmstorf an Müllers Techimex in Höhe von 40 000 Mark wurde vom Finanzamt Buchholz gestrichen. Begründung: Die Techimex arbeite seit Jahren ohne Gewinn. Bürgermeister Amandus Kaninck: »Der lebte nur vom Verlust.«

Man war freilich überrascht, als sich Müller im Dezember letzten Jahres etwas übereilt nach Südafrika abmeldete. Was die Heidjer nicht wußten: Der Entschluß zum Umzug fiel unmittelbar nach der Liquidation der Gerland Heimorgelwerke in Mölln (Holstein), die Müller ein halbes Jahr zuvor als Verwaltungsrat der schweizerischen »Dan Control« mit einer halben Million vor der Pleite gerettet hatte.

Die Gerland-Gesellschafter Roland Waidhas und Werner Schmidt hatten sich mit ihrem Retter überworfen, weil Müller das Sortiment der Firma vereinbarungswidrig umgekrempelt hatte. Der neue Teilhaber hatte die Orgeln beiseite räumen und Großcomputer an ihre Stelle rücken lassen. Die Rechner - meist Marke Digital Equipment - wurden in neutrale Kisten verpackt und nachts auf Laster der Ost-Speditionen Deutrans und Hungarocamion verladen.

Innerhalb weniger Wochen wurde elektronisches Gerät im Werte von mehreren Millionen nach Osten verfrachtet. Waidhas notierte die Zulassungsnummern von fünf Lastzügen, die von Mölln aus in Richtung Helmstedt rollten.

Absender waren laut Frachtpapieren, die Waidhas und seine Freunde heimlich photokopierten, die Firmen Deutsche Integrated Time (Inhaber: Richard Müller), Techimex (Inhaber: Richard Müller), beide ansässig in Harmstorf, und Semitronics (Inhaber: Richard Müller) in Zug. Empfänger waren: Mahart Kft., Punto Franco u. Budapest, und V/O Technopromimport, 117330 Moskau, Mosfilmovskaja 35.

Herkunft und Machart der Handelsware aus dem Möllner Orgelwerk läßt an

ihrem präsumtiven Verwendungszweck wenig Zweifel: Klimaanlagen für Großcomputer, EDV-Zubehör aller Art, vor allem Elektronenrechner vom Typ VAX 780/11, die - ähnlich wie die letzten Monat in Hamburg und Hälsingborg sichergestellten Rechner - vorwiegend militärischen Zwecken dienen.

Richard Müller hat Südafrika Ende September mit einem Direktflug von Durban nach London verlassen und ist seitdem untergetaucht. Man hat lediglich vernommen, daß er inzwischen im neutralen Schweden eine befristete Aufenthaltserlaubnis erhalten hat. Kontakt zur Außenwelt hält er telephonisch über seinen Hamburger Steuerberater Axel Giza ("Nach meinen Akten war Richard absolut sauber"), der ihn auch in steuerlichen Angelegenheiten berät.

Der - auf Frau Sieglinde eingetragene - Jesteburger Besitz wird einstweilen von Müllers Gestütsleiter verwaltet. Der tüchtige Mitarbeiter hat die meisten von Müllers Trakehnern verkauft - zum Teil an Pferdeliebhaber, zum Teil an Roßschlächter. Auch Haus und Hof sind jetzt zu verkaufen. Verhandlungsbasis: neun Millionen. Die Jacht »Tonga« soll offenbar fürs erste im Familienbesitz bleiben. Müller hat gegen Vorkasse in der Neustädter Ancora-Werft einen Liegeplatz für die Dauer von drei Jahren gepachtet.

Obwohl in Kapstadt noch kein Haftbefehl gegen ihn vorliegt, hat Müller Grund, auch Südafrika bis auf weiteres zu meiden. Die Staatsanwaltschaft möchte ihn zur Sache des ehemaligen Werftkommandanten der Marinebasis Simonstown, Dieter Gerhardt, einvernehmen. Gerhardt hat sich vor einem Gericht am Kap als mutmaßlicher Superspion des sowjetischen Geheimdienstes KGB zu verantworten. Die Londoner »Sunday Times« bezichtigte Richard Müller Mitte November sogar unverblümt der Spionage für die Sowjet-Union.

Daß Richard Müller über den Rahmen seines Exportgeschäfts hinaus für die Sowjets tätig war, ist unbewiesen. Allerdings war er mit Gerhardt jahrelang gut befreundet. Und wenn Müller in Moskau auftauchte, so berichtet der amerikanische Geschäftsmann John Marshall vor einer Untersuchungskommission des US-Senats, »dann rollten die Sowjets den roten Teppich aus«. Marshall: »Er war offensichtlich jemand, den sie kultivieren wollten.«

Juristisch ist der Fall Müller beim gegenwärtigen Stand der Ermittlungen schwer faßbar. Die Delikte, für die sich Müller in den Vereinigten Staaten zu verantworten hat, rechtfertigen keine Auslieferung. Und die im Hamburger Hafen beschlagnahmte Elektronik war - zollamtlich gesehen - Transitware, mithin strafrechtlich irrelevant. Der Staatsanwalt müßte - wenn nicht mehr Beweismaterial ausgegraben wird - Müller schon nachweisen, daß er »das friedliche Zusammenleben der Völker« beeinträchtigt hat. Nur so könnte er eine Haftstrafe erwirken.

Wenn er tatsächlich nur illegal mit Computern gehandelt hat, dann gibt es für Richard Müller eigentlich wenig Gründe, untergetaucht zu bleiben. Dann kommt er, sofern er nicht zu strenge Richter findet, mit ein, zwei Jahren Gefängnis auf Bewährung davon, vielleicht auch mit weniger. Geheimdienstliche Tätigkeit freilich wird wesentlich härter bestraft.

Frau Sieglinde hält die Fahndung nach ihrem Mann für eine abgefeimte Intrige der Geheimdienste. Von heimlichen Computergeschäften weiß sie nicht. Ihr Mann, so sagt sie, habe stets anderen Menschen helfen wollen, in aller Regel aber nur Neid und Undank geerntet.

So wird es wohl auch in Südafrika gehen. Auf dem großen Weingut Buitenverwachting bei Kapstadt hatten die Müllers ihren Dienst am Menschen wiederaufgenommen, der durch den eiligen Rückzug aus der Heide unterbrochen wurde. Gleich nach dem Einzug, sagte Sieglinde Müller zum SPIEGEL, habe sie die Kinder der schwarzen Landarbeiter erst mal alle in die Badewanne gesteckt. »Für all das, was Müller hier tut«, so Farmverwalter Andre Badenhorst, »verdient er wirklich einen Orden.«

Wer gern mit den Armen teilt, darf sich natürlich auch selbst mal was gönnen. Müller erwarb das 200 Jahre alte Anwesen bereits 1980 für zwei Millionen Rand (rund fünf Millionen Mark). Der Ausbau zu einem der prachtvollsten Weingüter der Kap-Provinz hat mindestens noch einmal soviel gekostet. Auch fern der Heimat sahen die Heidjer Wohlstandsbürger keinen Anlaß zur Anonymität. An der Auffahrt zum Herrenhaus verkündet ein mehrere Quadratmeter großes Hinweisschild: »Hier entsteht eine neue Residenz für Richard Müller.«

Gleichfalls aus Südafrika zurück sind Müllers Mitarbeiter Detlef Heppner aus Raven bei Lüneburg und Kaufmann Volker Nast aus Hamburg. Sie wurden vorletzte Woche verhaftet, weil sie wesentlich am Aufbau des weltweit verschachtelten Phantomkonzerns beteiligt waren.

Heppner ist der Techniker in der Management-Troika. Er hat, bevor er zu

Müller stieß, an der Entwicklung des integrierten Feuerleitsystems für den »Leopard 2«-Panzer mitgearbeitet.

Volker Nast war am 5. Mai 1975 zusammen mit Müller und mehreren amerikanischen Geschäftspartnern in San Francisco und 1981 in Baltimore wegen Verletzung der Embargobestimmungen angeklagt worden. Die beteiligten US-Bürger wurden verurteilt. Die zwei Deutschen setzten sich rechtzeitig in die Bundesrepublik ab.

Müller und Nast waren, wie es in einem Senatsbericht vom 15. November 1982 heißt, »tief in die illegale Umleitung von US-Technologie in die Sowjet-Union verwickelt«. Sie hatten über Kanada Teile einer Fabrikationsanlage für Halbleiterelemente - Grundbausteine elektronischer Chips - aus dem Computer-Dorado Silicon Valley (Kalifornien) in die Sowjet-Union verschoben.

Die heiße Ware war von Lothar Hädicke, einem Vertreter der deutschen Honeywell-Filiale, bestellt und von den Herstellerfirmen Kaspar Electronics und II Industries über die Müllerschen Briefkastenfirmen USA Trade und Semitronics in Montreal und Semitronics in Zürich nach Moskau geliefert worden.

Die Geschäftsbeziehungen zwischen Moskau und Kalifornien rissen ab, bevor die Chips-Fabrik ihre Produktion aufnehmen konnte. Die US-Zollfahndung fing mehrere Luftfrachtkisten für Nasts Hamburger Tarnfirma Reimer Klimatechnik in Kansas City ab und schickte sie dann weiter über New Jersey, Hamburg und Amsterdam nach Moskau. Als die Empfänger die Kisten öffneten, waren keine Computerteile aus Silicon Valley mehr drin, sondern Sand aus Kansas. Hädicke wurde später in Stuttgart wegen geheimdienstlicher Tätigkeit zu vier Jahren Haft verurteilt.

Einen weiteren Coup gegen Müller führte der US-Zoll im Sommer 1980. Nach einer filmreifen Jagd, an der 18 Agenten beteiligt waren, wurde am Pan-Am-Schalter im New Yorker Kennedy-Flughafen der Nast-Mitarbeiter Rolf-Peter Herms verhaftet. In seinem Koffer fand sich ein Mikrowellen-Empfänger vom Typ MSR 903, das die Micro-Tel Corporation in Baltimore zum Abhören von Militärsatelliten sowie von »Air Force One«, der Dienst-Boeing des US-Präsidenten, konstruiert hat.

Die in Hamburg beschlagnahmten VAX-Computer trafen vergangenen Montag wieder in den Vereinigten Staaten ein. Verteidigungsminister Caspar Weinberger sprach im Gegenzug der Bonner Bundesregierung Dank dafür aus, daß sie das westliche Bündnis vor »riesigem Schaden bewahrt« habe.

Anfang des Monats kam Richard Müller kurz aus der Deckung. In einem Interview mit der Stockholmer Zeitung »Svenska Dagbladet« sagte er: »Man muß mir die Verstöße erst mal nachweisen.«

Daran wird zur Zeit gearbeitet.

In einem Atomkraftwerk bei Leningrad.

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