Zahl der Bedürftigen sprunghaft gestiegen Die Tafeln in Deutschland arbeiten am Limit

Gemüsestand einer Tafel: Mehr Kunden, weniger Spenden
Foto: Daniel Vogl / dpa»Die Lage der Tafeln in Deutschland ist so herausfordernd wie noch nie zuvor in der 30-jährigen Geschichte«, sagt der Vorsitzende des Dachverbandes der Tafeln, Jochen Brühl, in Berlin. »Wir haben mehr Kundinnen und Kunden – gleichzeitig werden weniger Lebensmittel gespendet.« Menschen in der Grundsicherung, Alleinerziehende, Rentner, Geflüchtete, Obdachlose – mehr als zwei Millionen Menschen kommen den Angaben zufolge zu den mehr als 960 Tafeln in Deutschland.
In den vergangenen Monaten ist eine neue Gruppe hinzugekommen: Immer mehr Menschen aus dem Niedriglohnsektor, die sonst immer noch knapp über die Runden gekommen seien, seien plötzlich auf die Unterstützung der Tafeln angewiesen, berichtet Brühl.
Viele schämen sich
Auch in Hamburg ist das spürbar: »Da sind Leute, die vor zwei Monaten nicht damit gerechnet haben, dass sie sich einmal bei der Tafel melden werden«, sagt der Geschäftsführer der Hamburger Tafel, Jan-Henrik Hellwege. Viele spürten Scham, zur Tafel zu gehen. »Es ist gesellschaftlich tabu, finanzielle Not zu zeigen.«
Partnereinrichtungen übernehmen in der Hansestadt die Ausgabe an die bei ihnen registrierten Bedürftigen. Fast alle 31 Lebensmittel-Ausgabestellen haben laut Hellwege einen Aufnahmestopp verhängt. Bei der Lebensmittelausgabe des Arbeiter-Samariter-Bundes in Jenfeld riefen täglich etwa fünf Menschen an, die man erst einmal vertrösten müsse, berichtet Koordinatorin Daniela Skaza.
Maike Funk kommt schon seit drei Jahren zu dieser Ausgabestelle. Dieser Schritt sei ihr anfangs sehr schwergefallen, erinnert sich die Frührentnerin. Am Eingang zeigt sie einen Nachweis vor und zahlt zwei Euro als kleinen Betrag für die Nebenkosten der Aktion. Die Ehrenamtlichen versuchen für die Bedürftigen, die sie Kunden nennen, eine Atmosphäre wie in einem Geschäft zu schaffen.
»Das Wichtigste ist es, den Menschen frische Lebensmittel zur Verfügung zu stellen, damit sie richtig kochen können«, erklärt Tafel-Geschäftsführer Hellwege. Im Lager der Hamburger Zentrale stapeln sich Lebensmittel, die Händler und Hersteller abgegeben haben. Doch es sind weniger als in früheren Zeiten.
»Schon länger bemüht sich der Handel durch verschiedene Strategien, weniger zu verschwenden«, sagt Brühl vom Dachverband der Tafeln. »Durch den Krieg sind zudem Logistikketten gestört. Auch deshalb gibt es weniger Überschüsse.«
Die Menge der Lebensmittel, die an von Armut Betroffene ausgegeben wird, hat nach Angaben des Dachverbandes deshalb vielerorts reduziert werden müssen. Zudem seien die Tafeln selbst von den Preissteigerungen etwa für Energie und Transport betroffen. »Die Tafeln sind am Limit«, sagt Brühl. Bereits seit Beginn der Pandemie müssten die Ehrenamtlichen viel leisten – oft spüre man bei den Helfern Erschöpfung. Brühl betont, er sei mit Blick auf die kommenden Monate äußerst besorgt.
Viele Tafeln bieten weit mehr als eine Lebensmittelausgabe – etwa warmes Mittagessen, Bringdienste oder Kleiderkammern. »Die Arbeit der Tafel überall in Deutschland verdient unser aller Respekt und Anerkennung«, sagt die Vorstandsvorsitzende des Sozialverbandes Deutschland, Michaela Engelmeier. »Denn so traurig es ist: In Zeiten von Rekordinflation und Preisexplosion können sich eben viele nicht einmal mehr das Essen leisten.« Aber das ehrenamtliche Engagement der Tafeln dürfe bei Politik und Behörden nicht vorab als verlässliche Größe mit eingerechnet und damit Verantwortung abgegeben werden.