»Die warten auf Konkurse«
Der Geruch frischer Farbe und neuer Möbel ist inzwischen verflogen. Die Büros im achten Stock des Hauses der Elektrotechnik am Ost-Berliner Alexanderplatz, seit fünf Wochen Sitz der Treuhandanstalt, wirken bewohnt. Geschäftig wie in jedem Verwaltungstrakt eines Großunternehmens laufen Manager und Sekretärinnen über die langen, mit grauem Teppichboden ausgelegten Gänge.
Hausherr Reiner Gohlke, 56, Anfang August noch erkennbar irritiert und überwältigt von der neuen Aufgabe, springt zwischen den Zimmern hin und her. Der ehemalige Bundesbahn-Chef ist wieder ganz der alte: überall präsent, immer einen Vorschlag parat, um keine Entscheidung verlegen - so als gäbe es den draußen sich vollziehenden Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft nicht. Die Zahlen und Fakten, auf denen die erstaunliche Selbstsicherheit ruht, spult der notorische Optimist Gohlke nur zu gern ab: In den vergangenen Tagen hat er problemlos die Liquiditätskredite für August abgewickelt, er hat 17 Firmen für 70 Millionen Mark abgestoßen, hat einen Teil der DDR-Gasversorgung für 350 Millionen Mark an die Ruhrgas verkauft, und er ist dabei, 120 weitere Firmen zu vermarkten, die ihm knapp eine halbe Milliarde Mark in die Kasse bringen.
Kommt das Wirtschaftswunder DDR nun doch ganz schnell, quasi mit sechsbis achtwöchiger Verzögerung? Wer den Treuhand-Chef von seinen Verkaufserfolgen reden hört, könnte es fast glauben. Mit Worten war Reiner Gohlke schon zu seinen Bahn-Zeiten sehr schnell; aber diesmal, bei der Sanierung der kaputten DDR, fallen die Taten noch schwerer als früher.
Nach wie vor scheint die Aufgabe, vor der Gohlke steht, nahezu unlösbar: 8000 Betriebe sind dem Super-Unternehmen Treuhandanstalt unterstellt - Betriebe, die zu einem Großteil ohne Kundschaft orientierungslos vor sich hin werkeln; Betriebe, die unverkäufliche Altlasten mitschleppen und kaum ein wettbewerbsfähiges Produkt im Katalog haben.
Das alles kann Gohlke offenbar nicht erschüttern. Die Sprüche von Ende Juli ("Es gibt kein Beispiel für das, was wir tun müssen, und wir haben nicht genug Zeit") sind vergessen. Reiner Maria Gohlke ist wieder obenauf, spielt seine Lieblingsrolle des Pack-an-Typs.
»Jetzt kann es richtig losgehen«, verkündet der Treuhand-Chef. Und er liefert auch eine Erklärung für den abrupten Stimmungsumschwung: »Zuerst hat uns das tägliche Krisenmanagement beinahe aufgefressen, jetzt können wir endlich mit der Umstrukturierung der DDR-Wirtschaft beginnen.«
Ironie des Schicksals: Genau zu dem Zeitpunkt, da Gohlke sich und seine Truppe in Schwung zu bringen versucht, wird die Kritik an der Treuhandanstalt massiver und härter. »Viel zu träge«, urteilt Hans Karl Schneider, Vorsitzender des bundesdeutschen Sachverständigenrats. Westdeutsche Unternehmerverbände beklagen fehlende Unterstützung und langwierige Bearbeitungen ihrer Anträge durch Treuhand-Mitarbeiter; die Welt spekuliert über alten SED-Filz in der Mannschaft.
Das alles ist für Gohlke und seine Helfer nichts weiter als Interessenten-Geschrei. »Gerade weil wir die Organisation jetzt nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen führen«, meint Otto Gellert, 61, stellvertretender Verwaltungsratsvorsitzender der Treuhand, »ärgern sich jetzt eine Reihe von Unternehmen und Banken über uns.« Diese Firmen, so der rastlose Hamburger Unternehmensberater, erlebten die Treuhand plötzlich als Konkurrenten und nicht, wie erhofft, als willfähriges Service-Unternehmen.
So schlecht die DDR-Unternehmen auch dastehen, so gering bislang das westliche Interesse am Einstieg in Ostfirmen ist (siehe Seite 75) - die wenigen Unternehmen, für die Nachfrage besteht, wollen die neuen Treuhand-Anführer wenigstens zu marktgerechten Preisen verkaufen. Gohlke: »Wir wollen hier nichts verschenken.«
Der Treuhand-Chef hat, als eine seiner ersten Taten, alle kurz vor dem Abschluß stehenden Verkaufsverhandlungen wieder aufgerollt, neue Wert-Gutachten angefordert und weitere Interessenten, auch im Ausland, angeschrieben. Das verdroß jene, die schon zuversichtlich waren, ein Schnäppchen aus der Konkursmasse der DDR zu ergattern.
Beispielsweise die Manager der bundesdeutschen Steigenberger-Gruppe, die bei den 34 Interhotels einsteigen wollen. Statt schnell auf ein vorliegendes Pachtangebot einzugehen, ließ Gohlke die Steigenberger-Gruppe erst mal abblitzen. Besser sei es doch, argumentieren die Treuhand-Manager, mit Kaufinteressenten zu verhandeln, die zwei bis vier Milliarden Mark für die Hotelkette bezahlen würden.
Andere Unternehmen wehren sich mit einstweiligen Verfügungen gegen Gohlkes Entscheidungen. Die Wiesbadener Linde AG will gerichtlich verhindern, daß die DDR-Firma Tega, wie von der Treuhandanstalt vorgesehen, an das französische Unternehmen L'Air Liquide SA. geht. Linde, so argumentiert das Unternehmen, habe seit Dezember schon mehrere Millionen Mark in die Modernisierung des DDR-Betriebs gesteckt. Der von der Treuhand eingesetzte Aufsichtsrat habe der Übernahme zugestimmt.
»Schwere Verfahrensverstöße« und »Manipulationen« wirft die Hamburger Alsen-Breitenburg Zement- und Kalkwerke GmbH der Treuhandanstalt vor. Der Konkurrent Readymix AG sei beim Bieterverfahren um die DDR-Firma Rüdersdorfer Zement einseitig begünstigt worden. Das Ost-Berliner Stadtbezirksgericht Mitte verbot am Freitag der Treuhand deshalb, Anteile des DDR-Unternehmens zu verkaufen.
Auf die Strategie, DDR-Vermögen etwas teurer zu machen, hatte sich das neue Führungsteam gleich zu Beginn verständigt. »Die Treuhandanstalt steht in einem Zielkonflikt«, philosophierte Detlev Karsten Rohwedder, 57, der Verwaltungsratschef, im Juli. »Entweder wir arbeiten schnell, oder wir arbeiten gut.« Die Spitze entschied sich für gut.
Die aus der Bundesrepublik importierten Manager nutzen ihre alten Beziehungen. Sie knüpfen Kontakte zu ausländischen Investoren und versuchen, den westdeutschen Interessenten, so wenige es auch sind, unliebsame Konkurrenz zu bescheren.
»Am aktivsten sind derzeit die französischen Unternehmen«, berichtet Wolfram Krause, Mitglied des Treuhand-Vorstands, »aber auch die Italiener und Skandinavier sind munter geworden, und sogar die Japaner zeigen Interesse.«
Viel draus geworden ist allerdings noch nicht. Angesichts der vielfältigen Unwägbarkeiten halten sich Ausländer wie Deutsche nach wie vor zurück.
Gohlke und Helfer Gellert tun alles, die vorsichtigen Unternehmensführer (Gellert: »verwöhnt und risikoscheu") mit schönen Verträgen ins östliche Deutschland zu locken. »Wir machen Verträge«, wirbt Gohlke, »in denen wir alle Unsicherheiten und Risiken auf unsere Schultern nehmen.« Ob es um ungeklärte Eigentumsverhältnisse geht oder um giftige Altlasten - die Treuhandanstalt befreit den Investor von vielen Risiken.
»Es gibt jetzt wirklich keine Entschuldigung mehr dafür, nicht in der DDR zu investieren«, ist Gohlkes Fazit. »Ich gebe jedem die Garantie, daß er sein Geld nicht wegen unklarer Rahmenbedingungen verliert.«
Ein Profi wie Gohlke kennt die vielen Tricks, mit denen sich die Herrschaften im kapitalistischen Monopoly auszumanövrieren versuchen. Als Bahn-Chef hat der frühere IBM-Manager die Mentalitäten von Beamten wie von Managern studieren können - Erfahrungen, die ihm jetzt in einer Einrichtung zugute kommen, die wiederum halb Unternehmen, halb Behörde ist.
Überzeugend allerdings wirkt der Chef-Verkäufer der DDR-Wirtschaft keineswegs immer. Pausenlos empfängt Gohlke in seinem Büro Firmenvertreter und Unternehmensberater. Sie erleben einen Gesprächspartner, der sich mitunter nicht einmal an den Grund des Gesprächs erinnert.
Auch bekannte DDR-Firmen sind ihm nicht immer geläufig. Der Treuhand-Chef verwechselt oft selbst die wenigen Betriebe, die noch Überlebenschancen haben. Er habe selten einen so überforderten Menschen gesehen, erzählt ein Teilnehmer nach einem solchen Treffen fassungslos.
Dabei ist die Behauptung gegenüber ausgebufften Kauf-Interessenten nur ein Teil von Gohlkes Geschäft, zumal der leichtere. Ungleich schwerer wird es, die in wilder Schußfahrt nach unten befindlichen DDR-Unternehmen einigermaßen rentabel und überlebensfähig zu machen.
Vergessen hat Gohlke sein Versprechen von Ende Juli, bereits bei den Lohnzahlungen für August den hoffnungslosen Fällen, also den Firmen ohne jede Chance, weitere Gelder zu verweigern. Mit solchen Todesurteilen tun sich die Treuhand-Manager schwer. Sie verstehen sich als Sanierer und Wiederaufbauer, nicht als Liquidierer von Unternehmen und Verursacher von Massenarbeitslosigkeit. Das Dilemma sieht Gohlke durchaus. »Wenn nicht gestorben wird, glaubt euch keiner den Wirtschaftsumbau, sagen uns die Bonner«, berichtet Gohlke und schimpft auf die FDP, die immer wieder von der Notwendigkeit »schöpferischer Zerstörung« spricht. »Die warten auf die Vorzeige-Konkurse«, meint Gohlke.
Noch kann der Treuhand-Vorsteher sich vor den unausweichlichen Betriebsstillegungen drücken, weil die von Bonn finanzierte soziale Abfederung die Probleme verschleiert. Immer mehr Betriebsleiter, die für ihr Unternehmen keine Zukunft sehen und für ihre Mitarbeiter keine Arbeit haben, schicken die Belegschaft erst einmal in »Kurzarbeit bei null Beschäftigung« (Arbeitsministerin Regine Hildebrandt). Das belastet zwar die sozialen Sicherungssysteme, entlastet aber die Politiker von sozialen Spannungen und erspart der Treuhand zunächst brutale Entscheidungen.
Noch immer haben deren Manager gewaltige Probleme, einen Überblick über die Ost-Wirtschaft zu gewinnen. Betriebe und Kombinate erleichtern ihnen nicht gerade ihre Arbeit. Viele Betriebsleiter sehen in jeder Aktion der Berliner Behörde nur einen unangebrachten Eingriff in ihre eigenen Kompetenzen.
Der Chef eines Schweriner Unternehmens, das jeden Monat mit mehr als 400 000 Mark Verlust arbeitet, droht frech: »Wenn die von der Treuhand in unseren Betrieb kommen, jagen wir sie mit Knüppeln wieder hinaus.«
Um näher an die Firmen heranzukommen, haben die neuen Treuhand-Chefs die Behörde in etliche Einheiten aufgeteilt. Den neuen Unterbau bilden von Ende August an vier Treuhand-Aktiengesellschaften, die branchenmäßig gegliedert sind. Zugleich rückt ein ganzer Schub westdeutscher Profis an die Schaltstellen der DDR-Wirtschaft.
Der Personalwechsel war längst überfällig. Gohlke-Vorgänger Peter Moreth hatte konsequent eine Versorgungspolitik zugunsten verdienter Genossen und Bürokraten betrieben.
Mehr als 1600 »Beauftragte der Treuhandanstalt«, die im Frühjahr auf Aufsichtsratsposten und in Geschäftsführungen geschoben worden waren, wurden zum 1. August »entpflichtet«. Auch die in den 15 Bezirksstellen der Treuhand untergekrochenen Planwirtschaftler sind, nachdem die Büros aufgelöst wurden, ohne Arbeit und Einfluß.
Gohlke, der Workaholic, tut, was er kann - und notfalls auch ein bißchen mehr. Mit dem statusbewußten Verwaltungsratschef Rohwedder hat er sich schon etliche Kompetenzgefechte geliefert.
Doch sowenig die Sanierung der Bahn allein von Gohlkes Manager-Geschick abhing, sowenig wird die Genesung der ostdeutschen Unternehmen von seinem beeindruckenden Einsatz bestimmt - allzu viele unbeeinflußbare Unbekannte wirken mit.
Die zwangsläufige Frage, wie lange die Umstrukturierung der DDR-Wirtschaft dauert, hört in der Treuhandanstalt niemand gern. »Viele Leute erwarten Wunder«, wehrt Gohlke die kurzfristigen Erwartungen ab, »aber selbst bei uns hat die Sanierung der AEG fünf Jahre gedauert.«
Die Vorstände haben erst mal Verträge für vier Jahre bekommen.