»Die Wirtschaft wird erwürgt«
VladImir Jirka, 40, hatte sich niemals träumen lassen, daß es so einfach ist, Kapitalist zu werden. »Wir sind vom eigenen Erfolg überrumpelt worden«, freut sich der Prager Kaufmann.
Noch zu Beginn des vergangenen Jahres war der rotblonde Hüne Verkäufer in einer staatlichen Handelsfirma für Elektronik. Heute besitzt er zusammen mit seinem Partner Karel Kucera, 34, das erste private Warenhaus in der Tschechoslowakei.
Seit Eröffnung von Jirkas und Kuceras »Uni market« Anfang Dezember drängeln sich dort von früh bis spät die Kunden. Westdeutsche Margarine, holländisches Pflanzenöl oder koreanische Fernseher gehen reißend weg.
Schon ist die 680 Quadratmeter große Verkaufsfläche des Ladens zu eng für weiteres Wachstum. Die beiden Geschäftsinhaber, vom Expansionsfieber echter Kapitalisten infiziert, planen zehn weitere Filialen und wollen bis zu zwei Milliarden Kronen in den Aufbau einer Lebensmittel-Kette investieren.
Die beiden Warenhausbesitzer gehören zu den erfolgreichsten Existenzgründern in der CSFR. Mehrere hunderttausend Bürger des Landes haben inzwischen ein privates Gewerbe angemeldet.
Die tschechoslowakische Regierung setzt auf Marktwirtschaft. Sie will die einst total verstaatlichte Kommandowirtschaft in ein Konkurrenzsystem mit Privateigentum an den Produktionsmitteln umbauen.
Doch die meisten Neu-Unternehmer treiben nur einen kleinen, sehr bescheidenen Handel, fahren Taxi, bieten ihre Dienste als Handwerker an oder schlagen sich mit sonstigem Kleingewerbe durch. Sehr oft wagen sie es noch nicht einmal, ihren Arbeitsplatz in einem Staatsbetrieb aufzugeben. Sie sind nur Teilzeitunternehmer.
Für ehrgeizigere private Pläne fehlt meist das Geld. In einem Land, in dem jeder Werktätige etwa gleich schlecht besoldet wurde, konnten sich nur Devisenschieber und korrupte Führungskader finanzielle Polster schaffen.
Fast noch knapper als Kapital ist ein anderes unerläßliches Gut: wirtschaftlicher Wagemut. Über vier Jahrzehnte war die Bevölkerung in fast allen Lebensbereichen gegängelt worden. Nun soll sie plötzlich selbständig handeln und Risiken eingehen.
Chancen für freies Unternehmertum gibt es durchaus - das zeigt das Beispiel der Warenhausgründer Jirka und Kucera. Denn die Wirtschaft des Landes wird immer noch von den Staatsunternehmen dominiert. Und die sind so schwerfällig, so schlecht organisiert und personell derart überbesetzt, daß tüchtige Privatunternehmer ihnen klar überlegen sind.
Die Uni-market-Inhaber können es sich leisten, ihren Angestellten sehr viel höhere Löhne zu zahlen und ihre Ware deutlich billiger anzubieten, als dies die Staatsbetriebe tun. Es bleibt dennoch genügend Geld in der Kasse übrig.
Kein allumfassender staatlicher Plan setzt mehr fest, wer was mit welchen Betriebsmitteln produziert und zu welchen Preisen er es dann weiterzureichen hat. Aber das neue System funktioniert noch nicht. Es gibt noch zu viele Monopole.
Das zeigt sich vor allem bei den Preisen. Nachdem die Regierung Anfang des Jahres fast alle Preiskontrollen aufgehoben hatte, sind die Lebenshaltungskosten um etwa 50 Prozent gestiegen.
Insbesondere Nahrungsmittel verteuerten sich sehr stark. Die Hausfrauen in Prag, Brünn oder Bratislawa hatten Preissprünge von über 60 Prozent für Lebensmittel hinzunehmen.
Zu einem Großteil war dieser Inflationsruck unvermeidlich. Denn Finanzminister Vaclav Klaus, 49, der Chefarchitekt des ökonomischen Umbaus in der Tschechoslowakei, baut die Milliardensubventionen ab, mit denen die kommunistischen Vorgänger die Preise vieler Waren des täglichen Bedarfs künstlich niedrig gehalten hatten.
Bis April werde die Inflation auf 25 Prozent ansteigen, hatte das Finanzministerium daher vorausgesagt. Doch vor allem der Handel nutzte seine Monopolstellung zu weit kräftigeren Preisaufschlägen aus.
»Wir haben kein Konkurrenzmilieu«, klagt Karel Kouba, Ökonom am Prager Institut für Prognostik, »der Verbraucher ist den Monopolen ausgeliefert.«
Chefreformer Klaus hatte im vergangenen Sommer noch versichert, er werde es zu verhindern wissen, daß sein Land »ein Traum für Anbieter« werde. Ihn schreckte das Beispiel des polnischen Finanzministers Leszek Balcerowicz. Der hatte schon Anfang 1990 die Erfahrung gemacht, daß eine Freigabe der Preise in einer noch nicht entflochtenen und privatisierten Wirtschaft zu einem gewaltigen Inflationsstoß führt.
Klaus wollte seine Reformschritte besser aufeinander abstimmen. Die Freigabe der Preise und die Zerschlagung der Monopole sollten möglichst gleichzeitig durchgezogen werden.
Doch in der politischen Praxis kam der gelernte Wirtschafswissenschaftler mit seinen Umbauplänen für die tschechoslowakische Wirtschaft keineswegs so glatt voran, wie er sich das erhofft hatte.
Im Bürgerforum, dem einstigen Sammelbecken der demokratischen Kräfte in der CSFR, mußte sich der konservativ-liberale Ökonom mit einem linken Flügel auseinandersetzen. Den Klaus-Kritikern waren die Pläne des Finanzministers zu radikal, zu unsozial. Erst nach langwierigen Debatten konnte Klaus sich durchsetzen.
Noch mehr Zeit ging bei dem Kompetenzgerangel zwischen den beiden größten Volksgruppen im Staate, zwischen Tschechen und Slowaken, verloren. Die wirtschaftlich und zahlenmäßig schwächeren Slowaken fühlen sich von den Tschechen bevormundet, sie drängen auf größtmögliche politische und wirtschaftliche Autonomie. Eine Gruppe »unabhängiger« slowakischer Ökonomen wirbt mit dem Plan für eine gedämpfte Wirtschaftsreform.
Erst im September 1990, rund zehn Monate nach dem politischen Umsturz in Prag, erhielt Klaus die Zustimmung des Bundesparlaments für sein »Szenario der Wirtschaftsreform«. Bei der Verabschiedung der einzelnen Privatisierungsgesetze kam es dann zu weiteren beträchtlichen Verzögerungen.
Ursprünglich hatte die Regierung mit der Privatisierung kleiner Handels- und Dienstleistungsbetriebe schon im vergangenen Herbst, also noch vor der Freigabe der Preise, beginnen wollen. Aber die im Gesetz zur »Kleinen Privatisierung« geregelte Überleitung staatlicher Läden, Hotels, Gaststätten, Werkstätten und ähnlicher kleiner Betriebe in Privathand lief dann erst Ende Januar an.
Seither finden überall im Lande Auktionen statt. Etwa 1000 Obst- und Gemüseläden, Elektrogeschäfte oder Restaurants wurden inzwischen per Hammerschlag vom Sozialismus in den Kapitalismus befördert. Doch es wird noch mindestens anderthalb Jahre dauern, bis die Auktionatoren die über 100 000 Kleinbetriebe verscherbelt haben. Damit es schneller geht, werden seit einigen Wochen täglich mehrere Angebote im englischsprachigen Nachrichtendienst CTK-Ekoservice ausgeschrieben.
Die Versteigerungen brachten oft irrwitzig hohe Verkaufserlöse. Etliche Objekte gingen zum 60- bis 80fachen des Mindestgebots oder zu noch höheren Preisen weg.
So erhielt der siegreiche Bewerber für einen Tabakladen in Bratislawa bei einer Auktion im vergangenen Monat den Zuschlag erst bei 1,3 Millionen Kronen (70 000 Mark). Die für die Vorbereitung der Auktion zuständige Kommission hatte das Geschäft auf nur 6000 Kronen taxiert.
Bei einem Einkommen von etwa 3500 Kronen (knapp 200 Mark) monatlich haben Normalverdiener nicht die geringste Chance, soviel Geld aufzutreiben. Die meisten hohen Versteigerungserlöse können deshalb nur aus dunklen Kanälen stammen.
Ausländer dürfen ein Objekt erst dann übernehmen, wenn sich kein tschechoslowakischer Käufer findet. Doch sie schicken einfach Strohmänner vor. Und einheimische Schieber, die durch Schwarzmarktgeschäfte reich geworden sind, nutzen die Gelegenheit zum Waschen ihres schmutzigen Geldes.
Vor einer Versteigerung müssen zunächst die früheren Eigentumsverhältnisse der Auktionsobjekte überprüft werden. Als bislang einziger unter den vormals kommunistischen Staaten hat sich die Tschechoslowakei nämlich entschlossen, verstaatlichtes Vermögen an die früheren Eigentümer oder deren Erben zurückzugeben.
Jeder Bürger des Landes, der bis Ende September dieses Jahres berechtigte Ansprüche geltend macht, wird sein früheres Eigentum wieder erhalten. Wenn dies nicht mehr möglich ist, wird er entschädigt. Die Regierung schätzt, daß auf diese Weise bis zu zehn Prozent allen Staatseigentums in Privathand übergehen wird.
Bereits in Privatbesitz ist beispielsweise eine 1949 enteignete Bäckerei im Nordosten Prags. Vor einigen Monaten erhielt Jaroslav Mervart, 55, den Betrieb seines verstorbenen Vaters zugesprochen.
Mervart selbst arbeitet weiter als Computerexperte in einem Staatsbetrieb. Das Geschäft wird von seiner Frau Daniela, 43, einer ehemaligen Lebensmittelverkäuferin, geleitet.
Mit noch sehr viel größerer Verspätung als die »Kleine Privatisierung« wird die »Große Privatisierung« starten: die Überführung von 4500 großen Staatsbetrieben in Privateigentum.
Zunächst sollen allzu riesige Kombinate entflochten und dann alle Unternehmen in Kapitalgesellschaften nach westlichem Vorbild umgewandelt werden. Die Aktien dieser Firmen werden in- und ausländischen Investoren angeboten, die, anders als bei der »Kleinen Privatisierung«, von Anfang an gleichgestellt sind.
Die Folgen sind vorhersehbar. Kapitalkräftige Konzerne aus dem Westen werden sich die besten Unternehmen in jenen Branchen schnappen, in denen die Tschechoslowakei relativ leistungsfähig ist: Glas, Brauereien, Autos, Schuhe und Maschinenbau.
Zwei westeuropäische Konzerne haben das bereits vorexerziert. Im Wettstreit mit fünf anderen westlichen Konkurrenten sicherte sich der von Japanern kontrollierte belgische Glashersteller Glaverbel die Kontrolle über die Flachglasproduktion der Staatsholding Sklo Union im nordböhmischen Teplice. Und gegen den heftigen Widerstand der West-Konkurrenten Renault und Volvo erhielt VW den Zuschlag für die Mehrheit des Pkw-Herstellers Skoda in Mlada Boleslav nahe Prag. Die Wolfsburger wollen zudem den slowakischen Lkw- und Motorenhersteller BAZ in Bratislawa in ihr Reich eingliedern.
Die Wirtschaftsreformer hoffen, daß den großen tschechoslowakischen Unternehmen durch das ausländische Kapital die Wiedereingliederung in westliche Märkte erleichtert wird. Notgedrungen nehmen sie in Kauf, daß es gerade die nationalen Paradeunternehmen sind, die unter ausländische Kontrolle geraten.
»Warum sollten wir Angst vor einem Ausverkauf an Fremde haben«, meint Jaroslav Muron, stellvertretender Minister des Prager Privatisierungsministeriums, »die Fabriken werden doch nicht abgebaut und ins Ausland verfrachtet - die bleiben ja alle hier.«
Doch Klaus und seine Reformertruppe wollen auch den Werktätigen im eigenen Land die Chance geben, Aktionär zu werden. Sie haben sich eine Methode einfallen lassen, die in der wirtschaftspolitischen Praxis noch nirgendwo getestet worden ist: Investmentgutscheine für das ganze Volk.
Jeder Staatsbürger über 18 Jahre hat das Recht, ein Kuponheft mit 1000 Investmentpunkten zum Preis von insgesamt 2000 Kronen (etwa 110 Mark) zu kaufen. Die Gutscheine kann er dann direkt oder über Investmentfonds in Aktien tauschen. Wie viele Punkte - und damit Kronen - eine Aktie kosten wird, soll ein zentraler Computer ermitteln, der mit den Daten über Angebot und Nachfrage gefüttert wird.
Die Prager Reformer hoffen, ihren Kurs weit besser durchhalten zu können als ihre Kollegen in Polen, Ungarn oder anderen ehemaligen Ostblockländern. Sie konnten ihren Reformprozeß nämlich von einem sehr viel festeren Fundament aus starten.
Die Tschechoslowakei zählte vor dem Zweiten Weltkrieg zu den führenden Industrieländern der Welt. Zum Teil kann sie noch jetzt von diesem Erbe zehren. Die Arbeiter sind im Schnitt besser qualifiziert als in anderen ehemaligen oder noch immer sozialistischen Ländern; der Produktionsapparat ist zumeist nicht ganz so verschlissen.
Die Kaufkraft der tschechoslowakischen Bevölkerung liegt weit höher als im übrigen Osteuropa. Das Wohlstandsniveau eines durchschnittlichen CSFR-Bürgers entspricht etwa dem eines Spaniers.
Mit Auslandsverbindlichkeiten von 7,8 Milliarden Dollar hat das frühere kommunistische Regime in Prag seinen demokratischen Nachfolgern nur eine relativ kleine Schuldenlast hinterlassen. Und während in Polen oder der Sowjetunion die Notenpresse die produktivste Maschine im ganzen Land war, hielten die tschechoslowakischen Kommunisten das Geld relativ knapp. Die neuen Herren in Prag konnten eine Währung mit stabilem Binnenwert übernehmen.
Das Vertrauen der tschechoslowakischen Bevölkerung in die Stabilität der Krone ist nach dem jüngsten Inflationsschub allerdings stark erschüttert. Mit gedrosselter Geldzufuhr, hoher Besteuerung von Lohnzuschlägen und einem Sparhaushalt will Finanzminister Klaus den Preisauftrieb unter Kontrolle bringen.
Doch das birgt Risiken. Pumpt Klaus allzu wenige Kronen in die Wirtschaft, kollabieren nicht nur hoffnungslos heruntergewirtschaftete Betriebe. Auch durchaus noch lebensfähige Unternehmen geraten in Gefahr, in den Schuldenstrudel gerissen zu werden.
Das Dilemma des Finanzministers wird noch durch eine Entwicklung erschwert, die er selbst so gut wie gar nicht steuern kann: durch den fast völligen Zusammenbruch des Handels mit der Sowjetunion.
Die finanzschwachen Sowjets nehmen den ehemaligen Comecon-Partnern nur noch etwa zehn Prozent der früheren Lieferungen ab. Umgekehrt kassieren sie für ihre Öl-, Gas- und übrigen Rohstoffverkäufe in diese Länder nun harte Dollar.
Die Tschechoslowakei trifft diese Entwicklung besonders hart. Denn kein anderes Land, die frühere DDR vielleicht ausgenommen, hat seine Industrie unter dem Druck der Sowjets so auf die Bedürfnisse des übermächtigen Partners im Osten zuschneiden müssen wie die Tschechoslowakei.
Die Situation sei »einfach unerträglich«, klagt Vaclav Klaus. Für sein Land sei der Verlust des Sowjetmarktes ähnlich katastrophal, wie es für Taiwan und Südkorea ein über Nacht verhängtes Verbot von Ausfuhren in die Vereinigten Staaten wäre.
Klaus-Kritiker wie etwa Milan Matejka von der Wirtschaftshochschule in Prag prophezeien daher, daß der Finanzminister sein Land ins Unglück stürzt, wenn er tatsächlich einen harten Marktwirtschaftskurs ohne jede staatliche Hilfe für notleidende Unternehmen steuert. »Es besteht die Gefahr«, unkt Matejka, »daß unsere Wirtschaft erwürgt wird.«
Valtr Komarek, Chef des Instituts für Prognostik, an dem auch Klaus vor seiner Politkarriere forschte, brandmarkt die Wirtschaftspolitik seines einstigen Kollegen sogar als »ökonomischen Darwinismus«.