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PHARMAINDUSTRIE Die Wunderpille

Glück im Unglück, zumindest für Bayer. Der Konzern besitzt das einzige in den USA zugelassene Medikament gegen Milzbrand - und macht jetzt Milliardengeschäfte.
Von Heiko Martens
aus DER SPIEGEL 43/2001

Die Amerikaner haben sich ihr Glaubensbekenntnis in jede Geldmünze gestanzt. »In God we trust« ist da zu lesen.

Jetzt hat der Allmächtige Konkurrenz bekommen - von einer Pille.

Abend für Abend, von Küste zu Küste preist Tom Brokaw, Star-Moderator der NBC-Nachrichtensendung »Nightly News«, ein Breitspektrum-Antibiotikum des Leverkusener Bayer-Konzerns. Brokaws neues Glaubensbekenntnis lautet: »In Cipro we trust.«

Der NBC-Journalist, der wie Nachrichtenkollegen der anderen großen US-Fernsehsender ABC und CBS Adressat von Milzbrandbriefen war, spricht seinen in Terrorangst erstarrten Landsleuten aus dem Herzen. Bekennende Cipro-Schlucker wie New Yorks Bürgermeister Rudolph Giuliani oder der New Yorker Gouverneur George Pataki haben das Bayer-Produkt in einer einmaligen Gratis-Image-Kampagne innerhalb weniger Tage populärer gemacht als das Potenzmittel Viagra. Ein Bayer-Manager überrascht: »Das wird dort wie eine Wunderpille gehandelt.«

Mit mehr als 18 000 Verschreibungen täglich verdoppelte sich die Nachfrage nach Ciprobay, nachdem eine NBC-Mitarbeiterin an Milzbrand erkrankt war. Für über 600 Millionen Dollar will US-Gesundheitsminister Tommy Thompson bei Bayer einkaufen, um im Notfall zwölf Millionen Amerikaner zwei Monate lang mit dem Anthrax-Mittel aus Deutschland zu versorgen.

Auf Drängen Washingtons haben die Bayer-Manager zugesagt, in den nächsten drei Monaten 200 Millionen Cipro-Pillen zu produzieren - das Dreifache der üblichen Menge.

Den unerwarteten Verkaufserfolg haben die Leverkusener nicht nur den Absendern der Anthrax-Briefe zu verdanken, sondern auch dem US-Verteidigungsminister. 1997 fand das Pentagon auf der Suche nach Medikamenten gegen Bio-Waffen heraus, dass Bayers Wirkstoff Ciprofloxacin Rhesusaffen heilte, die mit inhaliertem Milzbrand infiziert waren.

Auf Drängen der amerikanischen Regierung ließ sich Bayer daraufhin sein Antibiotikum, das erfolgreich gegen Atem- und Harnwegsinfektionen eingesetzt wird, voriges Jahr in den USA als einziges spezifisches Anthrax-Mittel genehmigen - ein staatlich verordnetes Monopol, das vor dem 11. September keinerlei ökonomische Bedeutung hatte.

In den hundert Jahren vor den Anschlägen waren in den USA lediglich insgesamt 18 Anthrax-Fälle registriert worden.

Der Zufallserfolg, der Bayers Umsatz nach Schätzungen um bis zu eine Milliarde Mark steigern kann, kommt den Leverkusenern gerade recht. Mit dem Cipro-Erfolg kann Bayer-Chef Manfred Schneider einen Teil des Umsatz- und Image-Verlustes wettmachen, der ihm durch Lipobay entstanden ist. Bayer musste den Cholesterinsenker vor zwei Monaten wegen Nebenwirkungen vom Markt nehmen.

Doch die Freude über den unerwarteten Umsatzzuschlag ist nicht ungetrübt. Der Nachfrage-Boom nach Ciprobay, das in den Vereinigten Staaten noch bis zum Dezember 2003 patentrechtlich geschützt ist, hat dort eine Diskussion über Pharma-Patente in Gang gesetzt, die für die gesamte Branche gefährlich werden könnte. Schon hat der angesehene demokratische Senator Charles Schumer gefordert, angesichts von möglichen Lieferengpässen des Monopolisten Bayer und hoher Preise den Patentschutz zu lockern.

Der Pharmalobby in der Bush-Administration, die viel Geld für den Wahlkampf des amtierenden Präsidenten ausgegeben hat, ist es gelungen, den ersten Vorstoß abzuwehren. Immerhin war Verteidigungsminister Donald Rumsfeld acht Jahre lang Chef des Pharmaunternehmens Searle.

Aber erste Wirkungen zeigen sich dennoch. So interessiert sich seit dem Cipro-Erfolg die Federal Trade Commission intensiv für ein Abkommen, das Bayer 1997 mit den Barr Laboratories geschlossen hat. Barr-Chef Bruce Downey, der sich auf Generika spezialisiert hat und gern Patente der Konkurrenz angreift, hatte sich gegen Bezahlung von jährlich 30 Millionen Dollar verpflichtet, ein Cipro-Konkurrenzprodukt bis zum Ablauf des Bayer-Patents nicht auf den Markt zu bringen. Dieser Vertrag könnte ein Ansatz sein, ganz legal das Cipro-Monopol vorzeitig zu brechen.

Bayer-Chef Schneider glaubt zu wissen, wie er am besten seinen Cipro-Erfolg ohne Schaden durchstehen kann. Gelingt es in den nächsten Wochen, jeden Amerikaner und die Regierung mit der neuen Lieblingspille aus Leverkusen zu versorgen, so hofft Schneider, dann kann Bayer den Image-Gewinn in den USA konservieren.

Und daran liegt Schneider mehr als an zusätzlichem Umsatz. Anfang nächsten Jahres will der Bayer-Chef den wegen des Lipobay-Desasters verschobenen Börsengang an der New Yorker Wall Street nachholen. HEIKO MARTENS

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