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Artikel 25 / 86

Schiller Dieser Kerl

Den Rücktritt des Steuer-Staatssekretärs Heinz Haller nahmen die Gegner von Wirtschafts- und Finanzminister Karl Schiller zum Anlaß für eine Generalabrechnung.
aus DER SPIEGEL 11/1972

Der freidemokratische Parteivorsitzende Walter Scheel stellte das sozial-liberale Bündnis in Frage. Deutlich wie nie zuvor in den zweieinhalb Jahren der SPD/FDP-Koalition warnte er Bundeskanzler Willy Brandt: »Die Steuerreform ist für uns die Koalitionsfrage. Wenn sie nicht kommt, ziehen wir Konsequenzen.«

Angesprochen war der Regierungs-Chef, gemeint war sein Wirtschafts- und Finanzminister Karl Schiller. Am vergangenen Mittwoch fand sich der Bonner Konjunkturlenker und Kassenwart an Willy Brandts Kabinettstisch vor einem Tribunal von Anklägern aus beiden Lagern der Koalition.

Die Anklage: Der strahlende Wahlsieger von 1969 habe durch sträfliche Versäumnisse das Kernstück des sozialliberalen Reformprogramms zerstört, die von seinem Amtsvorgänger Alex Möller vorgelobte Große Steuerreform.

Die Inquisitoren waren gut vorbereitet. Mit rheinisch-verbindlicher Stimme trug Walter Scheel eine Reihe von widersprüchlichen Schiller-Worten zum Steuerreform-Fahrplan vor. Scheel: »Alle Termine, die Sie nannten, wurden nicht eingehalten.« Plötzlich verließ der Außenminister die gewohnte Linie des Lächelns: »Sie besitzen überhaupt kein Urteilsvermögen, Herr Schiller.« Der Kanzler sah sich veranlaßt, den AA-Herrn darob zu rügen.

Mit »Brüllstimme« (ein Teilnehmer) schaltete sich Schillers Stammfeind, Bundesverteidigungsminister Helmut Schmidt, ein. Vertraut mit der Anti-Schiller-Stimmung in der SPD-Fraktion, fühlte er sich stark. Schmidt zu Schiller: »Sie sabotieren die Steuerreform.«

Kategorisch forderte der Verteidigungsminister den Finanzminister auf, exakte Termine für die Vorlage des entscheidenden Reformteils, der Einkommen- und Körperschaftsteuer, zu nennen. Schiller blieb unverbindlich: »Nach der Sommerpause des Bundestages.«

Giftig erwiderte Schmidt: »So wie ich Ihre Arbeit kenne, heißt das im Oktober oder Anfang nächsten Jahres.« Und er bestand darauf: »Wir wollen Termine.«

Schließlich beugte sich Schiller dem Druck. Das Kabinett beschloß, sofort die problemloseren Gesetzentwürfe zur Änderung der Grund-, Vermögen- und Erbschaftsteuer dem Parlament zuzuleiten. Bis Mitte August will das Kabinett die umstrittenen Reformen der Einkommen- und Körperschaftsteuer verabschieden -- obwohl der Bundestag aus Zeitgründen das Konvolut gar nicht mehr bewältigen kann. Beide Reformpakete wurden auf Verlangen der FDP mit einem Junktim aneinandergekoppelt.

Begonnen hatte die Talfahrt des Bonner Konjunkturlenkers und Kassenhalters am vorletzten Montag im eigenen Haus. Als er widerwillig die Details der Steuerreform studierte, für die sein Staatssekretär Heinz Haller verantwortlich zeichnete, stieß der Ökonomie-Professor prompt auf »einige böse Bolzen« (ein Schiller-Berater).

So entdeckte er auch, was alle Experten schon lange wissen: daß die neue Kindergeldregelung -- danach sollen künftig keine steuermindernden Freibeträge mehr gewährt, sondern Nachwuchsprämien nur noch bar aus der Staatskasse gezahlt werden -- einen entscheidenden Webfehler hat; Steuererhöhungen, wie sie nach dem Stabilitätsgesetz aus konjunkturellen Gründen möglich sind, würden kinderreiche Familien dann relativ härter treffen.

Mehr noch: Kinderreiche Familien müßten verhältnismäßig mehr Kirchensteuer zahlen als bisher, weil die durch Freibeträge nicht mehr geminderte Lohn- und Einkommensteuerschuld Bemessungsgrundlage für den Tribut an den Klerus ist. Schiller kritisierte Haller: »Da ist wohl einiges übersehen worden.« Der unorthodoxe Losungsvorschlag des sonst orthodoxen Finanzwissenschaftlers: »Das muß man in Kauf nehmen. Die Kirchen sollen mit den Mehreinnahmen doch Kindergärten bauen.«

Haller war nicht mehr bereit, weitere Abstriche von dem bereits zweimal im Kabinett beschlossenen Reformkonzept zuzulassen. Schiller hingegen fürchtete, »weitere Tretminen zu entdecken« (Schillers Ministerialdirektor Manfred Schüler). Es kam zum Krach. Haller später: »So etwas habe ich selbst beim Kommiß nicht erlebt.«

Vier Tage später kündigte der gemaßregelte Universitätslehrer brieflich seine Mitarbeit auf und verkroch sich unerreichbar in eine Schweizer Berghütte. Bei seinen Beamten hatte er sich mit einem Schreiben -- Poststempel: Chur -- höflich für »die gute Arbeit« bedankt.

Die Demission kam freilich nicht unerwartet. Denn der von Alex Möller beim Regierungsantritt angeworbene. international angesehene Finanztheoretiker war auf dem Bonner Parkett stets ein Außenseiter geblieben. Politisch nicht engagiert, hatte der Zürcher Professor mit Möller einen Angestellten-Vertrag ausgehandelt, der ihm die Bezüge eines Staatssekretärs sicherte und zugleich erlaubte, weiterhin montags in der Schweiz Vorlesungen zu halten. Seine Mitarbeiter sahen den Grenzgänger daher jede Arbeitswoche nur zwei volle und zwei halbe Tage von Dienstag mittag bis Freitag mittag. SPD-Steuerexperte Konrad Porzner: »Ein Teilzeit-Staatssekretär.«

Schon als Schiller im Mai vergangenen Jahres das Finanzministerium übernahm, bot Haller seinen Rücktritt an. Schiller hielt den akademischen Kollegen, Kontakt jedoch fanden die beiden Professoren nie. Als im Herbst vergangenen Jahres die wenige Monate zuvor vom Kabinett verabschiedeten Eckwerte zur Steuerreform wegen des verspäteten Einspruchs der Freidemokraten erneut ausgehandelt werden mußten, war Haller schon Statist.

Anstelle des für die Steuerreform zuständigen Staatssekretärs raufte sich Schillers Haushaltsexperte, der Parlamentarische Staatssekretär Hans Hermsdorf, mit den Liberalen. Hilflos mußte Haller zusehen, wie sein »rationales Steuersystem« politisch frisiert wurde. Seinem Freund; dem Frankfurter Finanzwissenschaftler Fritz Neumark, klagte er des öfteren, daß ihn »diese Angelegenheit sehr bedrückt« (Neumark). Haller zu Neumark: »Was soll ich tun? Soll ich zurücktreten?«

Als Haller dann schließlich abtrat, sahen die Fraktions-Genossen in der Demission das Ende der Steuerreform. Die Schar der Schiller-Gegner in SPD und FDP, die bis dahin ihren Unmut zurückgehalten hatten, nutzten den Haller-Rücktritt, um den als eitel und exaltiert verschrienen Kabinetts-Solisten zum Versager zu stempeln.

Eine Stunde lang heizten sich die Mitglieder der sozialdemokratischen Arbeitsgruppe »Steuerreform« am Dienstagvormittag vergangener Woche im Saal 2303 des Abgeordneten-Hochhauses auf. Gut präpariert fielen sie dann am Nachmittag danach in der Fraktionssitzung über Schiller her.

Scharf fragte der linke Dietrich Sperling »den Minister« -- »oder darf ich noch Genosse sagen?« -, wann er denn gedenke, mit der Steuerreform überzukommen. Der Abgeordnete Georg Kahn-Ackermann warf dem Kabinetts-Star Mißachtung des Parlaments vor: Schiller sei bisher weder in der SPD-Arbeitsgruppe noch in dem für die Steuerreform federführenden Finanzausschuß erschienen.

Der gezauste Schiller, der von Möller den der CDU angehörenden Ministerialdirigenten Franz Klein als Leiter der hauseigenen Steuerreform-Gruppe geerbt und behalten hatte, mußte sich sogar politische Instinktlosigkeit vorhalten lassen. Verbittert klagte Steuerfachmann Porzner: »Wir wären in der Ostpolitik genausoweit wie in der Steuerreform, wenn die Bundesregierung die Außenpolitik Legationsräten überlassen hätte, die von der CDU eingesetzt wurden.«

Aufgebracht waren die Genossen auch über den Reformverhinderer Schiller, weil er durch seine Passivität der christdemokratischen Opposition innenpolitische Wahlkampfmunition liefere. Denn mit einem arbeitnehmerfreundlichen Gesetzentwurf, der höhere Steuervergünstigungen für Überstunden und Nachtarbeit verspricht, will die CDU/CSU die verstärkten Bemühungen der SPD um ihre wiederentdeckte Werktätigen-Klientel auspunkten.

Schillers Kontrahenten fürchten, daß die CDU noch weitere Gesetzentwürfe dieser Art -- etwa höheres Kindergeld und verdoppelte Arbeitnehmerfreibeträge -- einbringt. Porzner warnte: »Die CDU holt sich die Rosinen aus unserem Steuerreformpaket.« Und IG-Metall-Vorstandsmitglied Willi Michels gab die Stimmung von der Basis an der Ruhr wieder: »Ich könnte die Ablehnung dieses CDU-Antrages nicht vor meinen Stahlarbeitern vertreten.«

Schillers verzweifelter Rechtfertigungsversuch, der Steuerreform-Parteitag der SPD habe seine Beamten verunsichert, steigerte nur die Angriffslust der Genossen. Der Fraktionslinke Günter Wichert, Regisseur der Steuerideologen auf dem SPD-Konvent vom November nach dem Fraktionstribunal: »Dieser Kerl hat sich nicht entblödet zu sagen, die Beschlüsse des Parteitages hätten die Steuerreform gestört. So etwas kann nur jemand behaupten, der dieser Partei nicht mehr angehört.«

Wenige Stunden später wurde Schiller noch härter angegangen. In der Kanzler-Villa auf dem Bonner Venusberg hatten sich die Parteispitzen und Steuerexperten der Koalitionsparteien versammelt.

Scheinbar unbeeindruckt vom Lamento der Widerständler im Parlament, übte sich Schiller, wie üblich, zunächst 45 Minuten lang im selbstgefälligen Monolog. Sein Fazit: Die Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer kann in dieser Legislaturperiode nicht mehr verwirklicht werden.

Der leichtherzige Verzicht auf ein zentrales Reformwerk brachte Frei- und Sozialdemokraten in Rage. FDP-Vize Hans-Dietrich Genscher und die liberale Steuerexpertin Liselotte Funcke wollen keinesfalls zulassen, daß ihre mittelständische Wahlkundschaft mit höheren Grund-, Vermögen- und Erbschaftsteuern belastet wird, die versprochenen Einkommen- und Körperschaftsteuer-Entlastungen aber auf unbestimmte Zeit verschoben würden. Frau Funcke später: »Wir erwarten, daß die Dinge in kürzestmöglicher Zeit kommen, da ja länge genug daran gearbeitet worden ist. Irgendwann muß man ja mal fertig werden.«

Als die Runde schließlich ultimativ von Schiller die Zusage verlangte, die Gesetzentwurfe zur Reform des Einkommen- und Körperschaftsteuerrechts bis Mitte August vorzulegen, zögerte Schiller noch immer. Da verlor der stellvertretende SPD-Vorsitzende Schmidt die Beherrschung und brüllte den sozialdemokratischen Einzelgänger an: »Karl, du mußt dich endlich mal an die Parteidisziplin gewöhnen.« Das war zuviel für den Star. Wortlos räumte er die Akten in sein Köfferchen, erhob sich und verließ den Venusberg.

Der Gemaßregelte suchte schließlich am vergangenen Donnerstag Schutz beim Kanzler. Willy Brandt beruhigte den Trostsuchenden und sicherte ihm zu, daß die Konstruktion des Doppelministeriums, gegen die sich auch in der SPD immer mehr Widerstände regen, bis zum Ende der Legislaturperiode bestehen bleibe.

Gestärkt durch den Kanzler-Zuspruch beriet Schiller bis ein Uhr nachts mit Vertrauten im Chefzimmer des Finanzministeriums über die optimale Strategie auf der für den Freitag angesetzten Sondersitzung der Fraktion, die zur Endabrechnung mit dem Außenseiter entschlossen schien. Daheim konnte er dann keinen Schlaf finden. Er klingelte Freunde aus dem Bett und holte sich telephonischen Rat. Am nächsten Morgen lag seine taktische Devise fest: »Man muß Brinkmanship machen.«

In einem auffälligen, hellen Glencheck-Anzug Marke Hobson nahm Schiller um zehn Uhr im SPD-Fraktionssaal Platz. Als erster redete der Kanzler begütigend auf das Fußvolk ein. Doch der Beschwichtigung hätte es schon gar nicht mehr bedurft: Von Schiller laneierte Rücktritts-Spekulationen in den Freitagszeitungen (Springers »Welt": »Karl Schiller sucht heute die Entscheidung: Sieg oder Rücktritt") hatten die Fraktionsriege geschockt. Nur wenige wagten Kritik.

So hatte Karl Schiller schließlich wieder einmal leichtes Spiel. Geschickt lenkte er die Aggressionen zunächst auf den äußeren Feind und beklagte sich bitter über einen »Minister, der kein Genosse ist« -- den FDP-Chef Walter Scheel. Sein ehemaliger Steuerreform-Staatssekretär Haller wurde zu einem »Angestellten« erklärt, »der mit einer Postkarte vom Matterhorn kündigt«.

Die Rechtfertigungsrede schloß mit einem furiosen Crescendo: »Ich habe nicht die Absicht, mich hier auf dem Platz vor dem Bundestag selbst zu verbrennen.« Pflichtschuldig zollten die Genossen Beifall. Ein Abgeordneter hinterher: »Es ist unglaublich, wie sich diese Fraktion auf der Nase herumtanzen läßt.«

Freilich, ob sich Schiller seines Etappensieges lange erfreuen kann, ist zweifelhaft. Denn neues Ungemach steht ihm ins Haus: Er verliert einen weiteren Mitarbeiter. Hans Georg Emde, beamteter FDP-Staatssekretär im Finanzministerium, wird schon bald ins Direktorium der Bundesbank überwechseln. Überdies hat sich ein hochrangiger Aufpasser angesagt. Willy Brandt, der dauernden Querelen mit dem eigensinnigen Wirtschaftschef überdrüssig, verkündete, daß er sich nun »stärker in die Vorentscheidungen zur Wirtschafts- und Finanzpolitik einschalten will«.

Der Kanzler, der sich in den ersten beiden Jahren der sozialliberalen Koalition fast nur mit Außenpolitik beschäftigt und dabei den AA-Chef Scheel in eine Statistenrolle verwiesen hatte, zog einen vieldeutigen Vergleich: »Daß ich mich um die Außenpolitik kümmern mußte, war ja schließlich auch kein Mißtrauensvotum gegenüber Herrn Scheel.«

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