Eisenbahn Direkter Zugang
Kurz vor seinem Abflug nach Mallorca erreichten Siemens-Manager Wolfram Martinsen zwei Nachrichten, eine gute und eine schlechte.
Die schlechte: Südkorea hat sich gegen den deutschen Schnellzug ICE und für dessen französischen Konkurrenten TGV entschieden. Die gute: ABB und AEG werden zusammen mit Siemens der Berliner Treuhandanstalt ein Kaufangebot für die ostdeutschen Waggonbaufirmen machen (siehe Grafik Seite 102). Die Übernahme soll den Siegeszug der französischen Konkurrenz stoppen.
Martinsen, bei Siemens für den Bereich Verkehrstechnik zuständig, hat mit der Treuhand einen Termin für Mitte September vereinbart. Zwei Jahre haben sich die Westdeutschen Zeit gelassen, nun drängen sie plötzlich zur Eile.
Die Deutsche Waggonbau AG (zwei Milliarden Mark Umsatz, 9100 Beschäftigte) steht kurz vor dem Aus. Das Unternehmen überlebt nur durch Aufträge aus Rußland, die mit Bonner Bürgschaften abgesichert sind.
Vor kurzem aber meldete sich bei der Treuhand plötzlich ein Interessent mit einem Angebot: das französisch-britische Gemeinschaftsunternehmen GEC Alsthom. Von den ostdeutschen Fabriken aus soll dann der Osten Europas mit Schienenfahrzeugen beliefert werden.
Der Star im Programm von GEC Alsthom ist der TGV. Der Hochgeschwindigkeitszug soll in Teilen in den Fabriken Ammendorf, Görlitz und Dessau gebaut werden. Dann könnten die Deutschen nichts mehr gegen den TGV auf deutschen Schienen haben.
Hinter dem Gerangel um das ehemalige Schienenfahrzeug-Kombinat verbirgt sich eine harte Schlacht um Marktanteile in der Sparte der Hochgeschwindigkeitssysteme. Die Deutschen wollen mit aller Macht verhindern, daß der TGV auf den heimischen Schienen ihren ICE verdrängt. Für den deutschen ICE-Klub wäre das ein schwerer Imageverlust, und der könnte dem Geschäft erheblich schaden.
Viele Nationen planen Hochgeschwindigkeitssysteme zwischen ihren industriellen und politischen Ballungszentren. Zwischen Berlin und Hannover, Peking und Schanghai, in Texas und Taiwan sollen Umsteiger von der Straße und aus dem Flugzeug auf die Schiene gelockt werden.
In dem zukunftsträchtigen Markt sind TGV und ICE die einzigen Anbieter, die bei den Ausschreibungen übrigbleiben. Das japanische Pendant Shinkansen von Mitsubishi kann technologisch nicht mehr mithalten.
Im Wettlauf der Zugsysteme liegt der ICE hinten, seit sich die koreanische Regierung vor fast zwei Wochen für den TGV entschied. Die blau-silbergrauen Triebzüge im Auftragswert von rund vier Milliarden Mark sollen bis 1999 zwischen der Hauptstadt Seoul und dem Industriezentrum Pusan verkehren.
Der zwölfjährige Einsatz des TGV und seine Wirtschaftlichkeit gaben offiziell den Ausschlag. Doch wie in anderen Ländern zahlte sich auch das clevere Marketing aus. Unverblümt vertrat die Politik die Interessen der Industrie.
Pierre Suard, Chef der GEC-Alsthom-Mutterfirma Alcatel Alsthom, und sein TGV-Manager Pierre Bilger haben direkten Zugang zu der Staatsspitze. Mehrmals telefonierte Francois Mitterrand auf Bitten der Manager mit dem neuen koreanischen Präsidenten Kim Young Sam und pries den TGV.
Wochen vor der Entscheidung über das Projekt lud sich Mitterrand selber für Mitte September zu der in Korea stattfindenden Weltausstellung ein. Der von den Koreanern geladene Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt läßt sich von seinem Parlamentarischen Staatssekretär Heinrich Kolb vertreten. Dem Kanzler sind persönliche Einsätze für die Produkte der Wirtschaft lästig. Auf seiner Asienreise im März erwähnte er bei einem Bankett in Korea den ICE nur beiläufig.
Auch auf den unteren Ebenen operierten die Franzosen effizienter. Der Handelsattache an der Botschaft in Seoul, ein Alsthom-Fachmann, beschäftigte sich ausschließlich als TGV-Lobbyist. Unter anderem spickte er die koreanischen Stellen mit Pannen-Berichten des deutschen ICE.
Großzügig hilft der französische Staat bei der Finanzierung von Prestige-Projekten. In einem letzten Angebot, zwei Tage vor der Entscheidung der Koreaner, senkte Paris die Bürgschaftsgebühren auf 0,998 Prozent und stellte eine weitere Finanzhilfe in Aussicht. Siemens halbierte ohne Absicherung von Bonn die Hermes-Gebühren von 4,6 Prozent und wollte zusätzliche Absenkungen versprechen. Rexrodt lehnte ab.
Die ICE-Produzenten sind »felsenfest von den technologischen Vorzügen« (Martinsen) ihrer Produkte überzeugt. Doch die Aussichten auf gute Geschäfte in den USA sind mit der koreanischen Entscheidung rapide gesunken.
Um 700 Millionen Mark geht es bei dem Auftrag für die geplante Schnellbahn Boston-New York-Washington. Der ICE konkurriert hier gegen den X-2000 des ABB-Konzerns.
Das Gerangel wird auf deutschem Boden fortgeführt. Siemens und die verbündete AEG würden am liebsten ABB aus dem Übernahmekartell der DWA raushaben. Doch dann könnte ABB zu dem gefährlichsten Gegner des ICE-Klubs überlaufen.
Sie seien, sagt Deutschland-Statthalter Herbert Gienow, früher Chef der Klöckner-Werke, für alle Modelle offen, die GEC Alsthom dem Ziel näherbrächten.
Das Ziel: Der TGV soll auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke Berlin-Hannover fahren. Der ICE wäre dann endgültig geschlagen. Y
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_102a Das neue Modell der Deutsche Waggonbau-Holding (DWA)
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