STADTAUTOBAHN Dreispurig durch Berlin
Nach einem Terminkalender, der die Mitglieder der deutschen Studiengruppe jeden Tag von 9 bis 18 Uhr beanspruchte, wallfahrteten sieben Westberliner Straßenbau-Fachleute zu den Attraktionen der amerikanischen Super-Autobahnen. Sie fuhren über die acht- und zehnbahnigen Freeways, die sich ober- und unterirdisch durch die Großstädte ziehen, photographierten die großzügigen Nebenfahrbahnen, über die sich Autofahrer mit hoher Geschwindigkeit in den fließenden Verkehr einschleusen können, und studierten die Pfeiler-Konstruktionen, auf denen die Autobahnen in zehn Meter Höhe in dicht besiedelte Gebiete geführt werden.
Vor dem Rückflug nach Deutschland, wo die Straßenbauer die Reise-Eindrücke, Tausende von Photos und Skizzen alsbald zu verwerten gedachten, fragte ein amerikanischer Straßen-Architekt die Gäste: »Weshalb sind Sie eigentlich zu uns gekommen? Die deutschen Autobahnen waren doch nach dem Kriege die besten Studien-Objekte für uns Amerikaner.«
Als Baudirektor Friedrich Fürlinger, Leiter der Studiengruppe und der Abteilung Stadtplanung im Westberliner Bausenat, dem Amerikaner erklärte, die deutschen Stadtplaner müßten nunmehr darangehen, das Autobahnnetz in die Großstädte hinein zu verlängern, sagte der Highway-Bauer: »Dann werden wir wohl in zehn Jahren zum Gegenbesuch nach Deutschland fahren und uns erneut darüber informieren müssen, wie die modernsten Schnellstraßen zu bauen sind.«
Fast auf den Tag genau ein Jahr nach diesem Gespräch - die Berliner waren im Winter 1957 in Amerika gewesen - konnte der Westberliner Senator für Bau- und Wohnungswesen den ersten Teilabschnitt des »Stadtrings Berlin der Bundesautobahn« dem Verkehr eröffnen: eine zwei Kilometer lange, sechsspurige kreuzungsfreie Prachtstraße (Baukosten: 34 Millionen Mark), die den Hohenzollerndamm unter dem Kurfürstendamm hinweg mit der Halenseestraße am Funkturm verbindet (siehe Zeichnung). In mehreren Etappen soll diese »erste deutsche Stadtautobahn« zu einem innerstädtischen Autobahnnetz von 100 Kilometern Gesamtlänge gestreckt werden, wofür die Stadt Berlin nach einer groben Schätzung rund eine Milliarde Mark aufbringen muß.
Schon jetzt gelten der Berliner Straßenbauplan und der fertiggestellte Bauabschnitt als vorbildliches Beispiel für den Stadtautobahnbau in Deutschland. In den vergangenen Wochen diente die eröffnete Teilstrecke Stadtplanern und Straßenbauern aus der Bundesrepublik als Studien-Objekt, das vorerst kostspielige Informationsreisen nach den USA überflüssig macht.
Die Berliner Verkehrs-Experten können den aus der Bundesrepublik anreisenden Sachverständigen tatsächlich eröffnen, daß man die amerikanischen Schnellstraßen-Vorbilder in Deutschland nicht einfach blindlings nachbauen durfte. »Schon drüben war uns klargeworden«, berichtete Baudirektor Werner Leipold, Leiter des Ressorts Straßenwesen im Berliner Bausenat, »daß wir mehr tun müssen, als einfach kopieren. Amerikanische Städte sind gewöhnlich weit ausgedehnter als deutsche, sie haben nicht so einen ausgeprägten Stadtkern. Drüben ist zum Beispiel eine Entfernung von 40 Meilen (70 Kilometer) zwischen Wohnung und Arbeitsplatz keine Ausnahme...«
In Deutschland dagegen müssen nach Ansicht der Straßenbau-Fachleute Schnellverbindungen zwischen den einzelnen Teilen des Stadtkerns geschaffen werden - in Berlin also etwa zwischen den Bezirken Schöneberg, Charlottenburg und Siemensstadt -, »die natürlich an das Fernverkehrsnetz angeschlossen sind« (Baudirektor Klotz).
Baudirektor Leipold glaubte auch aus einem anderen Aspekt heraus zu erkennen, warum die Berliner Städtebauer sich die Erfahrungen der Amerikaner nur teilweise zunutze machen konnten. Die Amerikaner, berichtete Leipold, planten ihre Straßen »aus dem Auto heraus«; in vielen Städten brauchten sie bei ihrer Planung auf die geringe Zahl von Autobussen oder Straßenbahnen ebensowenig Rücksicht zu nehmen, wie auf die wenigen Fußgänger. In der ersten Teilstrecke der Berliner Stadtautobahn mußten demgegenüber Haltehäfen für Autobusse der »Berliner Verkehrs-Betriebe« ausgespart werden.
Längere Überlegungen forderte den Berliner Straßenbauern die Frage ab, wie breit sie ihre Stadtautobahn anlegen sollten. Es stand von vornherein lediglich fest, daß sie, wie die Reichsautobahn, mit zwei getrennten Fahrbahnen für den Kraftverkehr ausgestattet werden müßte. (Fußgänger, Rad- und Mopedfahrer dürfen das Schnellstraßenband nicht benutzen.)
Die amerikanischen Highways für den Überlandverkehr sind nicht, wie die deutschen Autobahnen, nach einem starren Prinzip überall gleich breit angelegt. Für den Verkehr in siedlungsarmen Gebieten genügen je eine Fahrspur in jeder Richtung; je näher sich aber die Super-Autobahnen an eine Großstadt heranschieben, desto breiter wird die Fahrbahn. In Stadtnähe weiten sich die Schnellstraßen schließlich auf sechs, acht, zehn Fahrspuren (in jeder Richtung) aus.
Für die Stadtautobahnen hat sich in den USA als praktischer Mittelwert eine Fahrbahnbreite von 10,68 Metern - aufgeteilt in drei Fahrspuren - in jeder Richtung eingebürgert. Drei Fahrspuren von zusammen 10,50 Meter Breite befanden die Berliner Straßenplaner schließlich als angemessen für deutsche Verhältnisse. Da die Verkehrsdichte in Berlin bei weitem nicht an das Autogewühl in Amerikas Großstädten heranreicht, können die Berliner ihr Schnellstraßen-System zu Recht als »großzügig« vorstellen.
Allerdings hätten die Berliner schon aus finanziellen Gründen vorgezogen, ihre Stadtautobahn nicht so breit anzulegen. Berechnungen hatten nämlich ergeben, daß eine Fahrbahnbreite von 9 bis 9,75 Meter für deutsche Verhältnisse genügen müßte, wenn man die amerikanischen Erfahrungswerte und die vergleichsweise geringere Verkehrsdichte in Deutschland zugrunde legt. Baudirektor Leipold: »Wir müssen aber mehr Luft einkalkulieren, weil die Zusammensetzung des Verkehrs und die Verkehrsdisziplin in Deutschland anders sind.«
Die amerikanischen Automobilisten respektieren die weißmarkierten Leitlinien der einzelnen Fahrspuren strikt: Sie versuchen stets in derselben Fahrspur zu bleiben, so daß auf den amerikanischen Autobahnen links wie auch rechts überholt werden kann. Außerdem gleichen sich die Fahreigenschaften der amerikanischen Wagen - Höchstgeschwindigkeit und Beschleunigungsvermögen - stärker als die Fahrwerte der Fahrzeuge auf den deutschen Autobahnen, auf denen Kabinenroller, Kleinwagen, viellitrige Limousinen, Sportwagen und Lkw einander behindern.
Der erste Zwei-Kilometer-Abschnitt der Berliner Stadtautobahn, bei dessen Bau die Straßenbauer alte derartigen Überlegungen berücksichtigten, ist freilich noch zu kurz, als daß er den Verkehrsexperten zu richtungweisenden Untersuchungen dienen könnte. Am südlichen Abschnitt endet die Straße vorerst abrupt unter einer Brücke; der gesamte Schnellstraßenverkehr muß über eine Abfahrtrampe, die später nur dem Abbiegeverkehr dienen soll, in den normalen Stadtverkehr eingefädelt werden. Da dort Fußgänger den Fahrzeugstrom kreuzen, kommt es gelegentlich zu Stauungen, die einige Berliner Tageszeitungen zu einer Generalkritik an dem Stadtring-Projekt veranlaßten: »Verstopfte Schnellstraße« ("Der Tagesspiegel"), »Chaos auf dem Stadtring« (Berliner »Bild«-Ausgabe).
Die Berliner Straßenbauer setzten sich gegen die Kritik mit dem gültigen Argument zur Wehr, daß man von den Zuständen auf einem zwei Kilometer kurzen Teilabschnitt schwerlich eine generelle Kritik an der Stadtautobahn ableiten könne. Erst wenn die Schnellstraßen-Fahrer auch den in der zweiten Bau-Etappe fertigzustellenden Abschnitt benutzen könnten - voraussichtlich 1961 -, würde sich die Verkehrssituation an der jetzt überlasteten Ausfahrt normalisieren. Der Hauptverkehr würde dann unter der Hohenzollerndamm-Brücke hindurchfließen und die Rampe nur noch von den wenigen Abbiegern benutzt werden, für die sie projektiert wurde.
Gleichzeitig mit der Verlängerung der Stadtautobahn in Richtung Südosten (Kostenvoranschlag: 10 Millionen Mark) hat der Berliner Bausenat den Beginn der Arbeiten an der nördlichen Fortsetzung des Stadtautobahn-Ringes angeordnet. Auf der 4,2 Kilometer langen Strecke dieses 4. bis 6. Bauabschnitts müssen unter anderem dreizehn Brücken, darunter die 876 Meter lange Nordbogen-Brücke über die Spree, 2500 Meter Stützmauern bis zu acht Meter Höhe sowie einige An- und Abfahrtsrampen gebaut werden. Veranschlagte Kosten: 76 Millionen Mark.
»Mit den Bauabschnitten 1 bis 6 des Ringes«, erklärte Baudirektor Leipold, »entsteht ein geschlossener Straßenzug von 17 Kilometern Länge.« Streckenweise führt dieser Schnellweg allerdings über bereits bestehende Stadtstraßen, die verbreitert und ausgebaut werden.
»Berlin hat mit diesem Projekt gezeigt«, lobte die Zeitung »Der Tag«, »daß es die unfreiwillige Chance zu nützen verstand, die der letzte Krieg ... den ... Städtebauern bot. Während man sich in der Bundesrepublik allzu häufig bemühte, das mehr oder minder zerstörte Städtebild möglichst originalgetreu wiederaufzubauen..., baut man in Berlin zu einem guten Teil von Anfang an nach neuzeitlichen Gesichtspunkten.«
Mindestens in einem Punkt glauben auch die Stadtautobahn-Erbauer, daß sie ihren einstigen amerikanischen Gastgebern durchaus eine modernste Lösung vorführen könnten: Die Lichtstärke der 1589 Leuchtstofflampen in dem Autobahn-Tunnel unter dem Kurfürstendamm, dem kostspieligsten Bauwerk der fertiggestellten Strecke (rund acht Millionen Mark), werden auf raffinierte Weise gesteuert. Ein elektronischer »Lichtdirigent«, der in einem Mast außerhalb des Tunnels untergebracht ist, registriert mit Hilfe von Photozellen die Außenhelligkeit und regelt danach vollautomatisch das Licht im Tunnel. Das photo-elektrische Gehirn dämpft außerdem stufenweise das Licht nahe den Ein- und Ausfahrten des Tunnels, so daß in der Nacht die Fahrer weder durch das künstliche Licht noch durch plötzliche Dunkelheit (beim Verlassen des Tunnels) geblendet werden können.
Nach Auffassung Berliner Straßenbau-Fachleute hat sich in dieser vollautomatischen Anlage die Prophezeiung der amerikanischen Architekten erfüllt, daß die Berliner Stadtautobahn mit. Sicherheit besichtigungswürdige Objekte aufzuweisen haben würde. Kommentierte Baudirektor Leipold die Lichtanlage Im Kurfürstendamm-Tunnel: »So was hat es noch nicht gegeben.«
* Fahrbahn der Reichsautobahn: 7,50 Meter.
Tunnelstrecke der Berliner Stadtautobahn: Vorbild für amerikanische Straßenbauer
Berliner Stadtautobahn: Beispiel für deutsche Städteplaner