Düstere Prognose Experten warnen vor Absturz der Autoindustrie
Hamburg - Eine Industrie ringt um ihr Überleben, und das weltweit: Autobauer wie Opel, General Motors (GM) oder der Chrysler-Konzern machen täglich riesige Verluste. Den Zusammenbruch der Unternehmen verhindert allein der Staat, der ihnen mit umfangreichen Hilfen unter die Arme greift. Doch die Krise wird sich in den kommenden Jahren noch drastisch verschärfen. Das besagt eine Studie der Unternehmensberatung AlixPartners, die SPIEGEL ONLINE vorliegt.

Opel-Neuwagen in Bochum: Massive Überkapazitäten in der Branche
Foto: A2824 Franz-Peter Tschauner/ dpaDie Studie erfasst die Lage von 45 Autobauern weltweit und 275 Zulieferfirmen. Die Experten zeichnen ein apokalyptisch anmutendes Bild einer Branche, von der die deutsche Wirtschaft abhängt wie von kaum einer zweiten. Passend zu ihren alarmierenden Erkenntnissen haben die Autoren eine Präsentation in Anlehnung an einen Bibelvers überschrieben: "Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht..." Fast scheint es, als könne den Autobauern nur noch Beten helfen.
"Es ist mit Sicherheit die bedrohlichste Situation, die die Branche seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat," warnt Vinzenz Schwegmann von AlixPartners im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Der Höhepunkt der Autokrise stehe erst noch bevor. Während staatliche Stützungsprogramme wie die Abwrackprämie derzeit noch die Probleme linderten, werde der Absturz danach umso brutaler.
Nach Einschätzung der Verfasser der Studie werden die Autohersteller im Schnitt in diesem Jahr mit jedem verkauften Wagen 1800 Euro Verlust machen. Bedrohlich ist auch die Lage vieler Zulieferbetriebe. Laut Studie schwebten im vergangenen Jahr bereits 22 Prozent der europäischen Zulieferer in Insolvenzgefahr, Ende dieses Jahres könnten es 30 bis 50 Prozent sein.
Das deckt sich mit Selbsteinschätzungen der Branche:
Am Mittwoch verkündete Deutschlands größter Autohersteller VW, er rechne wegen des Auslaufens der Abwrackprämie mit einem massiven Einbruch am Markt. "Für 2010 erwarten wir nur eine Gesamtmarktgröße von etwa 2,6 Millionen Neuzulassungen in Deutschland", sagte Rolf Dielenschneider, Deutschland-Chef der VW-Tochter Seat. Das wären rund eine Million weniger als in diesem Jahr. Schuld an der Misere sind nach Auffassung der Autoren der Alix-Studie die Autobauer vor allem selbst: Mit günstigen Finanzierungsangeboten haben sie bislang Käufer gelockt und über Jahre wesentlich mehr Fahrzeuge in den Markt gedrückt, als unter normalen Umständen gekauft worden wären. Ab 2002 hätten sich die Verkaufszahlen von Neuwagen erkennbar von der Wirtschaftsentwicklung abgekoppelt. Doch diese Politik der günstigen Kredite und des "billigen Geldes" rächt sich nun.
Zum einen ist die Nachfrage nach Neuwagen stark gesunken, weil Autokäufe dank der Finanzierungsmöglichkeiten vorgezogen wurden. Zum anderen versäumten es die Konzerne, massive Überkapazitäten rechtzeitig abzubauen. So habe die Auslastung der Produktionslinien schon vor der Krise bei nur 80 Prozent gelegen, heißt es in der Analyse. Nun seien es vielfach weniger als 65 Prozent. Hinzu kommen veränderte Kundenwünsche: Kleinwagen stehen höher im Kurs als die großen Spritfresser, auf die viele Konzerne bislang setzten.
"Es gab eine Art Urvertrauen in weiteres Wachstum und die Erwartung, man werde in erweiterte Kapazitäten 'hineinwachsen'," erläutert Schwegmann die Fehlentwicklungen. Doch die Prognosen für das Unternehmenswachstum seien illusorisch gewesen. "Wenn man die Wachstumsprognosen aller Hersteller nebeneinander gelegt hat, dann konnte man feststellen, dass sie völlig übertrieben waren. Sie lagen erheblich über dem, was realistisch war."
Der Absturz der Automobilbranche geht also nur zu einem Teil auf den weltweiten Abschwung zurück. "Die globale Wirtschaftskrise hat einige Unternehmen der Autoindustrie nur schneller an das Ende der Sackgasse geführt", erklärt Schwegmann. "Falsch abgebogen sind sie schon vorher."
Besonders werden die USA laut der Studie von dieser Strukturkrise gebeutelt. Bei amerikanischen Autobauern und Zulieferern brachen die Umsätze seit 2007 bereits um 23,1 Prozent ein, in Westeuropa betrug das Minus 12,5 Prozent. Hart trifft der Niedergang auch die in den vergangenen Jahren boomenden Märkte wie Russland und Brasilien (minus 45 Prozent). Dabei träumten russische Politiker und Wirtschaftsführer noch vor kurzem, Russland könnte Deutschland bald als größten Automarkt in Europa ablösen. Selbst China bekommt die Folgen der Krise zu spüren: Das Wachstum verlangsamt sich in der Volksrepublik auf nur noch fünf Prozent.
Es könnte Jahre dauern, bis die Wende geschafft ist. Nach Angaben von Alix wird erst im Jahr 2014 wieder das gleiche Absatzniveau erreicht wie im Vorkrisenjahr 2007 - und das auch nur, wenn die Konjunktur bald wieder anspringe. Setzt die Erholung nicht oder erst später ein, stagniert der Fahrzeugabsatz auf einem niedrigen Niveau von 13 Millionen Autos in Europa - das sind drei Millionen Fahrzeuge weniger als 2007.
Nach Ansicht der Studienverfasser ist eine Marktbereinigung überfällig. Eine ganze Reihe von Unternehmen werde die kommenden Jahre nicht überstehen und als selbständige Akteure von der Bildfläche verschwinden, entweder durch Pleiten oder Übernahmen.
Dennoch sieht Schwegmann eine Zukunft für die Branche insgesamt. Anders als einzelne Unternehmen werde sie nicht untergehen, betont der Autoexperte - und fügt hinzu, auch das düstere Bibelzitat gehe ja noch weiter. Tatsächlich heißt es in Psalm 23: "Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht - ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht."