Dumpinglohn-Streit EuGH-Urteil verärgert Linke und Gewerkschafter

Sprengstoff für die Billiglohn-Debatte: Der EuGH hat Bund, Ländern und Gemeinden untersagt, die Vergabe von Aufträgen an die Einhaltung von Tarifverträgen zu koppeln. Gewerkschafter beklagen einen "Schlag ins Gesicht der Arbeitnehmer". Sie übersehen: Die bisherige Regelung hilft Großkonzernen.

Berlin - Die Reaktion war reflexartig und leicht vorherzusehen: IG-Bau-Chef Klaus Wiesehügel hat das Urteil des EuGH mit drastischen Worten verurteilt. "(Das) ist ein weiterer Schritt hin zum Raubtierkapitalismus, der dazu führen wird, dass die Bürger Europa endgültig ablehnen", kommentierte er.

Ähnlich empört äußerten sich Vertreter der Linken. "Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern werden immer weiter unter die Räder kommen", erklärte der europapolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, Diether Dehm. Zur Sicherung der Tarifstandards in Deutschland müssten sofort Gegenmaßnahmen gegen das "Skandalurteil" eingeleitet werden. Er forderte den Bundestag auf, aus Protest die Ratifizierung des Lissabon-Vertrags auszusetzen.

Was war geschehen, was steht eigentlich im Urteil?

Der Richterspruch geht auf ein Bauprojekt im niedersächsischen Universitätsstädtchen Göttingen zurück. Dort hatten die Stadtväter den Neubau der Justizvollzugsanstalt Göttingen-Rosdorf beschlossen. Das Unternehmen Objekt und Bauregie, das bei dem Auftrag zum Zuge kam, hatte sich verpflichtet, seine Mitarbeiter so zu entlohnen wie es der örtliche Tarifvertrag vorsieht. Ein polnischer Subunternehmer zahlte dann allerdings seinen 53 Arbeitern weniger als die Hälfte dessen. Die Stadt forderte daraufhin von Objekt und Bauregie eine Vertragsstrafe von knapp 85.000 Euro, also rund ein Prozent der Auftragssumme - mit Hinweis auf die Bestimmungen des niedersächsischen Tariftreuegesetzes. Dies widerspreche europäischem Recht, befand nun der EuGH. Der betreffende Bautarifvertrag in Deutschland sei nicht für allgemeinverbindlich erklärt worden (Az C-346/06).

Bollwerk gegen Dumpinglöhne?

Die Auswirkungen des EuGH-Urteils für Deutschland dürften erheblich sein. Denn damit dürften auch die Tariftreuegesetze in den anderen Bundesländern zur Disposition stehen. Für die Linke und Gewerkschafter sind diese Tariftreuegesetze das letzte Bollwerk gegen Dumpinglöhne. Das gilt umso mehr, seit sich das Projekt eines allgemeinen verbindlichen Mindestlohns zerschlagen hat. Skrupellose Niedriglohnzahler wären so wirksam daran gehindert, Unternehmer aus dem Rennen zu werfen, die ordentliche Löhne bezahlen - wenigstens bei der Vergabe öffentlicher Aufträge.

Gewerkschafter berufen sich auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2006. Die Karlsruher Richter stellten am Beispiel des Berliner Vergabegesetzes unter anderem fest, dass gesetzliche Regelungen zur Tariftreue bei öffentlichen Aufträgen Gemeinwohlzielen von "überragender Bedeutung" dienten. Im Mittelpunkt standen für sie: Die Verhinderung eines Verdrängungswettbewerbs über die Lohnkosten, die Stützung der Ordnungsfunktion der Tarifverträge, die Erhaltung als wünschenswert erachteter Sozialstandards und die Entlastung der Sozialsysteme.

Dem widersprechen die EuGH-Richter im Prinzip auch gar nicht - nur fordern sie eine Regelung, die mit den Regeln der Gemeinschaft in Einklang steht. Möglichkeiten, eine gerechte Entlohnung sicherzustellen, hätten die öffentlichen Auftraggeber genug. Den Hinweis auf einen allgemein verbindlichen Tarifvertrag zum Beispiel, oder einen Mindestlohn, der im Rahmen der EU-Entsenderichtlinie festgeschrieben werden könnte. Natürlich käme auch ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn in Frage - aber der ist in Deutschland nicht konsensfähig.

Zersplitterung des EU-Binnenmarkts verhindern

Dem im Kern protektionistischen Ansatz der Gewerkschaften mochten die EuGH-Richter dagegen nicht folgen. Aus ihrer Sicht gilt ein Tarifvertrag, der nach festen, EU-weiten Regeln für allgemeinverbindlich erklärt wurde, für alle Arbeitgeber - auch wenn sie nicht Mitglied des regionalen Tarifverbandes sind. Das Vergabegesetz des Landes Niedersachsen verlange dagegen, dass der Auftragnehmer und auch alle von ihm beauftragten Subunternehmer mindestens den örtlichen Tariflohn bezahlen. Deshalb sei es nicht mit den EU-Bestimmungen über die Entsendung von Arbeitnehmer in andere Staaten vereinbar und verstoße gegen den Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs.

Abseits der rechtlichen Argumente sprechen auch etliche politische Gründe dafür, den EuGH-Richtern in ihrer Auffassung zu folgen. Denn aus Sicht des Luxemburger Gerichts gilt es auch, den Binnenmarkt der Gemeinschaft zu erhalten und zu fördern. Alles, was dabei der Zersplitterung Vorschub leistet, kann nicht im Sinne des EU-Rechts sein. "Man stelle sich vor, in jeder Region würden ortsnahe Regeln gelten", erklärt der binnenmarktpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Europäischen Parlament, Andreas Schwarz. "Kleinere Unternehmen hätten dann gar keine Chance mehr, sich europaweit an Ausschreibungen zu beteiligen - weil der Aufwand für die Recherche der örtlichen Gegebenheiten drastisch anwachsen würde." Naturgemäß hat aber die Mehrzahl der Bewerber das Nachsehen - die Mehrheit müsste also für nichts großen Aufwand betreiben.

Tariftreuegesetz hilft Großkonzernen

In letzter Konsequenz würde die Tariftreueregel also dazu führen, dass nur die Großkonzerne im Wettbewerb überleben, die sich Niederlassungen mit Ortskenntnissen leisten können - also genau die Firmen, die Wiesehügel wohl meint, wenn er von Raubtieren spricht.

Nordrhein-Westfalen hat bereits 2006 sein Tariftreuegesetz aufgehoben, weil es sich in der Praxis als nicht durchsetzbar erwiesen hatte. 70 Prozent der Kreise und 96 Prozent der Gemeinden hatten die Einhaltung der Tariftreue gar nicht geprüft, wie das "Handelsblatt" berichtete. 80 Prozent der Vergabestellen hätten gar von "erheblichen Schwierigkeiten bei der Abgrenzung der jeweils anzuwendenden Tarifverträge" berichtet. Auf Bundesebene war ein solches Gesetz im Juli 2002 während des Bundestagswahlkampfes am Widerstand der unionsgeführten Länder im Bundesrat gescheitert. Der Vorgang entbehrte nicht einer gewissen Ironie: Seinerzeit hatte der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) mit den Gegnern des Gesetzes gestimmt, obwohl er in Bayern selbst ein Tariftreuegesetz durchgesetzt hatte.

Die neue Sachlage dagegen könnte wider eigenes Erwarten sogar den Linken in die Hände spielen, vermutet Arbeitsmarktexperte Bläsing: "Die Diskussion um einen Mindestlohn dürfte ganz neuen Auftrieb bekommen."

Mit Reuters und AFP

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