KONJUNKTUR Einfach keine Lust
Der Kanzler informierte sich vor Ort und reichte sein Wissen weiter. Betriebsräte in Hannover, so berichtete Helmut Schmidt seinen Ministern während der Etatberatungen in Bonn, hätten ihm erklärt, gar so drückend könne die Arbeitslosigkeit nicht sein.
Schmidt zitierte auch gleich ein Beispiel, das ihm seine Gesprächspartner aus der Arbeitswelt vermittelt hatten: Von 40 Bewerbern aus einer niedersächsischen Arbeitsamtskartei sei nur einer wirklich bereit gewesen, einen Job anzunehmen. »Die Leute«, referierte der Kanzler, »haben einfach keine Lust zu arbeiten.«
Bundesbankpräsident Otmar Emminger, Gast in der Bonner Runde, steuerte eigene Erlebnisse bei. Selbst seinem renommierten Institut sei es nahezu unmöglich, genügend Angestellte zu finden. Das Wirtschaftswachstum, sorgt sich Emminger, werde durch einen Mangel an Fachkräften begrenzt.
Trotz einer Arbeitslosenziffer von rund 870 000, so die gemeinsame Erleuchtung des Ministerzirkels am Montag vor Pfingsten, herrsche im Lande so etwas wie Vollbeschäftigung. Mangel an Arbeitskräften habe in einigen Branchen schon zu »beinahe totalen Engpässen« geführt.
Den Optimismus des zuständigen Sozialministers Herbert Ehrenberg, eine dauerhafte Konjunkturblüte werde schließlich auch die Arbeitslosenstatistik verschönen, mochten die Wirtschaftsdiagnostiker Schmidt und Emminger denn auch nicht teilen. Im letzten größeren Aufschwung (1969) hatten die Unternehmen selbst die Schwächsten unter den Arbeitswilligen noch eingestellt. Diesmal, so steht zu befürchten, werden sich die Personalchefs zurückhalten: Die Ungelernten, die Älteren und viele Frauen sind Ihnen einfach zu teuer.
Die Bonner haben sich damit abgefunden: Vollbeschäftigung ist nicht mehr das, was sie mal war. Zufrieden konstatierten sie, daß nach mehreren Ankurbelungsprogrammen der Konjunkturzug fährt -- zwar an den Problemgruppen vorbei, aber endlich aus eigener Kraft.
Mit Genugtuung nahm die Kabinettsrunde, die sich zunächst nur mit den Haushaltsansätzen für 1980 befassen wollte, die Erfolgsmeldungen aus Kontoren und Fabriken zur Kenntnis. Die Investitionen wuchsen übers Jahr um mehr als zwölf Prozent. Bei der Industrie gingen elf Prozent mehr Aufträge als im Vorjahr ein. Und der Außenhandel »läuft überraschend positiv« (Emminger).
So hofft die Bonner Regierungskoalition, mit einem realen Wachstum von mindestens vier Prozent ins Wahljahr 1980 hineinzusteuern. Nur eines macht den Konjunkturlenkern Sorge: Die Preise -- und mit ihnen die Löhne -- könnten rasch außer Kontrolle geraten.
Am Tage der Kabinettssitzung meldeten die nordrhein-westfälischen Statistiker, daß sich im Mai die Lebenshaltung der Bürger bereits um 3,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr verteuerte -- und die Tendenz ist steigend.
Der Preisschub wurde vor allem durch die Heizölpreise ausgelöst, die um 74,6 Prozent in die Höhe schnellten. Nur ein halbes Jahr nach dem Rekord-Tiefstand von 2,1 liegt der Preisindex für die gesamte Republik schon bei 3,8 Prozent.
Düster prophezeite der Kanzler seinen Ministern, die Rohölpreise könnten durchaus auf über 21 Dollar pro Barrel klettern. Derzeit liegt die Mindestforderung der Opec-Länder bei 14,50 Dollar.
Neue Preiserhöhungen für Öl und Benzin aber könnten den Konjunkturmotor, die Automobilproduktion, ins Stottern bringen. Die Aufschläge des Frühjahres, rüffelte Emminger die Auto-Manager, könnten ihnen bald leid tun.
Auch ohne die Preistreiberei der Ölkonzerne und der Opec-Herren »mehren sich die Preisrisiken« (Lambsdorff), schwindet die Hoffnung im Kanzleramt dahin, den Wählern einen Aufschwung mit gezähmtem Preisauftrieb vorzuführen. Als zusätzliche Treibsätze erkannten die Kabinettsexperten
* den Boom am Bau mit Preisaufschlägen von zwölf Prozent;
* den Abwertungseffekt der Mark gegenüber dem Dollar, der die Einfuhren -- vor allem von Rohstoffen -- binnen weniger Monate um 11,6 Prozent teurer machte;
* die am 1. Juli fällige Erhöhung der Mehrwertsteuer, die den Verbraucher statistisch weitere 0,7 Prozent für den täglichen Einkauf kostet.
Das Rechenergebnis: Am Jahresende wird die Preissteigerungsrate mindestens bei vier, eher aber bei fünf Prozent liegen.
Die dürre Zahl ist von politischer Brisanz. Denn steigende Preise bei einem wachsenden Mangel an willigen und fähigen Arbeitnehmern könnten die Gewerkschaften, die sich bei der letzten Tarifrunde noch mit kargen Aufschlägen um vier bis fünf Prozent begnügt hatten, noch einmal zum Nachdenken über die Einkommensverteilung anregen.
Dem Kanzler ist klar, daß den Arbeitnehmervertretern in den kommenden Monaten Bescheidenheit um so schwerer fallen wird, je weiter sich in der Zwischenzeit die ausgehandelten Tarifsätze und die tatsächlich gezahlten Löhne auseinanderentwickelt haben Besorgt erkundigte er sich bei seinem Arbeitsminister, wie diese »Lohndrift« gegenwärtig aussehe.
Ehrenberg bestärkte die Befürchtungen des Kanzlers. Die Einnahmen-Zuwächse der Rentenversicherungen liegen um ein Drittel über der vorausberechneten Marke -- ein deutliches Indiz dafür, daß die Unternehmer schon jetzt bereitwillig mehr zahlen, als die Gewerkschaften erstritten haben.
Damit verstärkt sich der Druck auf die Arbeitnehmerfunktionäre, spätestens beim nächsten Tarifpoker um die Jahreswende entschlossen nachzufassen; ein neuer Dreh an der Preisspirale wäre in Sicht. Der Kanzler befürchtet einen heißen Winter. »Die Zeit von Weihnachten bis Ostern«, orakelte ein Teilnehmer der Kabinettssitzung, »wird schwierig.«
Den Regierungschef plagt auch die Erinnerung an die Ereignisse von 1969, als sich die Arbeitnehmer nach mäßigen Abschlüssen im Boom per Nachschlag ihren Anteil holten. Eine Neuauflage soll es nach dem Willen des Bonner Kabinetts nicht geben.
So will der Kanzler selbst in internen Gesprächen Gewerkschafter und Unternehmer bearbeiten, die Fehler der Vergangenheit zu meiden. Den Arbeitgebern will er verklaren, daß sie strenge Preisdisziplin halten und betrieblich vereinbarte Lohnaufschläge vermeiden sollten, um die Gewerkschaften nicht, zum Nachweis ihrer Existenzberechtigung, in Zugzwang zu bringen.
Den Arbeitnehmerfunktionären will Schmidt nachdrücklich vorhalten, daß ihr Spielraum in den Lohnverhandlungen durch die Preisexplosion bei Ölprodukten und Rohstoffen begrenzt ist. Schmidts Kernthese: »Geld, das für Öl verbraucht ist, kann man hier nicht noch mal verteilen.«
Höhere ökonomische Einsicht und der Wille zum Verzicht werden sich freilich nicht überall und nicht in voller Härte durchsetzen. Für die eigene Mannschaft jedenfalls läßt auch der Kanzler Ausnahmen zu.
So wird eine von Postminister Kurt Gscheidle für den nächsten April geplante Senkung der Telephongebühren zunächst verschoben, um der Bundeskasse zusätzliche Einnahmen zu sichern. Schmidt zu seinem Posthalter: »Kurt, mach das doch erst im Juli« -- gerade noch rechtzeitig vor den Wahlen.