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Schweizer Banken Erben des Holocaust

Neue Dokumente belegen: Die Schweiz hat an den Nazis prächtig verdient - und an den Opfern des Holocaust. Auf Schweizer Konten sollen noch immer große jüdische Vermögen lagern, deren Besitzer umgebracht wurden.
aus DER SPIEGEL 26/1996

Jahrzehntelang hatten die Schweizer Banken getrickst und Zeit geschunden, um Leute, die nur an ihr vermeintliches Eigentum wollten, als dreiste Bittsteller abzuwimmeln.

Doch dann stießen sie, in diesem Frühjahr, auf Gegenspieler von anderem Kaliber. Der Jüdische Weltkongreß war das endlose Finassieren der Eidgenossen leid geworden, er hatte in den USA einen einflußreichen Verbündeten gefunden.

Der New Yorker Senator Alfonse D'Amato, Vorsitzender des Bankenausschusses, veranstaltete Ende April ein Hearing über den Verbleib jener angeblich »enormen Summen«, die nach Ansicht von Holocaust-Hinterbliebenen und des Weltkongresses noch immer in den Safes schweizerischer Geldinstitute liegen.

Es sei »verabscheuenswürdig, Opfer des Holocaust und deren Erben zu bestehlen«, stimmte D'Amato die Veranstaltung ein. Die geriet, wie geplant, zum Tribunal gegen die Schweizer Ban- ken.

Diese hätten, so der Senator, das Bankgeheimnis, das einst eigens für die Opfer von Diktaturen eingeführt worden sei, später als Waffe gegen ebenjene Opfer und deren Nachkommen benützt und damit deren Zugang zu den Konten blockiert. Und er präsentierte auch eine Zeugin für seine These: die 74jährige, aus Rumänien stammende Jüdin Greta Beer.

Die alte Dame schilderte unter Tränen, wie sie nach dem Krieg mit ihrer Mutter in der Schweiz von Bank zu Bank pilgerte, um das Geld wiederzufinden, das der verstorbene Vater, ein reicher Textilindustrieller, dort auf Nummernkonten deponiert hatte. Doch nirgendwo fand sich auch nur ein Franken für sie.

»50 Jahre nach dem Holocaust, nachdem Deutschland und seine Kollaborateure längst ihre Verantwortung anerkannt und Entschädigung geleistet haben, bleibt die Haltung der Schweizer Banken eine schmachvolle Ausnahme«, befand der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Edgar Bronfman.

Es geht, nach Bronfmans Ansicht, um Milliarden. Senat und US-Regierung forderte er auf, den Schweizer Banken endlich bei der Erfüllung ihres Versprechens nachzuhelfen, das sie ihm einmal gegeben hätten - daß sie nämlich »keinen Franken behalten wollen, der ihnen nicht gehört«.

Gegen solch geballte Attacken hatte der Vertreter der Schweizerischen Bankiervereinigung, Hans Bär, einen schweren Stand - obwohl selbst Jude, der während des Krieges aus der Schweiz nach Amerika emigriert war. Er versprach, daß jede Einlage in Schweizer Banken, die einem Holocaust-Opfer gehören könnte, den rechtmäßigen Erben oder einer geeigneten Institution übergeben würde.

Zugleich aber warnte Bär vor Spekulationen über Phantasiesummen, die nur zu Enttäuschungen führen würden. Greta Beer lud er persönlich in die Schweiz ein, um ihr bei der Klärung ihrer Probleme behilflich zu sein.

Zum erstenmal wird nun versucht, umfassend zu klären, wieviel Vermögen von Holocaust-Opfern tatsächlich noch auf Schweizer Konten lagert. Die Banken hatten stets bestritten, daß es sich um große Summen handelte.

Jetzt liegen neue Dokumente vor. Publikumswirksam präsentierte D'Amato ein bisher geheimes Papier aus dem Nationalarchiv in Washington. Es zählt, mit Datum vom 9. April 1945, mehrere Dutzend Namen von Bürgern aus Balkanländern auf, die bei der »Société Générale de Surveillance« in Genf Gelder angelegt hatten.

Es war nur eines von unterdessen Tausenden Blättern Papier, die das Büro D'Amato und der Weltkongreß mit Hilfe professioneller Archivforscher und freiwilliger Helfer ausgegraben haben.

Die Liste aus Genf zeigt: Bei den Einlagen handelt es sich nicht um Kleinkram, wie die Banken stets behauptet hatten. Da fand sich etwa ein Isac Fuldstein aus Bukarest, der 736 792,60 Franken deponiert hatte, oder eine Firma Agai & Landau aus Budapest mit fast 900 000 Franken.

Zusammen machten die Einlagen um die neun Millionen Franken aus - nach heutigem Wert durchaus vergleichbar mit dem, was die Schweizer bislang insgesamt an entsprechenden Geldern gefunden haben wollten, wie D'Amato süffisant vermerkte.

Denn die Banker hatten ja, wie sie immer wieder beteuern, schon mehrfach ihre Bestände nach erbenlosem Vermögen durchforstet.

Nach Kriegsende, als ein amerikanischer Regierungsexperte bereits von »vermutlich etwa 500 Millionen Dollar« sprach, die im Holocaust umgekommene Juden in die Schweiz verbracht hätten, fanden deren Banken gerade mal 208 000 Franken »erblosen Vermögens«.

Erst 1962 kam es nach langem Gezerre zu einem sogenannten Bundesbeschluß. Dieser verpflichtete Banken, aber auch Versicherungen und Treuhänder, Vermögen von Ausländern zu melden, von denen seit dem 9. Mai 1945 zuverlässige Nachrichten fehlten und daher vermutet werden konnte, daß sie Opfer rassischer oder religiöser Verfolgung geworden seien.

Daraufhin trafen bei der Meldestelle Mitteilungen über insgesamt 9 469 882 nun doch noch als herrenlos aufgestöberte Franken ein. Andererseits meldeten sich innerhalb der vom Gesetz vorgegebenen Zehnjahresfrist über 7000 Betroffene, die Ansprüche auf Vermögen Verschwundener stellten. Fast 90 Prozent der Bittsteller wurden mangels beweiskräftiger Unterlagen abgewiesen, der Rest erhielt rund siebeneinhalb Millionen ausbezahlt. Zwei Millionen übriggebliebene Franken gingen an jüdische Gemeinden und die Schweizerische Flüchtlingshilfe.

Damit hielten die Schweizer die leidige Sache für erledigt. Spätere Bittsteller wurden zum Teil durch hohe Gebühren für Suchanträge - sie summierten sich häufig auf Tausende Franken - abgeschreckt. Einige Banken verlangten Totenscheine von KZ-Opfern.

Allzu Hartnäckige wurden oft rüde abgefertigt, etwa mit der Begründung, es gebe keine Sonderbehandlung für Opfer - deutsche Juden wurden mit Nazis gleichgestellt, deren Konten auf alliierte Veranlassung gesperrt worden waren.

Ein Banker wird gern mit dem Spruch zitiert, die verschwundenen Juden hätten in der Schweiz ja nicht nur Guthaben, sondern auch Schulden hinterlassen. Auch empörende Versicherungsfälle wurden bekannt: Die Basler Lebens-Versicherungs-Gesellschaft hatte den Rückkaufwert der Police eines jüdischen Emigranten auf deren Anforderung noch 1944 an die Gestapo ausbezahlt.

»Hunderte Millionen von Dollar und Vermögenswerte jeder Art sind ab 1933 von jüdischen Gemeinden, Firmen und Familien bei Schweizer Banken deponiert worden«, schreibt der engagierte Linke Jean Ziegler in seinem Buch »Die Schweiz wäscht weißer«. Astronomische Summen, die nach dem Gesetz als »ohne bekannte Gläubiger« gelten, seien in das Eigentum der Schweizer Banken übergegangen.

7,7 Milliarden Franken an Holocaust-Guthaben ortete voriges Jahr eine israelische Zeitschrift in schweizerischen Depots - freilich ohne jeden Beweis. Der Jüdische Weltkongreß verlangte energisch eine Offenlegung geheimer Konten.

Da drängte die Bankiervereinigung ihre Mitglieder noch einmal, gründlich nach »nachrichtenlos« genannten Einlagen zu forschen - und zwar allen, die seit mindestens zehn Jahren verwaist seien.

Anfang Februar gab sie das Ergebnis bekannt: Bei 51 Banken seien 775 solcher ruhenden Konten mit einem Gesamtbestand von 38,74 Millionen Schweizer Franken gefunden worden. Die könnten freilich längst nicht alle Holocaust-Opfern zugeschrieben werden - es seien Anleger vom Baltikum bis nach Südamerika.

Die Aktion erreichte genau das Gegenteil dessen, was beabsichtigt war: Sie wurde von den Betroffenen keineswegs als allerletzte Anstrengung der Eidgenossen gewürdigt, das Problem ein für allemal zu bereinigen, weckte vielmehr neues Mißtrauen.

Wenn die Schweizer zunächst gar nichts, dann mal knapp 10 Millionen, schließlich nach 50 Jahren auf massiven Druck hin - allerdings bei geänderter Fragestellung - noch einmal fast 40 Millionen an bislang verschollenen Schätzen zutage brächten, was, so der Verdacht der Bankenkritiker, verberge sich dann womöglich noch in ihren Kellern?

Lügner nannte Bronfman die Schweizer, neuen Fund tat er als »versuchte Bestechung« ab. Er ging, zusammen mit dem US-Senat, auf Konfrontationskurs.

Konkretes über heimliche Holocaust-Konten enthalten die Dokumente, die nun vorgelegt wurden, zwar nicht. Aber sie rücken die Rolle der Schweiz in der Nazi-Zeit noch weiter ins Zwielicht als bisher schon.

Dokument um Dokument, gezielt gestreut, enthüllt, wie toll es die neutralen Schweizer mit den Nazis trieben und wie abgefeimt sie es verstanden, dies vor den Alliierten zu vertuschen.

»Die Schweiz diente als sicherer Hafen für Flüchtlinge und Kapital der Achsenmächte«, stellt ein geheimes Papier des State Department vom April 1946 fest. »In mindestens 37 Fällen machte die Crédit Suisse falsche Angaben über die wahren Eigentümer von Depots«, zählt ein anderes auf. Und der Schweizer Bankverein wird bereits 1944 in einem vertraulichen Konsulatsbericht beschuldigt, illegalen Handel mit von den Nazis geplünderten Aktien der Royal Dutch Shell getrieben zu haben.

Es kommt noch dicker: Schweizer Banken versilberten Wertpapiere, die deutsche Besatzer bei britischen Bankfilialen in Paris erbeutet hatten.

Die Schweizer Nationalbank betrieb im Dienste des NS-Regimes während des ganzen Krieges einen äußerst lukrativen - und, wie voller Stolz vermerkt wurde, die eigene Währung stabilisierenden - Handel mit Gold aus der Reichsbank in Berlin. Das aber war großteils geraubt worden: Die Nazis verkauften über die Schweiz Gold im Wert von über 1,6 Milliarden Franken, zehnmal soviel, wie die Reichsbank vor dem Krieg insgesamt an Goldreserven besessen hatte.

Dabei handelte es sich nicht nur um die Goldschätze der angeschlossenen Österreicher und Tschechen, sondern auch um geraubtes Gold aus den Niederlanden und Belgien. Als die Schweizer unter alliiertem Druck darum baten, ihnen die Unbedenklichkeit des Edelmetalls zu bescheinigen, schmolz die Reichsbank belgische Barren um und versah sie mit deutschen Vorkriegsstempeln.

Später dealten die Schweizer sogar mit ebenso bearbeitetem Schmuck- und Zahngold aus Konzentrationslagern. Zum Teil prägten sie aus der Nazi-Beute selber Münzen, womit die Herkunft des Raubgutes endgültig verwischt war. Die Holländer aber vermissen, wie sie erst jetzt dem US-Senat meldeten, bis heute mehr als die Hälfte ihrer von den Nazis gestohlenen 146 Tonnen Gold.

Daß die deutsche Kriegswirtschaft ohne die Gold- und Devisengeschäfte mit der Schweiz, die zur Beschaffung lebenswichtiger Rohstoffe unabdinglich waren, viel eher zusammengebrochen wäre, bescheinigten nach dem Krieg angeklagte NS-Funktionäre ebenso wie alliierte Agenten. Deren Regierungen forderten in Bern erfolglos das Ende der Kooperation - die so weit ging, daß Deutschland wichtige Teile für seine V-1- und V-2-Raketen vom neutralen Nachbarn bezog.

Ein besonderes Kapitel ist das Nazi-Fluchtgeld, das gegen Ende des Krieges massiv in die Schweiz strömte und im Juli 1945 von amerikanischen Quellen laut einem Telegramm der US-Botschaft in Bern auf die astronomische Summe von 16 Milliarden Franken geschätzt wurde. Seriöse Historiker beziffern den geheimen NS-Hort auf gut 2 Milliarden Franken, verstreut über 10 000 Nummernkonten.

Im Spätsommer 1944 hinterlegte Hermann Göring 16 Millionen Reichsmark unter anderem bei der Graubündner Kantonalbank. Eines seiner Pseudonyme war »Dr. Ingmann«.

Bei der Treuhandgesellschaft Johann Wehrli & Cie in Zürich deponierte die deutsche Abwehr 42 Millionen Franken - und die Treuhänder beschafften auch Visa für deutsche Agenten. Der Kurort Davos - mit großen Hotels in Reichsbesitz - war ein Dorado für Nazi-Bonzen, 1700 prominente Deutsche überstanden dort fern vom Schuß das Kriegsende.

Die Papierflut förderte zutage, daß sich die Firma Bally an der Arisierung jüdischer Schuhgesch"fte in Berlin beteiligt, die Waffenschmiede Oerlikon-Bührle aufs engste mit deutschen Rüstungsfabriken kooperiert und bis April 1945 Kriegsmaterial ans Reich geliefert hatte. Konzernherr Emil Bührle bediente sich derweil eifrig an »entarteter Kunst«, die das NS-Regime in der Schweiz verhökern ließ.

Die Schlammlawine aus dem Archiv drohte den Bankenplatz Schweiz, heute Nummer eins in der Welt, nachhaltig in Verruf zu bringen. Mit den alten Geschichten kamen auch andere Affären, wie Steuerflucht, Drogengeldwäsche und gehortetes Blutgeld von Diktatoren - »infame Klientel«, so die New York Times - von Marcos bis Mobutu, wieder hoch.

Also unterschrieb die Bankiervereinigung schon wenige Tage nach dem Senatshearing ein »Memorandum of Understanding« mit dem Jüdischen Weltkongreß. Danach soll eine unabhängige Kommission von sechs bedeutenden Persänlichkeiten - drei von den Banken, drei von der »World Jewish Restitution Organization« gestellt - mit Hilfe von zugelassenen Betriebsprüfern alle einschlägigen Unterlagen bei den Banken unbehindert einsehen können.

Die Kommission soll mit dem Banken-ombudsmann Hanspeter Häni, der seit Beginn dieses Jahres als Anlaufstelle für Holocaust-Nachkommen dient, die verschollenen Vermögen suchen. Bei Häni in Zürich sind seither etwa 1600 Anfragen aus aller Welt eingegangen.

Wer sich meldet, muß zunächst glaubhaft machen, »daß ein Konto, Depot oder Schrankfach bei einer Bank in der Schweiz noch besteht oder bestehen könnte«. Dann erhält er einen fünfseitigen Fragebogen, der auszufüllen und, samt Dokumenten, wieder einzuschicken ist - und, so Punkt 3.8, der Antragsteller muß einen »Bankscheck CHF 300,--» dazulegen.

Mit dieser »Schutzgebühr«, begründet Häni, der bislang mehr als 400 ausgefüllte Fragebögen zurückerhalten und größtenteils bereits an die Banken weitergereicht hat, soll von mißbräuchlichen Anfragen abgeschreckt werden. Im begründeten Einzelfall können die 300 Franken, denen »tatsächliche Kosten bis zu 10 000 Franken« gegenüberstehen, auch erlassen werden.

Manche Anfrage, die auf den ersten Blick mißbräuchlich anmutet, hat dann doch einen todernsten Hintergrund - wie der Brief eines Häftlings aus dem US- Knast, der an Geld in der Schweiz wollte: Er war, wie sich herausstellte, in einem KZ geboren worden.

Die Banken lassen sich diesen Kundendienst jetzt eine Menge kosten: Sie bezahlen sowohl die mit dem Weltkongreß vereinbarte Kommission als auch den Ombudsmann.

Banker Bär führt dies auch auf eine »andere Gesinnung« zurück, die erst mit der Nachkriegsgeneration herangewachsen sei. Man hätte dies alles, bedauert er heute, natürlich schon »viel früher und mit mehr Charme und Delikatesse erledigen können«.

Dafür ist es jetzt zu spät. US-Präsident Bill Clinton hat den Beteiligten Unterstützung zugesagt, die amerikanische Regierung macht Druck auf die Schweiz. Und auch im eigenen Land fordern - insbesondere jüngere - Politiker, endlich das bislang so gern verdrängte Kapitel Vergangenheitsbewältigung aufzuarbeiten.

»Nach 1945 hat die Schweiz mit Geschick und Zynismus ihre Felle bis zum Kalten Krieg hinübergerettet«, kritisiert der sozialdemokratische Abgeordnete Paul Rechsteiner, 44. Er zählt den Umgang seiner Landsleute mit den Juden im Krieg zu den »dunkelsten Kapiteln der jüngeren Schweizer Geschichte«.

Rechsteiner erwartet, daß sogar die bislang stets bremsenden Banken, wenn auch nur aus Gründen der Schadensbegrenzung, ihren Widerstand aufgeben. Sie sollten, verlangt er, ihre Archive öffnen - denn »die Beweislast, wieviel Holocaust-Vermögen hier noch liegen mag, liegt nun nicht mehr bei den Opfern. Sie liegt beim Bankenplatz Schweiz«.

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