IMMOBILIEN Erbschein aus dem KZ
Inge Jollos war zehn Jahre alt, als sie mit ihrer zwölfjährigen Schwester Eva an der Reling der MS »Deutschland« lehnte und den Menschen zuwinkte, die dem nach New York auslaufenden Schiff hinterhersahen. Vater und Mutter standen still und ernst hinter den beiden Mädchen. Sie winkten nicht. Für sie war es ein Abschied für immer.
Das war im Februar 1934, und Victor Jollos verließ nicht freiwillig mit seiner Familie das Land, das für ihn Zuhause war. Er hatte am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin-Dahlem in der Erbforschung gearbeitet. Als er sich weigerte, die rassische Ideologie der Nationalsozialisten zu predigen, wurde er von den Nazis schikaniert, mußte seine Arbeit aufgeben und entschloß sich auszuwandern.
Seine neue Heimat ist ihm immer fremd geblieben, und erfolgreich war er im Land der unbegrenzten Möglichkeiten auch nicht. Victor Jollos starb 1941, seine Witwe, eine Konzertpianistin, verdiente den Lebensunterhalt für sich und die Kinder mit Klavierstunden. Sie starb 1946.
Inge Jollos - sie heißt nach ihrem zweiten Mann Irving - ist inzwischen 73. Beide Ehemänner sind längst tot; die Witwe lebt mit ihrem Sohn in bescheidenen Verhältnissen in New York. Sie wartet auf Geld aus Deutschland.
Da auch ihre Schwester Eva nicht mehr lebt, ist Irving Alleinerbin eines Immobilienvermögens, das ihre Großmutter Frieda Rappaport in Berlin und Umgebung besaß. Doch die Nazis hatten Friedas Grundbesitz nach ihrem Tode zwangsversteigert, und nun verlangen die deutschen Behörden einen Beweis, daß die Zwangsversteigerung »verfolgungsbedingt« war.
Schriftliche Belege sind kaum aufzutreiben. Seit Jahren bemühen sich Anwälte in den USA und in Deutschland, wenigstens eine Entschädigung für die Alleinerbin zu erstreiten. Irving, die als Schauspielerin in Amerika auch keinen Reichtum anhäufen konnte, wäre zufrieden, wenn wenigstens für einen Teil des früheren Grundbesitzes der Großmutter Geld fließen würde. »Give me the money and let me go«, sagt sie mit einer Gelassenheit, die der Resignation entspringt.
Aber so einfach ist das nicht: Gebt mir das Geld und laßt mich gehn. Das Unrecht, das zwischen 1933 und 1945 geschehen ist, hat komplizierten Ballast hinterlassen.
Während des Nazi-Regimes wurden deutsche Juden in großem Stil und auf vielfältige Weise um ihr Eigentum gebracht. Hunderttausende wurden im Zuge der verbrecherischen Rassenpolitik verschleppt, ermordet - der Staat eignete sich ihr Vermögen an oder ließ es zwangsversteigern. Andere, die Deutschland noch verlassen konnten, verloren ihren Besitz auf ähnliche Art und Weise. Jüdische Geschäftsleute wurden durch Schikanen und Terror zur Aufgabe gezwungen; ihre Firmen und Grundstücke wurden »arisiert«.
Nach dem Zusammenbruch des Nazi-Reiches haben viele ihr Eigentum wiederbekommen oder wurden entschädigt - im Westen Deutschlands. In der DDR dagegen traten Partei und Regierung immer mit dem Anspruch auf, das bessere Deutschland zu verkörpern, das keine Schuld auf sich geladen habe und deshalb auch zu keiner Wiedergutmachung verpflichtet sei.
Das SED-Regime verweigerte nicht nur jedwede Entschädigungszahlungen, sondern fügte dem alten Unrecht neues hinzu: Der gestohlene jüdische Besitz wurde nun das, was die SED-Genossen in ihrer verlogenen Sprache volkseigen nannten.
Und genau dies sind die vertracktesten Fälle. Es ist ein Teil des bösen Erbes, das die DDR hinterlassen hat.
Das wiedervereinigte Deutschland hat die Verpflichtung übernommen, den jüdischen Opfern der Nazi-Willkür zu ihrem Recht zu verhelfen. Dabei geht es vordergründig um Millionen, in Wahrheit jedoch um Milliarden. Bis 1933 lebten in Deutschland etwa 570 000 Juden. Viele besaßen Geschäfte oder Fabriken, und wer gutes Geld verdiente, legte es in Immobilien an.
Das war im ganzen Reich so, vor allem aber in der Hauptstadt, in der es die größte jüdische Gemeinde gab. Beachtliche Teile der Berliner City - und das war Ost-Berlin - waren jüdisches Eigentum. Und allein hier geht es um mehr als 12 000 Immobilien und einen Verkehrswert, der im zweistelligen Milliardenbereich liegt.
Wer zahlt da an wen? Wird hier deutsches Vermögen verschleudert? Wird die Berliner City, die allzulange volkseigen war, nun jüdisch? Der Antisemit im braven Manne spürt ein Unbehagen.
Die Aufgabe, das Unrecht früherer Regime zu beseitigen, ist vertrackt. Das deutsche Parlament hat Gesetze beschlossen, die den früheren Eigentümern oder deren Erben ihre Immobilien wiedergeben oder sie wenigstens entschädigen sollen. Aber Gesetze zwingen zur Genauigkeit, und wo die gefragt ist, gedeiht die Bürokratie.
Trotz des düsteren braunen Hintergrundes der Geschichte ist aus dem Bemühen, den Rechtsstaat auch in den Grundbüchern durchzusetzen, ein groteskes Gezerre um Grundstücke und Häuser geworden. Und es sieht so aus, als würde der Staat dabei kein schlechtes Geschäft machen.
»Das ist wie Monopoly«, sagt Hugo Holzinger, Leiter des Landesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen (Larov) in Berlin. Ein Larov gibt es in jedem der neuen Bundesländer, überdies Ämter zur Regelung offener Vermögensfragen, die sich Arov nennen. (Natürlich gibt es auch ein Barov - das Bundesamt.) Die Ämter sind wichtige Mitspieler beim großen Monopoly, sie sollen dafür sorgen, daß Verfolgte des Nazi-Regimes und in der DDR enteignete Bürger zu ihrem Recht kommen.
Doch nicht nur die früheren Eigentümer von Häusern und Grundstücken sowie die Beamten, die ihnen zu ihren Immobilien verhelfen sollen, sind dabei. Da es um viel Geld geht, gibt es auch viele Mitspieler, die ein paar eigene Regeln fürs Monopoly entwickelt haben.
Das ist leicht, denn die Verwirrung auf diesem Markt verloren geglaubter Immobilien ist phantastisch. Viele der früheren Eigentümer sind tot, und oft weiß niemand, wo sie gestorben sind. Die Erben sind ausgewandert und wissen häufig nicht, daß sie Erben sind. Dokumente und ganze Archive wurden im Krieg vernichtet.
So tauchte nach dem überraschenden Kollaps der DDR eine besondere Spezies von Helfern auf, die - nicht ganz selbstlos - all jenen lästige Mühen und langes Warten ersparen wollten, die Anspruch auf eine Immobilie hatten: Diese Experten erklärten sich bereit, die Ansprüche aufzukaufen.
»Privatinvestor kauft Immobilien bzw. Besitzansprüche (Claims) in der DDR zu fairen Preisen«, hieß es in einer Anzeige in der deutschsprachigen jüdischen Zeitung AUFBAU, die in New York erscheint. Ebenfalls im AUFBAU: »Die Immobilien-Tochtergesellschaft der Commerzbank AG sucht Geschäftshäuser und Grundstücke in Berlin und Leipzig. Wir kaufen auch Erb- und Rückübertragungsansprüche auf ...«
Andere besorgten sich Namen und Adressen durch eigene Recherchen. Dabei wurden bisweilen auch listige Umwege eingeschlagen, die nicht immer koscher waren (siehe Seite 75).
Das Monopoly läuft weitgehend im stillen ab, in deutschen und amerikanischen Anwaltskanzleien, in Amtsstuben und Gerichtssälen, über ganze Regale mit Aktenordnern voller Erbscheine, Vollmachten, eidesstattlicher Versicherungen, Briefe. Dahinter verbergen sich die Schicksale der früheren Eigentümer, die Toten der Konzentrationslager, die bestohlenen Emigranten.
Es ist ein heikles Thema. Anwälte möchten nicht zitiert, ihre Mandanten nicht genannt werden. Und die Beamten in den Arovs und Larovs sind froh, wenn manche ihrer Entscheidungen nicht ans Licht der Öffentlichkeit kommen.
Viele Juden, die heute ihr Eigentum oder das ihrer Väter zurückfordern, trauen den Deutschen nicht. Sie haben Angst davor, einmal mehr als raffgierige Fremde diskriminiert zu werden, die das deutsche Volk schädigen. Die Angst scheint nicht unbegründet: Der oft beschämende Kampf um jüdischen Besitz, den viele Entscheidungen von Behörden und Gerichten auslösen, läßt den Schluß zu, daß nicht nur rechte Postillen von »Begehrlichkeiten« der Juden reden, wo es doch nur um die Rückgabe rechtmäßig erworbenen Eigentums geht.
Im Jahre sieben nach der Wiedervereinigung ist ein großer Teil der Restitutionsfälle im bürokratischen Getriebe steckengeblieben. Es gibt ein Vermögensgesetz sowie ein NS-Verfolgtenentschädigungsgesetz, die auch den jüdischen Eigentümern und ihren Erben die Möglichkeit bieten, ihren enteigneten Besitz zurückzubekommen.
»Aber die Gesetzgeber haben kein politisches Verständnis von Wiedergutmachung«, sagt der Berliner Rechtsanwalt Karlheinz Knauthe. Er muß es wissen, in seiner Kanzlei am Kurfürstendamm stehen meterweise Akten von noch nicht erledigten Fällen.
»Es geht alles so langsam«, klagt Rechtsanwalt Lionel Curry in London, der ebenfalls jüdische Erben vertritt. Das läge zum einen daran, daß der deutsche Staat nicht genügend Leute für diese Aufgabe zur Verfügung stelle. Zum anderen aber gebe es in der Bürokratie eine »unsympathetic attitude« - eine keineswegs wohlwollende Haltung Juden gegenüber.
In einem Abkommen mit den USA, das am 13. Mai 1992 unterzeichnet wurde, hat die Bundesrepublik zugesagt, die Ansprüche amerikanischer Staatsbürger gegen die ehemalige DDR zu befriedigen. Das Abkommen sieht eine pauschale Entschädigungssumme von 190 Millionen Dollar vor. Betroffen sind vor allem Juden, die ihr Eigentum in Deutschland zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 verloren hatten.
Die früheren Eigentümer oder ihre Erben hatten bis zum 31. Dezember 1992 Zeit, sich zu entscheiden: Sie konnten entweder ihren Anteil an den 190 Millionen Dollar als Entschädigung fordern oder ihren Anspruch nach dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen (Vermögensgesetz) geltend machen.
So wurde in der Folge deutlich, welchen gewaltigen Firmen- und Immobilienbesitz jüdische Deutsche während des Nazi-Regimes verloren hatten. Grundstücke und Häuser auf dem früheren DDR-Gebiet, von den Eignern bereits aufgegeben, wurden plötzlich wieder Wertobjekte. So mancher entsann sich mit einem Mal wieder seiner Großeltern, eines Onkels, einer Schwester, die ihr Haus den Nazis überlassen mußten, als sie emigrierten oder ins KZ geschleppt wurden.
Zehntausende meldeten Ansprüche an, oft auf Verdacht, manchmal zu Unrecht, wenn mehrere sich für die Erben eines einzigen Objektes hielten. Und damit nichts verlorenging, wenn ein Eigentum umstritten war oder kein Erbe dazusein schien, paßte auch noch eine Organisation besonderer Art auf - die Conference on Jewish Material Claims against Germany (JCC). Die meldete vorsorglich in allen Zweifelsfällen Ansprüche an; den Ertrag hat die JCC für Opfer des Holocaust vorgesehen.
Bisweilen machte es schon Schwierigkeiten, die Grundstücke überhaupt zu finden, und nicht nur, weil sich vielleicht die Hausnummern geändert hatten. Straßen waren umbenannt oder anders gelegt, Areale über die Grundstücksgrenzen hinweg überbaut worden. Die Immobilien, die einst exakt im Grundbuch festgehalten waren, sind »weggeschwommen«.
Nach all den Jahren ist zudem die Erbfolge nicht immer leicht nachvollziehbar. Am Alexanderplatz in Berlin, der zu DDR-Zeiten völlig umgestaltet wurde, steht einem Erben ein 3125stel eines bestimmten Grundstücks zu.
Hinzu kommt das Problem der sogenannten Ariseure, also derjenigen Deutschen, die in den dreißiger Jahren jüdisches Eigentum kauften - zu welchen Bedingungen auch immer. Die Ariseure oder ihre Erben machen viele Fälle noch komplizierter, weil sie ebenfalls Ansprüche auf die ehemaligen jüdischen Immobilien anmelden, ganz gleich, ob sie Aussicht auf Erfolg haben oder nicht. Damit die Ariseure ihre Anträge zurückziehen und die Verfahren beschleunigt werden, zahlen ihnen die jüdischen Erben oft eine »Lästigkeitsprämie«, die in der Regel fünf bis zehn Prozent des Verkehrswertes ausmacht.
»Diese verdammte Geschichte wurde so kompliziert«, sagt David Bradley von der amerikanischen Foreign Claims Settlement Commission (FCSC). »No good deed ever goes unpunished« - jede gute Tat wird bestraft.
Einige wenige Fälle haben Aufsehen erregt, weil es um große Brocken ging oder um prominente Namen. »Ick kann jar nicht soviel fressen, wie ick kotzen möchte«, soll Max Liebermann gesagt haben, als er am 30. Januar 1933 die braunen Horden über Berlins Prachtstraße Unter den Linden marschieren sah. Der prominente Maler hatte einen Logenplatz, sein Haus am Pariser Platz 7 lag direkt neben dem Brandenburger Tor.
Liebermann starb 1935. Seine Erben haben nach dem Fall der Mauer die Rückgabe des sogenannten Liebermann-Palais verlangt, das die Familie unter dem Nazi-Regime verloren hatte. Durch das Engagement der Familie Quandt wurde eine respektable Lösung gefunden (siehe Seite 68).
Ähnlich wie die Liebermann-Erben hatten auch die Brüder Herman zunächst noch zu DDR-Zeiten Entschädigung für ihre verlorenen Immobilien in Ost-Berlin verlangt. Das war möglich nach einem Gesetz, das der amerikanische Kongreß 1976 verabschiedet hatte. Durch dieses Gesetz wurde die Foreign Claims Commission beauftragt, die Forderungen deutschstämmiger Juden an die DDR festzustellen.
Die Entschädigungen, die von der Commission errechnet wurden, waren mehr als bescheiden. Grundlage war der Verkehrswert des Jahres 1935, davon wurden dann Kriegsschäden abgezogen, also etwa die Zerstörung des Gebäudes wie im Falle des Liebermann-Palais.
Die Brüder Albert, Ernest und Günther Herman waren zu gleichen Teilen Eigentümer des Pressehauses Herman in Berlin, zu dem eine Druckerei und eine Buchbinderei gehörten. Sie besaßen überdies beträchtlichen Grundbesitz am Spittelmarkt: Seydelstraße 1 bis 7, Beuthstraße 6 bis 12 sowie Beuthstraße 17.
»Wegen Verfolgungsmaßnahmen des Nazi-Regimes«, so stellte die FCSC fest, verkauften die Hermans 1936 einen Teil ihrer Immobilien. Der Rest wurde später von den Nazis konfisziert.
Die Hermans emigrierten 1938 mit ihren Eltern in die Vereinigten Staaten. Sie kamen mit einer »erklecklichen Summe Geldes« an, wie ihr Anwalt Nicholas Doman weiß. Ernest und Günther wurden 1941, als Bruder Albert starb, zu gleichberechtigten Eignern der Immobilien in Deutschland, die ihre Eltern den drei Söhnen schon in Deutschland überschrieben hatten.
Die Commission sprach den Hermans 1981 zunächst eine Entschädigung von 503 500 Dollar, später dann in einer »Final Decision« 1,47 Millionen Dollar zu. Der heute 80jährige Ernest, ein »knallharter Geschäftsmann«, so Anwalt Doman, war damit nicht einverstanden.
Nach dem Zusammenbruch der DDR setzten die Hermans auf Restitution - mit Erfolg. Die Grundstücke verkauften sie für rund 70 Millionen Mark. Auf dem Areal errichtet die Daimler-Benz-Tochter Debis ein Wohn- und Geschäftszentrum.
Mit einer klaren Entscheidung nach langem Hin und Her wurde ein weiterer prominenter Fall erledigt: Es ging um das Erbe von Josef Garbáty-Rosenthal, der 1904 an der Berliner Straße in Berlin-Pankow eine Zigarettenfabrik gegründet hatte. Der Fabrikant, den die jüdische Gemeinde als reichen Wohltäter schätzte, überschrieb 1929 die Fabrik seinen Söhnen Moritz und Eugen.
Eugen verkaufte noch im gleichen Jahr seinen Anteil an Reemtsma, Moritz mußte seinen Anteil 1938 dem Ariseur Jakob Koerfer für 4,7 Millionen Reichsmark überlassen. Koerfer übernahm auch gleich noch die 26 000 Quadratmeter Grundbesitz an der Berliner Straße für 1,7 Millionen Reichsmark. Die übrigen Immobilien, einen Landsitz in Altdöbern von insgesamt 779 Hektar, ein Grundstück von 600 Quadratmetern Unter den Linden 46 sowie weitere Liegenschaften in Mitte und Pankow, eigneten sich andere Ariseure an.
Eugen und Moritz wanderten in die Vereinigten Staaten aus. Vater Josef blieb in Deutschland, wo er 1939 gestorben ist.
Die Ariseure wurden 1949 enteignet, die Zigarettenfabrik wurde Volkseigentum. In das Haus Unter den Linden 46 zog das DDR-Außenhandelsministerium ein, dem nach der Wende die Außenstelle des Bundesministeriums für Wirtschaft folgte. Nun sollen die Abgeordneten des Bundestages dort einziehen.
Im August 1990 meldeten die Garbáty-Erben, Eugens Witwe Marie-Louise und der Moritz-Sohn Thomas Ansprüche für die Fabrik und die Immobilien an. Eine lange juristische Auseinandersetzung zwischen Treuhandanstalt, Koerfer-Erben und den Garbátys führte vor allem dazu, daß die beiden Zweige der Gründerfamilie schließlich nur noch über ihre Anwälte miteinander verkehrten.
Das deutsch-amerikanische Abkommen von 1992 brachte die Lösung. Die Commission sprach den Erben, die ihre Ansprüche noch gemeinsam bei der FCSC angemeldet hatten, die höchste Entschädigung in diesem Verfahren zu - 7 485 000 Dollar. Mit der Verzinsung standen Marie-Louise Garbáty rund 10 Millionen und Thomas Garbáty gut 5 Millionen Dollar zu.
Marie-Louise starb kurz nach der Auszahlung des Geldes. Sie vermachte ihr Vermögen der National Gallery of Arts.
Die Zigarettenfabrik, die in der DDR noch die beliebten »Club« produziert hatte, ist inzwischen pleite. Die Gebäude in der Berliner Straße stehen leer und rotten vor sich hin. An einigen wurden Plaketten des Denkmalschutzes angebracht.
Doch nicht immer geht es um harte Geschäftsleute und »Oberklasse-Juden« (Doman) wie die Hermans oder die Garbáty-Erben. Nicht alle Fälle werden so elegant gelöst wie der Fall Liebermann-Palais. Die Eigentumsverhältnisse sind vielfach nicht eindeutig. Wie sollten sie auch? In den KZ wurden keine Erbscheine ausgestellt.
Viele Dokumente gingen im Krieg verloren, und die Erbfolge ist oft kompliziert, weil die einzelnen Mitglieder einer Familie weit verstreut sind und wenig voneinander wissen. Solche schwierigen Situationen sind das geeignete Feld für rechtschaffenen Beamtenfleiß. Die Fälle sind oft deshalb so schwierig, weil die Behörden die üblichen Maßstäbe anlegen, wo Unübliches geschehen ist.
Inge Irving hat bisher vom Erbe ihrer Großmutter Frieda Rappaport außer Aufregung und Ärger nichts gehabt. Zu dem ehemaligen Besitz der Großmutter gehört unter anderem ein mehrstöckiges doppeltes Mietshaus in Berlin-Mitte, Invalidenstraße 40/41. Doch die Behörden wollen Papiere sehen, die Frau Irving nicht beschaffen kann, weil es sie nicht gibt.
Großmutter Rappaport war am 11. März 1932 in Berlin gestorben, im Jahr darauf wurde ihr Vermögen zwangsversteigert. Nun müßte geklärt werden, ob Rappaport durch die Verfolgungspolitik der Nazis in die Verschuldung (und damit die spätere Zwangsversteigerung) getrieben wurde - nur dann nämlich hätten die Erben im Falle der Zwangsversteigerung einen Anspruch auf das Vermögen.
Worauf das Arov hier noch wartet, ist unklar. Die Zwangsversteigerungsakten sind im Krieg vernichtet worden.
Bitter ist auch, daß Inge Irving nicht weiß, was aus ihrer Tante Erika Hirschberg geworden ist, die in Deutschland geblieben war. Die Schwester ihrer Mutter könnte ja auch Erbin sein, also verlangt die Behörde eine Sterbeurkunde. Aber wer soll die ausstellen? Erika Hirschberg wurde am 15. August 1942 nach Riga deportiert, was einem Todesurteil gleichkam.
Da die Familie auch im Westen Berlins Immobilien besaß, bat Irvings Anwalt im Februar 1995 das Ausgleichsamt in West-Berlin um Mithilfe, da ja vielleicht in den Akten ein Erbschein erwähnt wurde. Gut ein Jahr später, im März 1996, teilte das Ausgleichsamt lakonisch mit, daß die entsprechende Akte im August 1995 vernichtet wurde - ein halbes Jahr nach der Anfrage des Anwalts.
Vielleicht ist es ja nur Behördenschlamperei. Aber möglicherweise paßt auch so manchem Sachbearbeiter in den Arovs oder Larovs nicht, daß »der Jude« Ansprüche stellt. Die subtile Form des Antisemitismus verbirgt sich oft hinter scheinbar sachlichen Argumenten.
Mit den Erbscheinen sei das so eine Sache, sagt der Münchner Rechtsanwalt Stephan Hofert, der in Entschädigungsfällen mit amerikanischen Anwälten zusammenarbeitet. »Die vorgesehene Beweiserleichterung für Juden wird von den Behörden überhaupt nicht praktiziert. Die existiert nur auf dem Papier.«
Daß die Erbfolge gerade wegen der schweren Schicksale verfolgter Juden vielfach kompliziert ist, macht den Behörden zu schaffen. Oft melden sich Hunderte von Erben, und alle müssen gehört werden.
Hin und wieder aber übertreiben es Sachbearbeiter mit ihrer Gründlichkeit. Ein amerikanischer Anwalt berichtet von einem jüdischen deutschen Ehepaar, das zusammen mit seinem Kind am selben Tag in Sobibor umgebracht wurde. Überlebende Verwandte, die sich nach dem Zusammenbruch der DDR als Erben meldeten, sollten eine Bescheinigung bringen, die belegt, wer von den drei Ermordeten zuletzt gestorben ist.
Eigenwillig und auf eine verdächtige Art gesetzestreu verhalten sich einige Beamte in der sächsischen Landeshauptstadt Dresden. Denen ist selbst die gütliche Einigung über ein umstrittenes Grundstück zuwider.
In der Oeserstraße 5 hatte sich Professor Emanuel Goldberg, Direktor der Zeiss-Ikon-Werke, 1927 eine kleine Villa nebst großem Grundstück gekauft. Im Oktober 1933 emigrierte er mit seiner Familie über Frankreich nach Palästina. Seine Immobilie verfiel später dem Deutschen Reich und wurde schließlich in der DDR zum Volkseigentum erklärt.
Goldbergs in Tel Aviv lebende Tochter Chava Gichon - der Vater war seit 20 Jahren tot - beantragte 1990 die Restitution des Grundstücks. Es besteht kein Zweifel, daß ihr Anspruch nach dem Vermögensgesetz berechtigt ist.
Zu DDR-Zeiten allerdings hatte der damalige Musikdirektor Dresdens, Heinz Bongartz, die Villa auf dem volkseigenen Boden erworben. Es war, da sind sich die Parteien einig, ein redlicher Erwerb, und der schließt die Rückübertragung der Villa aus. Bongartz' Erben möchten das Grundstück kaufen, auf dem ihr Haus steht.
Das Liegenschaftsamt der Stadt Dresden schlug der Erbin am 15. März 1993 eine Teilung des 2610 Quadratmeter großen Grundstücks vor. Familie Bongartz könnte den Teil mit der Villa kaufen, Erbin Gichon bekäme dafür vom Arov Entschädigung und könnte die andere Hälfte des Grundstücks in Besitz nehmen.
Alle Beteiligten erklärten sich einverstanden. Zu ihrem Erstaunen jedoch teilte das Arov Dresden am 11. August 1995 mit, daß die Lösung nicht möglich sei, weil eine der Beteiligten dem nicht zustimme. Diese Beteiligte ist das Liegenschaftsamt.
Angeblich soll der redliche Erwerber geschützt werden. Da der jedoch auf diese Weise gar nicht geschützt werden will, entlarvt sich die verlogene Begründung von selbst.
Die Wahrheit sieht so aus: Bekommt die Familie Bongartz wie verabredet die Hälfte, zahlt sie an die Stadt für das bislang volkseigene Stück Land rund 600 000 Mark. Wird die gütliche Einigung verhindert, behält die Stadt das ganze Grundstück, Verkehrswert rund 1,2 Millionen Mark. Die Erbin Gichon erhält eine bescheidene Entschädigung.
»Bei vielen Sachbearbeitern in den Ämtern«, sagt der Rechtsanwalt Knauthe, »ist nicht die Bereitschaft da, diese Fälle honorig abzuwickeln.«
Knauthe weiß, wie schwer es ist, in Auseinandersetzungen um Restitution einer Immobilie oder Entschädigung die Beamten zufriedenzustellen. Papiere, die es nicht gibt, sollen beschafft werden, Sterbeurkunden, Testamente, Erbscheine; Verwandte, die verschollen sind, sollen gefunden werden; und oft genug muß Knauthe seinen Widersachern erklären, was eine Zwangsversteigerung unter dem Nazi-Regime bedeutete.
In seinem Büro am Kurfürstendamm stehen allein 18 dicke Ordner mit einem einzigen Namen: Jakob Michael. Es ist Knauthes größter Fall. Er vertritt neun in den USA lebende Erben des Jakob Michael, der Verkehrswert der Grundstücke, die sie beanspruchen, dürfte bei 500 Millionen Mark liegen.
Michael, 1894 in Frankfurt am Main geboren, war der Feind Nummer eins der Nazis. Er war genau das, was der gestandene Antisemit braucht: ein Spekulant, noch dazu ein erfolgreicher, ein gläubiger Jude, der am Krieg sowie in der Weltwirtschaftskrise ein Vermögen verdiente und dem bald weite Teile von Berlin-Mitte gehörten.
Im Ersten Weltkrieg produzierte eine von Michael gegründete Grubengesellschaft das kriegswichtige Wolfram, die Firma J. Michael & Co. handelte mit Metallen und Chemikalien. Während der Inflation 1922/23 baute er seine Firma zu einem großen Finanzkonzern aus, der sich an Hypothekenbanken, Versicherungen, Warenhäusern beteiligte. Gleichzeitig kaufte er Immobilien.
Michaels Vermögen in Deutschland wurde 1930 auf 100 Millionen Reichsmark geschätzt. Darüber hinaus besaß er 5o Firmen im Ausland.
Michael wartete nicht bis zur Machtergreifung. Mit seiner Familie ging er 1932 nach Holland. Immer wieder wurden seine Immobilien unter Zwangsverwaltung gestellt. Seine Warenhausholding wurde 1934 arisiert, die 1500 jüdischen Mitarbeiter entlassen.
Der jüdische Multimillionär wurde ausgebürgert. Der Reichsminister des Innern erklärte 1938 sein gesamtes Vermögen »als dem Reiche verfallen«.
Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges siedelte Michael in die Vereinigten Staaten um. Er starb 1979. Seine Erben - zwei Söhne, sieben Enkel - leben in verschiedenen Gegenden der USA. Knauthe vertritt sie bei ihren Restitutionsforderungen.
Es geht um etwa 85 Grundstücke, die Michael erworben hatte. Sie liegen überwiegend in Berlin-Mitte. Es sind beste Adressen: Unter den Linden ist dabei, Friedrichstraße, Charlottenstraße, Französische Straße und die Hackischen Höfe. Der größere Teil ist den Erben bereits zugesprochen worden. Die letzten zwölf Grundstücke sind strittig.
Mehrere Häuser, die Jakob Michael in Berlin besaß, wurden gegen Ende der dreißiger Jahre zwangsversteigert. Für diese Fälle aber, so meint die Bundesregierung, sei der Anspruch der Erben auf die Grundstücke nicht von vornherein berechtigt.
Das war zunächst, nach alliiertem Rückerstattungsrecht und dem Vermögensgesetz, anders. Es wurde unterstellt, daß Juden in Deutschland einen verfolgungsbedingten Vermögensverlust erlitten, wenn sie während der Nazi-Zeit Immobilien verkauften. Die Käufer, die Ariseure, sollten beweisen, daß sie die Immobilien oder Firmen redlich erworben hatten.
Dann wurde 1992 das Vermögensgesetz ergänzt: In Fällen von Zwangsversteigerung soll nun der frühere Eigentümer beweisen, daß er verfolgt wurde.
Hugo Holzinger und seine Mitarbeiter im Berliner Larov suchen nach Knauthes Ansicht eine vernünftige Linie in der Bearbeitung von Verfolgten-Ansprüchen. Anders dagegen das Bundesamt zur Regelung offener Vermögensfragen (Barov), das dem Finanzministerium unterstellt ist.
Die Beamten des Barov halten sich an die schöne Formel von der »überholenden Kausalität«. Oft wird behauptet, ein Anspruch auf Rückerstattung einer Immobilie bestehe nicht, weil schließlich die Weltwirtschaftskrise, nicht die rassische Verfolgung die Zwangsversteigerung ausgelöst habe.
»Wenn man es sarkastisch formulieren will«, meint Rechtsanwalt Knauthe, »dann sagen die Leute vom Bundesfinanzministerium den Juden, sie sollten sich doch bitte nicht aufregen: Ihr hättet das Grundstück ja sowieso verloren.« Da werde den jüdischen Bürgern etwas abverlangt, was sie nicht begreifen.
Wie die Michael-Erben sind die meisten Anspruchsteller in erster Linie daran interessiert, die Immobilien zu bekommen. Der Verkehrswert, den sie dann beim Verkauf erzielen, liegt um ein Vielfaches höher als die Entschädigung, die ihnen sonst zustünde.
Die Differenzen sind beträchtlich. Der New Yorker Anwalt Paul Green hat für einen seiner Mandanten erfolgreich die Rückgabe einer Immobilie verlangt. Nach dem amerikanischen Entschädigungsverfahren hätte der Erbe für das Grundstück in Berlin 50 000 Dollar bekommen, in Deutschland wurde es für 1,4 Millionen Mark versteigert.
Green selbst hatte mit einem seiner Erbstücke weniger Glück. Sein Vater, Bankier und gebürtiger Ungar, hatte in der deutschen Hauptstadt mehrere Häuser gekauft; er verließ Berlin mit seiner Familie im Jahre 1936.
Eines der Häuser, in der heutigen Straße der Pariser Kommune, wurde im Krieg zerstört. Nach der Wiedervereinigung konnte der Erbe Paul Green nicht einmal das Grundstück verlangen. Da steht heute ein Plattenbau mit einer spärlichen Grünanlage davor. Green bekam 73 000 Dollar nach der US-Regelung.
Besonders ärgerlich ist ein Fall aus Berlin, der durch das Versehen eines amerikanischen Anwalts kompliziert wurde und der ein Schlaglicht auf die Einstellung mancher Mitarbeiter in den Behörden wirft. Die deutsche Jüdin Felice Adam besaß ein Grundstück in Berlin-Friedrichshain, Friedrich-Junge-Straße 1. Sie wurde gezwungen, es 1938 an eine Nicht-Jüdin zu verkaufen. Frau Adam starb 1945 in einem Konzentrationslager.
Ihre einzige Erbin, eine Hedwig Cohan, meldete 1979 ihren Anspruch bei der FCSC an. Die sprach ihr 30 000 Dollar plus Zinsen zu.
Cohan starb 1986, ihre Ansprüche vermachte sie sechs Erben, drei leben in den USA , zwei in Israel, und eine Erbin wohnt in Berlin. Nach der Wende wollten sich die Erben nicht mit der lächerlichen Entschädigung abfinden und verlangten das Grundstück. Vorbehaltlich der Restitution verkauften sie es am 4. Mai 1992, neun Tage vor Unterzeichnung des deutsch-amerikanischen Abkommens, für 1,8 Millionen Mark an einen Investor.
Der New Yorker Anwalt sollte der FCSC mitteilen, daß die Erben auf die Entschädigung verzichten und die Übereignung des Grundstücks in Deutschland durchsetzen wollten. Der Anwalt, damals schon 80 Jahre alt, kreuzte aus Versehen auf dem Fragebogen der Claims Commission den falschen Buchstaben an: A (US-Entschädigung) statt B (deutsches Verfahren).
Die für die Wahl A notwendige notarielle Erklärung füllte der Anwalt allerdings nicht aus - begreiflich, da er ja das Verfahren B meinte. Trotzdem setzten die Amerikaner den Fall auf die Liste mit den Namen derer, die sich für die US-Entschädigung entschieden hatten.
Und daran hielten die deutschen Beamten eisern fest. Bei dem Versuch, die irrtümliche Entscheidung rückgängig zu machen, hatte der Potsdamer Anwalt Fritz Enderlein, der mit seinem New Yorker Kollegen zusammenarbeitet, »das Gefühl, gegen Hartgummiwände zu laufen«. Ein Mitarbeiter im Bonner Außenamt teilte ihm mit, daß eine Änderung der Entscheidung »deutsche Interessen verletzen« würde.
Der Bundesrepublik Deutschland könne »nicht entgegengehalten werden, sie wolle sich auf Kosten der Erben bereichern«, schrieb Joachim Grünewald, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, an Rechtsanwalt Enderlein. Wenn die Erben sich völkerrechtlich bindend entschieden hätten, welche Art der Entschädigung für ihr Grundstück sie wollten, erfolge »automatisch und ohne das Erfordernis eines weiteren Willensaktes der Übergang auf die Bundesrepublik Deutschland«.
Und - man bleibt ja höflich - der Herr Staatssekretär fügte hinzu: »Dafür bitte ich um Ihr Verständnis.« Aber der Anwalt hat es nicht verstanden und seine Mandanten auch nicht. Sie haben zwei Jahre prozessiert und wurden schließlich doch wieder auf die Liste B genommen: Sie bekommen das Grundstück.
Amerikanische Juristen haben seit längerem den Eindruck, daß ihre deutschen Gegenspieler die Grundstücke lieber selbst haben wollen. Deshalb sei die Arbeit nach dem deutsch-amerikanischen Abkommen auch noch längst nicht erledigt. Streitfälle gab es reichlich. Das traf insbesondere auf jene US-Bürger zu, die sich überhaupt nicht gemeldet hatten, als die US-Regierung erkunden wollte, für welche Art der Entschädigung sie sich entschieden. Ihnen wurde unterstellt, sie hätten die amerikanische Variante gewählt, doch nach dem Zusammenbruch der DDR wollten viele von ihnen die Rückgabe der Immobilien in Deutschland beantragen.
Das Außenministerium in Washington reichte diese Anträge nach Deutschland weiter. Die amerikanische Politik in diesen Fällen sei völlig klar gewesen, sagt der Jurist Stephen McCreary: »Wir würden doch lebend vom Kongreß gefressen, wenn wir plötzlich einem amerikanischen Bürger verweigern würden, sein Eigentum wiederzubekommen.«
Aber seine deutschen Gesprächspartner zeigten sich pingelig. »Da wurde jeder einzelne Fall unter dem Mikroskop analysiert.« Der Widerstand gegen eine schnelle und großzügige Erledigung strittiger Restitutionsfälle, so argwöhnt der Amerikaner, komme aus dem deutschen Bundesfinanzministerium.
Viele Anwälte, die für ihre jüdischen Mandanten um geerbte Immobilien streiten, denken ähnlich. Enderlein kann einen Fall zitieren, der den bösen Verdacht verstärkt.
Der Fall schien zunächst glasklar. Es geht um ein Grundstück in der Potsdamer Langhansstraße 9, in der Nähe des Schlosses Cäcilienhof. Die damals 75jährige Selma Neumann erbte 1935 das Grundstück von ihrem Vater, dem jüdischen Bankier Adolf Horrwitz. Zwei Jahre später verkaufte sie 1600 Quadratmeter für 14 400 Reichsmark an den Arier Hans Neubelt. Selma Neumann starb 1942 im KZ Theresienstadt; sie hatte zuvor auch ihren restlichen Grundbesitz verkaufen müssen.
Die Tochter Charlotte Schreiber konnte rechtzeitig in die USA auswandern. Sie stellte nach der Wende den Antrag auf Rückerstattung des Grundstücks. Auch die Jewish Claims Conference und die Erben des Ariseurs machten Ansprüche geltend.
Im November 1994 teilte das Arov Potsdam der Erbin sowie dem sogenannten Verfügungsberechtigten, dem Bundesvermögensamt Potsdam, seine Entscheidung mit: »Das Eigentum an dem Vermögenswert wird an die Antragstellerin Hanna Schreiber zurückübertragen.« Hanna Schreiber ist die Witwe von Paul Schreiber, dem früheren Ehemann von Charlotte.
Voraussetzung für den Anspruch auf Rückübertragung sei, so das Arov, »daß zwischen Verfolgung und Vermögensverlust ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Die Voraussetzung ist hier erfüllt«. Das Bundesvermögensamt war anderer Ansicht. Mit freundlichen Grüßen meldete eine Frau Arnoldi Widerspruch an. Selma Neumann habe 1937 »einen angemessenen Kaufpreis erhalten«. Nach Arnoldis Ansicht ist »das Tatbestandsmerkmal des verfolgungsbedingten Vermögensverlustes nicht gegeben«.
Es blieb nicht bei dieser instinktlosdümmlichen Behauptung. Noch ehe das Arov entscheiden konnte, verkaufte das Bundesvermögensamt das umstrittene Grundstück wegen Investitionsvorrangs für 900 000 Mark. Das Arov forderte das Vermögensamt auf, den Verkaufserlös an Hanna Schreiber herauszugeben.
Die Vermögensarier kündigten abermals Widerspruch an. Er habe erst geglaubt, sagt Anwalt Enderlein, das Bundesvermögens- amt habe die Erben des Ariseurs unterstützen wollen. »Ich sehe nun aber, daß ich mich geirrt habe und daß der Bundesfinanzminister dahinter steht und das Geld behalten möchte.«
Wenn frühere Eigentümer oder deren Erben ein Grundstück nicht wiederbekommen und sich mit einer Entschädigung zufriedengeben, fällt die Immobilie an den deutschen Staat. Allein in Berlin »erbt« die Oberfinanzdirektion auf diese Weise mehr als 4oo Grundstücke. Der Verkehrswert liegt in allen Fällen weit über der Entschädigung; der Gewinn, der sich beim Verkauf aus der Differenz ergibt, geht in die Milliarden.
»Die Hardliner sitzen im Bundesfinanzministerium und im Barov«, sagt Anwalt Knauthe. »Deren Vorgehen ist ganz klar profiskalisch.«
Eleganter läßt sich der Tatbestand, daß hier der deutsche Staat letztlich einen Gewinn aus den Verbrechen des Nazi-Regimes zieht, kaum formulieren. Andere sagen es brutaler .
Der Staat dürfe nicht »für die von ihm und in seinem Namen verübten Verbrechen« belohnt werden, schreibt der Celler Anwalt Andreas Rübsam in einer Verfassungsbeschwerde. Die Beschwerde richtet sich gegen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Berlin und des Bundesverwaltungsgerichts, die jüdischen Erben die Rückgabe eines Berliner Grundstücks verweigern.
Diese Entscheidungen verstoßen nach Rübsams Ansicht gegen alliiertes Rückerstattungsrecht, zu dem sich auch die Bundesrepublik verpflichtet habe. Nach der Rückerstattungsanordnung der Alliierten (REAO) sollten »in möglichst großem Umfang beschleunigt« Vermögen an jene zurückgegeben werden, denen sie während des Nazi-Regimes aus rassischen oder religiösen Gründen ungerechtfertigt entzogen worden sind.
Gegen diesen Grundsatz wird nach Meinung des Celler Anwalts verstoßen, wenn der Staat Menschen mit spärlichen Entschädigungen abspeist und sich selbst deren Vermögen sichert. Bei der Berechnung der Entschädigung lege er den »vor fast einem Menschenalter festgesetzten Einheitswert« zugrunde und multipliziere ihn »mit einem nach Gutdünken ermittelten Faktor«. Das sei in der Rechtsgeschichte der Bundesrepublik einmalig.
Das wiedervereinigte Deutschland, so heißt es in der Verfassungsbeschwerde, hätte damit erreicht, »was dem Nazi-Regime trotz entsprechenden Versuchs nicht gelang und was die DDR (öffentlich) nicht zu tun wagte, nämlich sich die Vertreibung der jüdischen Verfolgten durch die Nazis in der Weise zunutze zu machen, daß deren Vermögenswerte für Beträge, deren Höhe jedem aufrechten Bürger die Schamesröte ins Gesicht treiben muß, einkassiert werden«.
Schamrot ist im Bonner Finanzministerium noch niemand gesichtet worden. Offensichtlich ist den Beamten noch nicht bewußt geworden, wie ärgerlich die Debatte um jüdischen Besitz für sie werden könnte. Was als Geste guten Willens gedacht war, könnte zu einer peinlichen Affäre um Grundstücksspekulationen werden.
So sei das nicht gedacht gewesen, sagt Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland. Niemals sollten die Nachfolger des Deutschen Reiches Gewinn aus ehemals konfiszierten jüdischen Grundstücken ziehen. »Da stellt sich die Frage, ob hier nicht die ganze Geschäftsgrundlage entfällt.«
Der Ballast der Geschichte wird um so drückender, je länger er mitgeschleppt wird. Die Schweizer, die jahrzehntelang Nazi-Gold in ihren Tresoren verbargen, haben das gerade erfahren.
Deutschland sollte doch nicht mit der alten Schuld, »mit diesem Affen auf dem Rücken«, ins nächste Jahrtausend gehen, sagt Israel Singer, Generalsekretär des World Jewish Congress in New York. »Die Bundesregierung sollte das Problem chirurgisch angehen, es schnell und großzügig lösen.«
Das sagt Inge Irving in New York ja auch: Give me the money and let me go.
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Jüdische Immobilien in Berlins Mitte
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Jüdische Immobilien in Berlins Mitte
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