Wirtschaftliche Folgen des Erdbebens Wer baut Nepal wieder auf?

Lebensmittelausgabe in Chautara: Ganze Dörfer profitieren von Überweisungen aus dem Ausland
Foto: OLIVIA HARRIS/ REUTERSEin kleiner Beitrag zur Zukunft Nepals steckt in dem Briefumschlag, den Dharma Raj Adikari in seiner Aktentasche trägt. Er läuft durch die überfüllte Ankunftshalle des Flughafens von Kathmandu, etwa 100.000 japanische Yen (rund 760 Euro) hat Adikari dabei: Geld, das der Nepalese als Manager an einem College in Japan verdient hat. "Ich bin seit zwei Tagen unterwegs, um das Geld bei mir daheim abzuliefern", sagt der 55-Jährige.
Er hastet an den Plakatwänden vorbei, die das anpreisen, was Nepal zum Urlaubsziel von einer Million Ausländern im Jahr macht: Da werden Rundflüge um den Everest und Bungee-Jumping beworben, Hotels mit Blick auf den Himalaya angepriesen und Spa-Aufenthalte feilgeboten.
Wie Adikari aus dem japanischen Fukuoka haben sich in diesen Tagen Tausende im Ausland arbeitende Nepalesen in ihre Heimat aufgemacht. Sie alle reisen mit leichtem Gepäck, eilen dem Ausgang entgegen: Während sich am Gepäckband in Kathmandus Flughafen Trupps von Katastrophenhelfern in neonfarbenen Uniformen mit tonnenweise Gepäck abmühen, haben die Nepalesen die Hilfe, die sie bringen, am Mann. Wie Adikari sind sie eingeflogen, um einerseits nach ihren Familien zu schauen. Vor allem aber, um ihr schwer verdientes Bargeld abzuliefern.
Die Devisen, die nepalesische Gastarbeiter nach Hause schicken, waren schon immer der Tropf, an dem das bitterarme Land hing. Nach der Katastrophe könnten sie für die verarmte Nation zur überlebenswichtigen Einnahmequelle werden. Denn Experten sind sich sicher, dass die wirtschaftlichen Folgen des Bebens das Land in eine seiner schwersten Krisen stürzen werden.
Mehrere Jahrzehnte zurückgeworfen
Der nepalesische Finanzminister Ram Mahant sagte am Montag, er rechne damit, dass die Kosten für den Wiederaufbau weit über zehn Milliarden Dollar liegen dürften. Das wären etwa 40 Prozent des Bruttosozialprodukts des Landes. Das Beratungsunternehmen IHS rechnet ebenfalls mit einem Milliardenbetrag. "Die Nation hat schwersten wirtschaftlichen Schaden genommen", schreibt der Direktor der Asien-Pazifik-Abteilung von IHS, Rajiv Biswas, in einer Analyse.
Das US Geological Survey schätzt, dass Nepal durch das Beben um mehrere Jahrzehnte zurückgeworfen wird. Das Ziel, spätestens 2022 im Ranking der Vereinten Nationen von einem der "am wenigsten entwickelten Länder" zu einem "Entwicklungsland" aufzusteigen, werde mit Sicherheit nicht erreicht.
Experten vor Ort zeichnen gar ein noch düstereres Bild der Lage: Der Schaden an den Dämmen und den Hydrokraftwerken, die Nepal mit Strom versorgen, sei vermutlich enorm, sagte der in Kathmandu bei einer internationalen Hilfsorganisation arbeitende Ökonom Mukesh Khanal dem Onlinedienst Quartz. Nepal müsse damit rechnen, auf Jahre hinweg mit weniger Strom auskommen zu müssen - kein Wirtschaftszweig könne sich den Auswirkungen entziehen.
Umso schwerer ruhen jetzt die Hoffnungen auf den im Ausland lebenden Nepalesen: Mindestens 2,2 Millionen arbeiten fern der Heimat, die meisten von ihnen in Indien oder den Golfstaaten. 2013 machte das Geld, das diese Männer und Frauen regelmäßig an ihre Angehörigen überweisen, satte 29 Prozent des Bruttosozialprodukts aus.
Schwerer Schlag für den Tourismus
Adikari schätzt, dass bis zu 30 Angehörige direkt von dem Geld abhängig sind, das er Monat für Monat aus Japan in sein Dorf nahe der zweitgrößten Stadt Phokara schickt. Letztlich profitiere jedoch die gesamte Dorfgemeinschaft: "Ich und andere im Ausland haben dem Dorf eine Grundschule gebaut", sagt der 55-Jährige.
Viele Gastarbeiter haben so über die Jahre dafür gesorgt, dass in ihren Dörfern der Fortschritt Einzug hielt. Mit ihren Devisen wurden Computer gekauft, Wassertanks aufgestellt, Straßen asphaltiert. Der Verband der Auslandsnepalesen (NRNA) hat in den vergangenen Jahren Staudämme und Krankenhäuser gebaut, die der Staat nicht hätte finanzieren können. Derzeit hilft der NRNA bei der Finanzierung einer Schnellstraße, die Kathmandu mit dem Süden des Landes verbinden soll. Eine 2009 veröffentlichte Studie der Weltbank bestätigt, wie Gastarbeiter im Falle von Katastrophen in ihren Heimatländern als Garanten für den Wiederaufbau fungieren. "Rückfließendes Geld ist das Auffangnetz für die Familien, die Migranten im Ausland haben."
Nepal ist eines der ärmsten Länder der Welt. Auf dem Entwicklungsindex der Vereinten Nationen rangiert es auf Platz 145 hinter Laos, Bangladesch und Kongo. Bis in die Neunzigerjahre hinein lebte Nepal vor allem von der Landwirtschaft. Dann wuchs, befeuert vom wachsenden Bergtourismus, der Dienstleistungssektor. Allein das Geschäft mit den Reisenden macht inzwischen zehn Prozent des Bruttosozialprodukts aus. Wie schnell und wie weit sich die Tourismusbranche von der Katastrophe erholt, ist noch offen.
Am Sonntag kletterten Hundestaffeln aus Frankreich und eine Ersthelfer-Gruppe der Feuerwehr Tokio in die Taxis, auf denen in großen Lettern "Only Tourists" steht. Nepals Serviceindustrie dürfte eine sehr lange Durststrecke vor sich haben.