
EU-Bürger Privat ganz zufrieden, politisch frustriert


Biergarten in München
Foto: Tobias Hase/ picture alliance / dpaWie geht es Ihnen? Sind Sie mit Ihrem Leben insgesamt zufrieden? Was macht der Job? Kommen Sie mit Ihrem Geld zurecht? Solche Fragen stellen Meinungsforscher den Europäern. Alle sechs Monate messen sie EU-weit die Temperatur.
Vergangene Woche wurden die aktuellen Ergebnisse der Eurobarometer-Umfrage veröffentlicht: Auf den ersten Blick sieht das europäische Stimmungsbild geradezu strahlend aus: 80 Prozent der Bürger in den 28 Mitgliedstaaten sind mit ihrem Leben zufrieden. Noch besser als im Durchschnitt ist die Stimmung in den wohlhabenden westlichen Ländern (Deutschland: 89 Prozent).
Auch was ihre persönliche wirtschaftliche Lage betrifft, sind die Europäer mehrheitlich zufrieden. Im EU-Schnitt geben zwei Drittel an, ihre finanzielle Situation sei gut (Deutschland: 82 Prozent). Immerhin 58 Prozent finden ihren Job in Ordnung (Deutschland: 68 Prozent). Ob Arbeit, Geld oder Leben - viele glauben, in den kommenden zwölf Monaten werde sich ihre Lage noch weiter verbessern.
Europa, so könnte man meinen, ist ein ziemlich glücklicher Kontinent. Aber das täuscht.
Denn auf den zweiten Blick offenbart sich ein erschreckender Pessimismus. So zufrieden und optimistisch sie sich geben mögen, wenn es um ihr ganz privates Dasein geht - was den Zustand des Landes, der Wirtschaft, Europas insgesamt angeht, sind die Europäer von Düsternis umwölkt.
Deutliche Mehrheiten finden, die Dinge in ihrem jeweiligen Heimatland und in der EU entwickelten sich in die falsche Richtung. Die Lage der Wirtschaft und insbesondere des Arbeitsmarkts halten sie für miserabel. Viele erwarten für die nahe Zukunft eine weitere Verschlechterung.
Wie kann das sein? Warum klafft da eine so große Lücke zwischen dem persönlichen Erleben und dem gesellschaftlichen Empfinden?
Soviel ist klar: Wenn das Private und das Politische derart kollidieren, kann das gravierende politische Folgen haben.

Europa-Banner auf dem Berliner Reichstag
Foto: Bernd Von Jutrczenka/ dpaIn Großbritannien hat sich das kürzlich gezeigt. Individuell gehören die Briten zwar zu den zufriedensten europäischen Nationen. Aber was die Gesamtentwicklung angeht, sind sie ziemlich pessimistisch. (Die Umfrage fand vor dem Brexit-Referendum statt.) Dass die Engländer mehrheitlich für den Ausstieg aus der EU votiert haben, lässt sich so erklären: Sie haben aus einer sicheren persönlichen Position heraus einen Wechsel des politischen Kurses herbeiführen wollen. Irgendwohin. Hauptsache anders. Weil es so anscheinend ja nicht weitergehen kann.
Pessimismus schürt Zynismus. Und zwar unter Leuten, denen es nach eigenem Bekunden gut geht. Das ist neu.
Auch für bevorstehende Wahlen in anderen Ländern ist die Ausgangslage keineswegs beruhigend:
In Italien ist die Stimmung nach Jahren des wirtschaftlichen Abstiegs besonders trüb. Mehrheiten erwarten einen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit und eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage. Im Herbst findet dort ein Referendum über eine Verfassungsreform statt. Sollte sie scheitern, hat Premier Matteo Renzi bereits seinen Rücktritt in Aussicht gestellt. Nachfolger könnte der Ex-Clown Beppe Grillo von der linkspopulistischen Fünf-Sterne-Bewegung werden.
In Frankreich ist die Stimmung noch düsterer als in Italien. Mit ihrem eigenen Leben sind die Franzosen zwar ziemlich zufrieden; die Werte liegen etwa im EU-Schnitt. Aber 90 Prozent halten die Lage auf dem Arbeitsmarkt für schlecht; 85 Prozent sehen die Wirtschaft in schlechtem Zustand; 76 Prozent finden, das Land entwickle sich in die falsche Richtung. Im kommenden Frühjahr finden Präsidentschaftswahlen statt, bei denen sich erstmals der rechtsnationale Front National realistische Chancen auf einen Sieg ausrechnen kann.
In Österreich wähnen Mehrheiten ihr Land und die EU insgesamt auf falschem Kurs. Bemerkenswert: Obwohl sie mit ihrer persönlichen wirtschaftlichen Lage hochgradig zufrieden sind, schätzen sie die Arbeitsmarktsituation als schlecht ein. Im Herbst wird die Wahl zum Bundespräsidenten wiederholt. Der beim ersten Versuch knapp unterlegene FPÖ-Kandidat Norbert Hofer könnte doch noch Staatsoberhaupt werden.
Und Deutschland?
Die Bundesbürger unterscheiden sich insofern von den übrigen Europäern, als sie nicht nur ihre eigene Situation, sondern auch die Wirtschaftslage im Land gut finden. Doch beim Blick in die Zukunft wird ihnen mulmig, nicht für sich persönlich, wohl aber fürs Gemeinwesen: Mehrheiten erwarten binnen zwölf Monaten eine Verschlechterung auf dem Arbeitsmarkt. 46 Prozent sehen Deutschland auf falschem Kurs, 60 Prozent die EU. Für die regierende Große Koalition sind das gut ein Jahr vor den Bundestagswahlen schlechte Nachrichten.
Woher rührt die Diskrepanz zwischen privater und gesellschaftlicher Wahrnehmung? Ich sehe vor allem drei Gründe:
1. Die Konjunktur in Europa kommt nach wie vor nicht in Gang. (Neue Zahlen für Deutschland und die EU gibt es am Freitag). Die Bankenkrise in Italien zeigt, dass die Euro-Dauerkrise längst nicht gelöst ist. Dass Großbritannien, die zweitgrößte EU-Volkswirtschaft, nach dem Brexit-Votum nun in die Rezession trudelt, macht die Lage auch auf dem Kontinent nicht einfacher.
2. Die Serie von Terroranschlägen, die nun auch auf Deutschland übergegriffen hat, schafft eine fundamentale Verunsicherung, zumal wenn Attentate von Immigranten begangen werden. In vielen Ländern sind Zuwanderung und Terror inzwischen die mit Abstand wichtigsten Themen, wie die Eurobarometer-Umfrage zeigt. Das dürfte sich in insgesamt pessimistischeren Erwartungen niederschlagen, auch für die Wirtschaft.
3. Der steigende Einfluss populistischer Politiker verzerrt die Wahrnehmung. Populistische Oppositionspolitiker malen die Welt übertrieben negativ. Alles ist ganz schlimm: Überfremdung, Verbrechen, Arbeitsmarkt, die Nation befinde sich in einem Selbstbehauptungskampf. Das mag mit der individuell erlebten Realität kaum etwas zu tun haben, es funktioniert aber trotzdem. Denn das große abstrakte Ganze - Gesellschaft, Volkswirtschaft, Europa - können wir uns ohnehin nicht durch eigene Sinneswahrnehmung erschließen. Wir folgen Erzählungen, die unser Bild von der Welt prägen. Sie können - und sollten! - auf Fakten basieren. Müssen sie aber nicht. Populisten machen sich das zunutze. Eine gute Geschichte entwickelt ihre eigene suggestive Kraft, egal ob sie die erlebte Realität abbildet oder nicht.
Wie es Ihnen persönlich geht, das kann niemand so gut beurteilen wie Sie selbst. Wie es der Gesellschaft und der Wirtschaft insgesamt geht, erschließen wir uns durch die Erzählungen, die auf uns einprasseln. Und die sind mit Vorsicht zu genießen.
Die wichtigsten Wirtschaftstermine der Woche
MONTAG
Peking/Wiesbaden - Konjunkturhinweise - Neue Zahlen vom chinesischen Außenhandel und der deutschen Industrieproduktion.
DIENSTAG
Washington - Fed-Vorgaben I - Die Weltbörsen warten auf weitere Signale, wann die US-Notenbank Fed die Zinsen anhebt. Neue Zahlen zur Produktivitätsentwicklung im zweiten Quartal dürften für weitere Spekulationen sorgen.
Peking - Preistrends - Chinas Statistiker legen Zahlen zur Entwicklung der Verbraucher- und Erzeugerpreise vor.
Quartalssaison I - Quartalszahlen von Münchner Rück und Walt Disney.
MITTWOCH
Berichtssaison II - Quartalszahlen von E.ON, Aurubis, Bilfinger, Leoni, Hapag Lloyd, Lanxess, Heidelberger Druckmaschinen.
DONNERSTAG
Washington - Fed-Vorgaben II - Erstanträge auf Arbeitslosenhilfe in den USA: Zuletzt war der Arbeitsmarkt überraschend gut gelaufen - was zu Spekulationen über die eine baldige Zinserhöhung geführt hat.
München - Weltkonjunktur - Neues vom Weltwirtschaftsklimaindex des Ifo-Instituts.
Berichtssaison III - Quartalszahlen von Deutsche Telekom, Henkel, RWE, K+S, ThyssenKrupp, Schaeffler.
FREITAG
Wiesbaden/Brüssel/Rom/Athen - Euro-Konjunktur - Erste Schätzungen zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts in Deutschland, Italien, Griechenland und in der Eurozone insgesamt.
Berichtssaison IV - Quartalszahlen von Maersk, Alibaba, Deutsche Wohnen.

Institut für Journalistik, TU Dortmund
Henrik Müller ist Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der Technischen Universität Dortmund. Zuvor arbeitete der promovierte Volkswirt als Vizechefredakteur des manager magazin. Außerdem ist Müller Autor zahlreicher Bücher zu wirtschafts- und währungspolitischen Themen. Für den SPIEGEL gibt er jede Woche einen pointierten Ausblick auf die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der Woche.