Michael Sauga

Widerstand gegen Reform der EU-Schuldenregeln Warum die Ampel jetzt geduldig sein sollte

Michael Sauga
Eine Kolumne von Michael Sauga
Frankreichs Präsident Macron will die Maastricht-Kriterien so schnell wie möglich reformieren. Darauf sollte sich die Ampel keinesfalls einlassen.
Kanzler Scholz (l.) und Frankreichs Präsident Macron müssen sich über Europas Schuldenregeln verständigen

Kanzler Scholz (l.) und Frankreichs Präsident Macron müssen sich über Europas Schuldenregeln verständigen

Foto: IAN LANGSDON / EPA

Ökonomen nennen es den »Optionswert des Wartens«, aber man kann es auch einfacher ausdrücken. In Zeiten großer Unsicherheit, so meint der Begriff, kann es sich lohnen, wichtige Entscheidungen aufzuschieben. Bis die Verhältnisse geklärt sind. Bis sich Kosten und Erträge besser kalkulieren lassen.

Angela Merkel war eine große Anhängerin der Methode; und nun, so empfehlen es führende Denkfabriken in Brüssel, sollte sich auch ihr Nachfolger das Motto zu eigen machen – zumal, wenn es um ein so zentrales Thema wie die Reform der europäischen Fiskalregeln geht. Vor einigen Monaten hatte bereits das Bruegel-Institut vorgerechnet, dass eine Neufassung der sogenannten Maastricht-Kriterien nicht dringlich ist. Nun hat sich auch das Center for European Policy Studies (Ceps) dem Team Vorsicht angeschlossen. Es ergebe aktuell »keinen Sinn«, rät der langjährige Instituts-Direktor Daniel Gros dem neuen deutschen Bundeskanzler, sich dabei »zu beeilen«.

Es wäre falsch, den notwendigen Umbau zu überstürzen

Die Mahnung kommt zur rechten Zeit. Seit das Coronavirus die Schuldenberge der EU-Länder auf neue Rekordhöhen getrieben hat und Milliarden in den klimagerechten Umbau der Wirtschaft gesteckt werden sollen, hat das Thema Konjunktur im Staatenbund. Der zuständige EU-Kommissar Paolo Gentiloni wirbt schon seit Monaten dafür, die Fiskalregeln aufzuweichen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron konfrontierte Olaf Scholz bei dessen Antrittsbesuch in Paris mit derselben Forderung. Und Italiens Ministerpräsident Mario Draghi mag von den jahrzehntealten Kriterien erst recht nichts mehr wissen. Eine Neufassung, sagt er, sei »unvermeidlich«.

Da ist etwas dran, und dennoch wäre es falsch, den notwendigen Umbau zu überstürzen. Eine Reform muss mehr Spielraum für produktive Investitionen schaffen, das lässt sich kaum bestreiten. Zugleich aber muss sie dafür sorgen, dass die staatlichen Schuldenberge nicht unbegrenzt wachsen. Ökonomen haben seit Langem Konzepte für eine neue Balance von Flexibilität und Sicherheit in der Eurozone entwickelt. Das Problem ist nur, dass die Regeln zu den herrschenden wirtschaftlichen Bedingungen passen müssen – und die sind derzeit so unsicher wie kaum je zuvor.

Aktuell weiß niemand, wie die Wirtschaft in der Post-Corona-Ära aussehen wird. Manche Experten rechnen mit einem starken Aufschwung. Andere sagen anhaltend steigende Preise voraus, die wieder andere von nachlassender wirtschaftlicher Dynamik begleitet sehen, wie in der Stagflation der Siebzigerjahre. Je nach Szenario sind die Folgen für die Finanzpolitik beträchtlich.

Steigen dauerhaft die Preise, werden wohl auch die Zinsen anziehen, mit möglicherweise fatalen Folgen für hochverschuldete Staaten wie Griechenland oder Italien. Kommt es dagegen zu einem Post-Corona-Boom wie von Brüssel unterstellt, könnten die Staaten ihre Schulden weitaus schneller zurückführen als gedacht, wie eine Ceps-Modellrechnung zeigt. Die EU-Kriterien hierfür ließen sich ohne größere Anstrengungen einhalten.

Hinzu kommt, dass die meisten EU-Staaten derzeit im Geld schwimmen. Nachdem die EU im vergangenen Jahr den milliardenschweren Wiederaufbaufonds eingerichtet hat, können die Regierungen noch mehrere Jahre lang beinahe nach Wunsch investieren. Die Frage lautet derzeit eher, ob sich genügend produktive und grüne Projekte für das viele Geld aus Europa finden lassen. Und ob es eine ausreichende Zahl von Fachkräften, Ingenieuren und Planungsbeamten gibt, um die Konzepte umzusetzen. Sinken zudem die Kosten erneuerbarer Energien, wie es viele Propagandisten der Klimawende unterstellen, wird viel weniger öffentliches Geld benötigt als derzeit angenommen.

Die Ampel sollte sich deshalb nicht durch das Drängen aus Paris, Rom und Brüssel unter Druck setzen lassen. Eine Reform der Fiskalregeln ist nötig. Aber sie hat keine Eile und sollte gründlich vorbereitet werden. Anders als Merkel, die Macrons Vorschläge meist höflich ignorierte, sollten sich Scholz, Lindner und Habeck die Zeit nehmen, ein eigenes Konzept zu entwickeln.

Großteil der Gemeinschaftssteuern steht nur auf Papier

Den Wiederaufbaufonds zur Dauereinrichtung zu machen, wie es die französische Regierung jüngst vorgeschlagen hat, kann dafür allenfalls ein erster Orientierungspunkt sein. Denn die Berliner Regierung muss die Grenzen beachten, die das Bundesverfassungsgericht in der Frage gezogen hat. Sie sollte darüber nachdenken, ob die EU oder die Einzelstaaten einen solchen Extrahaushalt zu planen und zu überwachen haben. Und sie muss die Frage beantworten, wie die neu aufgenommenen Schulden getilgt werden können.

Dazu gibt es in Europa bislang keine befriedigende Antwort, schon gar nicht von den Reformbefürwortern in der EU. Ein Großteil der zusätzlichen Gemeinschaftsteuern zum Beispiel, die der Staatenbund im vergangenen Jahr zur Finanzierung des neuen Aufbaufonds beschlossen hat, stehen bislang nur auf dem Papier. Oder sind sogar schon wieder gestrichen wie die ursprünglich vorgesehene EU-weite Digitalsteuer. Ein Finanzplan aber, mit dem sich die Schulden zwar aufnehmen, aber nicht bedienen lassen, hat seinen Namen nicht verdient.

Dass nun Denkfabriken zur Vorsicht mahnen, die nicht im Verdacht stehen, der deutschen Hardliner-Fraktion anzugehören, sollte der Ampel zusätzlich zu denken geben. Die Wortmeldungen der Brüsseler Experten deuten darauf hin, dass die jüngsten Vorschläge aus Paris eher politischen als wirtschaftlichen Motiven folgen. Könnte es sein, dass sich der hierzulande viel gelobte Macron im französischen Präsidentschaftswahlkampf als Kandidat präsentieren will, der die neue deutsche Regierung von Beginn an unter Druck zu setzen versteht?

Warten kann sich auszahlen. Das ist nicht zuletzt dann ein vernünftiges Prinzip, wenn in Frankreich um die Macht im Élysée gerungen wird.

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