Möglicher Kurswechsel EZB tastet sich in Richtung Zinserhöhung

Das Thema Zinswende ist bei der Europäischen Zentralbank angekommen. Präsidentin Lagarde betonte die Gefahr steigender Preise außergewöhnlich deutlich. Experten rechnen bald mit einem ersten Schritt.
Der Druck wächst: EZB-Präsidentin Christine Lagarde

Der Druck wächst: EZB-Präsidentin Christine Lagarde

Foto: Andrew Caballero-Reynolds / AFP

Dieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.

Ihre vor allem deutschen Kritiker dürften nach der heutigen Sitzung der Europäischen Zentralbank (EZB) den nächsten Wutanfall bekommen haben. Die Leitzinsen bleiben bei null Prozent; dass das pandemiebedingte Notprogramm zum Ankauf von Staats- und Unternehmensanleihen Ende März ausläuft, war bekannt.

Anders ausgedrückt: Business as usual, auch wenn die Inflation galoppiert. Das dürfte für aufgeregte Boulevard-Schlagzeilen reichen.

Aber wer genauer hinhörte, was EZB-Präsidentin Christine Lagarde am Donnerstag auf Fragen von Pressevertretern antwortete, wird eine andere Botschaft vernommen haben: Das Thema Zinswende ist bei der EZB angekommen. Viel deutlicher als in den vergangenen Monaten betonte Lagarde, welche Gefahr von steigenden Preisen ausgeht »für unsere Mitbürger, die täglich tanken und einkaufen müssen«.

»Wir stehen bereit, all unsere Maßnahmen zu überprüfen, um sicherzustellen, dass die langfristige Inflation bei rund zwei Prozent liegt.«

EZB-Präsidentin Christine Lagarde

Und wer das heutige Kommuniqué der EZB mit den vorherigen verglich, wird festgestellt haben, dass die EZB einen entscheidenden Satz gestrichen hat – nämlich den, dass »Anpassungen der Geldpolitik in beide Richtungen« möglich seien. Auf Hochdeutsch: Ab jetzt sind hohe und weiter steigende Preise viel wahrscheinlicher als sinkende, was angesichts von 5,1 Prozent Inflation in der Eurozone auch logisch ist.

Und noch etwas betonte Lagarde mehrfach: »Wir stehen bereit, all unsere Maßnahmen zu überprüfen, um sicherzustellen, dass die langfristige Inflation bei rund zwei Prozent liegt.« Das ist das übliche Fachchinesisch der Währungshüter, aber ein weiteres Indiz dafür, dass die EZB mehr als bisher bereit ist, die Inflation in Richtung ihres mittelfristigen Ziels von zwei Prozent zu senken.

Ein zeitweises Überschießen dieser Marke toleriert sie, aber unendlich ist ihre Geduld nicht – und noch weniger die der Bürger. Das weiß auch Lagarde: »Am stärksten leiden die unter Inflation, die verletzlich sind«, sagte sie mit Blick auf Menschen mit geringeren Einkommen, hoher Konsumquote und zwangsläufig kaum einer Chance, Geld beiseitezulegen. »Darüber haben wir im Geldpolitischen Rat der EZB sehr ernsthaft debattiert.«

Erste Andeutungen eines Zinsschritts im März?

Diese Debatte wird weitergehen. Und wenn nicht alles täuscht, könnte sie bereits im März dazu führen, dass die EZB für 2022 einen ersten Zinsschritt nach oben andeutet. Bislang galt das als ausgeschlossen. Am 10. März aber tagt der EZB-Rat wieder, und bis dahin dürften die ohnehin enorm hohen Kosten für Öl, Gas und Elektrizität weiter steigen oder zumindest nicht signifikant fallen. Denn dass sich die Lage in der Ukraine und die Rohstoffpolitik des russischen Präsidenten Wladimir Putin kurzfristig ändern, ist unwahrscheinlich.

Daran können zwar Zinserhöhungen auch nichts ändern; aber in den nächsten Wochen dürfte es mehr Signale als bisher geben, ob sich die hohen Energie- und Lebenshaltungskosten in höheren Lohnforderungen der Arbeitnehmer niederschlagen und sich die Inflation womöglich verselbständigt. »Im März haben wir mehr Informationen über die Inflation und den Arbeitsmarkt und was das mittelfristig bedeutet. Wir sind alle besorgt, die richtigen Schritte zur richtigen Zeit zu übernehmen, aber wir sollten nichts übereilen«, sagte Lagarde, die höhere Lohnforderungen für zwangsläufig und beinahe wünschenswert für die Arbeitnehmer in Europa hält.

»Eine erste Zinserhöhung noch in diesem Jahr scheint damit ein durchaus realistisches Szenario zu werden«, glaubt Ulrike Kastens, Volkswirtin Europa der Fondsgesellschaft DWS. Und Konstantin Veit, Portfoliomanager beim Vermögensverwalter Pimco, meint: »Die Marktteilnehmer rechnen nun mit einer ersten Zinserhöhung um zehn Basispunkte im Juli.«

Kurzum: Verbal hat die EZB die Zinswende für Europa heute und damit früher als erwartet eingeleitet, und sie wird ihren Worten Taten folgen lassen müssen, wenn sich die Inflation verfestigt.

Etwas anderes freilich hat Lagarde am Donnerstag auch gesagt, und das sollten ihre Kritiker ebenfalls zur Kenntnis nehmen: Die durchschnittliche Arbeitslosenquote im Euroraum ist auf den historisch niedrigen Stand von sieben Prozent gesunken, so viele Menschen wie nie sind in Lohn und Brot – und das nach einer Jahrhundertkrise namens Corona. Und das liegt nicht zuletzt an den beispiellosen Maßnahmen der EZB.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren