Finanzmärkte Die verheerende Mechanik des Börsencrashs

Panikverkäufe, Wertverluste in dreistelliger Milliardenhöhe: Das globale Börsenbeben hat historische Ausmaße. Ein Aktienhändler, ein Fondsmanager, ein Anlagestratege und ein Analyst beschreiben, wie es zu dem plötzlichen Crash kam - und wie sich Anleger nun verhalten sollten.

Hamburg - Dass der Jahresstart so desaströs wird, hat fast alle überrascht. Um mehr als 15 Prozent hat der Dax   binnen drei Wochen nachgegeben, davon allein gestern sieben Prozent - und heute fallen die Kurse erneut. Dabei sollte der Januar historisch gesehen eher ein guter Börsenmonat sein.

"Die Subprime-Krise ist seit Sommer Thema an den Börsen. Doch erst gestern war der erste wirklich panische Verkaufstag", sagt Ascan Iredi, Aktienhändler bei der Postbank. Zu sorglos, zu wenig abgesichert hätten viele Anleger in den vergangenen Monaten agiert. Bemerkenswert stabile Börsen hätten sie in der Annahme bestärkt, ihre Aktien seien von faulen US-Hypothekenkrediten nicht betroffen.

Sind sie aber doch. Spätestens dann, wenn die Kreditkrise auf die reale Wirtschaft übergreift, klamme Verbraucher ihr Geld zusammenhalten und auch Unternehmen nur noch zu hohen Preisen Kredite bekommen. Die Rezession, in der sich die USA womöglich schon befinden, dürfte dann auch europäische Unternehmen ausbremsen.

Die extrem starken Schwankungen im Dax   haben aber noch einen anderen Grund, weiß Iredi. Immer mehr institutionelle wie auch private Investoren handeln inzwischen mit Finanzderivaten. "Da ist es aus mit der Gelassenheit. Dafür ist kein Spielraum mehr."

Wer etwa eine Daimler-Aktie kauft, kann auch mal einen Kursrutsch von 20 Prozent aussitzen und darauf hoffen, dass sich das Unternehmen irgendwann wieder erholt. Wer aber einen Knock-out-Optionsschein auf Daimler oder auf den Dax im Depot hat, kann einem Kursrutsch nicht mehr so gelassen zuschauen. Ihm droht der Totalverlust, wenn der Basiswert eine bestimmte Schwelle unterschreitet und das Finanzderivat "ausgeknockt" wird. "Viele Investoren sind über Derivate Risiken eingegangen, die bis zum Totalverlust reichen können", sagt Iredi. "Da wird um jeden Preis verkauft, wenn die Kurse erst einmal rutschen."

Kurse rutschen grundsätzlich schneller, als sie steigen. Schließlich sind Gewinne in Sicherheit zu bringen und Verluste zu begrenzen. Derivate wirken im Abschwung wie ein Turbo: Schließlich ist der Kapitaleinsatz zu retten.

Die Frage, ob einzelne Unternehmen derzeit "fair" bewertet sind, stelle sich momentan nicht, ergänzt Iredi. Ein Versorgerwert wie E.on   zum Beispiel habe noch vor kurzem als "defensiver Wert" gegolten, weil Energieversorger auch in schlechten Zeiten ihr Produkt verkaufen und stabile Gewinne erzielen. Doch zum Wochenauftakt gehörte E.on zu den größten Verlierern im Dax  : "Fonds brauchen Liquidität. Daher verkaufen sie Werte, die gut gelaufen sind - unabhängig davon, ob sich die Perspektiven des Unternehmens dramatisch verändert haben oder nicht."

Im Fall einer Rezession in den USA ist es für Iredi allerdings schwer vorstellbar, dass Unternehmen ihr aktuelles Gewinnwachstum halten können. "Die Börse ist sensibel", sagt der Händler, der das Geschehen am Finanzmarkt seit Jahren im Blick hat. "Der Markt schafft Fakten, bevor Unternehmen und Analysten ihre Gewinnschätzungen herunternehmen."

Iredi spürt derzeit eine "extrem hohe Nervosität" im Markt. Er erwartet starke Schwankungen, auch mit weiteren Ausbrüchen nach unten. "Statt bei Kursschwäche zu kaufen, würde ich derzeit eher eine Zwischenerholung zum Verkauf nutzen", sagt Iredi.

Fondsmanager Jörg de Vries-Hippen ist dagegen gelassener. "Am wichtigsten ist, Ruhe zu bewahren", sagt der Leiter des europäischen Aktienfondsmanagements bei Allianz Global Investors. Derzeit sei enorm viel Unsicherheit im Markt: Unsicherheit darüber, welche Lasten Finanzinstitute auch nach ersten Milliardenabschreibungen noch in ihren Büchern haben. Unsicherheit darüber, wie stark die Gewinne der Unternehmen unter einer Abkühlung der Weltwirtschaft tatsächlich leiden werden.

"Es gibt viele Spekulationen, aber kaum belastbare Daten der Unternehmen", sagt de Vries-Hippen. "Das ist ein schlechter Zeitpunkt, um alle Investments über Bord zu werfen."

Derzeit gehe der Markt davon aus, dass die USA in eine Rezession hineinlaufen und dass dies auch starke Auswirkungen in Europa haben werde. Dow Jones   und Nasdaq Composite   hatten ihren Kursrutsch fortgesetzt, auch nachdem Fed-Chef Ben Bernanke und US-Präsident George W. Bush "rasche Hilfsmaßnahmen", sprich Steuererleichterungen und weitere Zinssenkungen, versprochen hatten.

"Wenn wir uns in einer Rezession einigeln, dürften die Kurse weiter nachgeben - aber so weit muss es nicht kommen", sagt de Vries-Hippen. Die Verunsicherung und das Maß an Spekulation hätten ein so hohes Ausmaß erreicht, dass schon wieder Raum für positive Überraschungen entstehe - möglicherweise fangen sich die USA schneller, als es Anleger derzeit vermuten.

"Die Konjunktur dürfte abkühlen, wird aber nicht über Nacht abgeschaltet", meint der Fondsmanager der Allianz   . "Wer Aktien als Langfristinvestment versteht, übersteht auch eine solche Phase."

Auch der Fondsmanager beobachtet momentan einen Verkaufsdruck, der "vor allem über die Derivateseite" entstehe. Wenn sich auf der Gegenseite mögliche Käufer zurücklehnen und abwarten, wie tief die Kurse noch fallen, schlage dieser Verkaufsdruck umso stärker durch.

"Dies führt zu Übertreibungen nach oben wie nach unten - so lange, bis sich das Gegengewicht zurückmeldet und die ersten Gelegenheitskäufer dagegenhalten."

Die fällige Gegenreaktion dürfte aber nicht zu einer raschen Erholung zurück zu alten Höhen, sondern eher zu einem zähen Ringen zwischen Bullen und Bären im Jahr 2008 führen, meint Aktienstratege Philipp Vorndran, Chef-Anlagestratege bei der Vermögensverwaltung der Credit Suisse  . Der Markt 2008 dürfte sehr volatil bleiben. Die Zeiten, als es nach einem kurzen Rücksetzer wieder stramm aufwärts ging, seien vorbei.

"Nicht zu mutig sein"

Die gestiegene Neigung institutioneller Investoren, ihre Risiken zu begrenzen, verstärke den Verkaufsdruck, meint Vorndran. Viele Versicherungsunternehmen rund um die Welt seien derzeit gezwungen, die Reißleine zu ziehen. "Sie verkaufen Aktien, nicht weil sie plötzlich eine negative Meinung von den betroffenen Unternehmen haben. Sie verkaufen, weil sie den nächsten Stresstest überstehen und sich nicht nachsagen lassen wollen, sie seien zu stark in riskante Anlagen investiert."

Die Vorstellung, Europa könne sich von einer Rezession in den USA komplett abkoppeln, sei mit dem jüngsten Kursrutsch beerdigt worden, so der Stratege der Credit Suisse. Inzwischen preise der Markt sowohl eine US-Rezession als auch ein Überschwappen der Probleme nach Europa mit ein. "Nicht ganz ohne Grund", meint Vorndran.

Der schwache Dollar bringe viele europäische Exporteure in große Schwierigkeiten. Die jüngsten Hiobsbotschaften von WestLB, Hypo Real Estate   und IKB   hätten zudem gezeigt, dass europäische Finanzwerte ebenso vom Subprime-Virus verseucht sind. Die EZB werde zudem durch die weiteren Zinssenkungen der Fed unter Druck gesetzt: "Die Erwartungen, dass auch die EZB die Zinsen senkt, steigen mit jedem Tag."

Die Hoffnung, dass ein steigender Binnenkonsum in Deutschland in diesem Jahr die Exportschwäche ausgleichen könne, sollte nicht überstrapaziert werden, meint Vorndran. Ein großer Teil des Lohnplus werde durch steigende Energie- und Lebensmittelpreise sowie durch höhere Versicherungsbeiträge wieder aufgefressen.

Stagflation, also steigende Preise trotz konjunktureller Abkühlung, sei ein Szenario, dessen Wahrscheinlichkeit von den Marktteilnehmern zunehmend höher gewichtet werde. "Das wäre kein gutes Szenario für Aktien und Anleihen", sagt Vorndran.

Der Aktienstratege erwartet für dieses Jahr noch einige Belastungen für europäische Unternehmen. "Auf aktuellem Niveau muss man keine Aktien mehr verkaufen. Aber auch mit Käufen sollte man vorsichtig und weltweit diversifiziert vorgehen."

"Einstieg nur Schritt für Schritt"

Das Kursziel für den Dax hat Berndt Fernow, Analyst bei der Landesbank Baden-Württemberg, zu Jahresbeginn auf 7600 Punkte heruntergenommen. "Die Rezessionsdebatte hat den Dax mit Verspätung, aber auch mit Macht erreicht", sagt Fernow. Noch zum Jahresausklang 2007 sei das Rezessionsgespenst immer wieder von positiven Unternehmensnachrichten vertrieben worden. "Doch jetzt beherrscht das Thema den Markt. Jetzt trifft es alle."

Die Zeit der relativen Stärke des Dax, der im Gegensatz zum Dow auch defensive Versorger- und Telekomwerte enthält, ist nach Einschätzung von Fernow vorbei. Fondsprofis brächten Geld in Sicherheit: "Einen Verlust von fünf Prozent halten institutionelle Anleger in Deutschland bis zum Bilanzstichtag noch aus. Doch bei 10, 15 Prozent Verlust binnen weniger Wochen ist die Schmerzgrenze überschritten."

Einsteigen, wenn andere verkaufen müssen? Das Jahr 2008 werde noch einige Kaufgelegenheiten für antizyklische Investoren bieten, meint Fernow. Doch sei es besser, "schrittweise und langsam" Aktienbestände aufzubauen, statt alles auf eine Karte zu setzen. Den idealen Kaufzeitpunkt, das belegen Langzeitvergleiche, erwischt man ohnehin nie. "Schwankungen bleiben, die Probleme sind noch nicht ausgestanden. Deshalb sollte man nicht zu mutig sein", sagt der Analyst der LBBW.

Mit dem Platzen einer Kursblase wie in den Jahren 2001 und 2002 sei diesmal aber nicht zu rechnen. "Im Jahr 2000 gab es Überspekulationen in den Sektoren Mobilfunk und Internet, die zeitweise mehr als die Hälfte des Börsenwertes der europäischen Unternehmen ausmachten", sagt Fernow. "Diesmal hat der Markt in seiner gesamten Breite von einem zyklischen Konjunkturhoch profitiert." Die Konjunktur werde sich nun abkühlen - und dies werde sich auch in der Ertragslage der Unternehmen spiegeln. "Eine Abkühlung bedeutet aber nicht, dass es zwangsläufig zu massiven Gewinneinbrüchen kommt", so der Analyst.

Wer davon ausgehe, dass Unternehmen ihr Gewinnniveau im Jahr 2008 in etwa halten werden, könne bereits wieder einen Blick auf dividendenstarke Unternehmen werfen. "Die Dividendenrendite vieler Unternehmen übersteigt bereits wieder die Anleihenrendite - das spricht für Aktien", sagt Fernow. Doch auch er warnt davor, Hals über Kopf zu investieren: Dafür schlage der Markt derzeit zu hohe Wellen.

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