Energiewende "Der deutsche Vorsprung ist uneinholbar"

Kohlekraftwerk Staudinger
Foto: Frank Rumpenhorst/ dpa
Gérard Magnin, 67, ist Gründer von Energy Cities, einem Zusammenschluss von über 1000 europäischen Städten zur Förderung einer nachhaltigen lokalen Energiepolitik. Für sein Engagement wurde er in die französische Ehrenlegion aufgenommen. Von 2014 bis 2016 war er im Auftrag der französischen Regierung Mitglied im Aufsichtsrat des global führenden Energiekonzerns EDF, der in Frankreich 58 Atomkraftwerke betreibt.
SPIEGEL ONLINE: Im Oktober will Frankreich eine neue Energieplanung für die kommenden Jahre verabschieden. Hauptthema ist der zukünftige Anteil der Atomenergie am französischen Energiemix. Sie werfen den Akteuren in Frankreich in diesem Zusammenhang vor, bewusst falsch über die deutsche Energiewende zu berichten. Was erregt Ihren Unmut?
Gérard Magnin: Die Entscheider in der französischen Energiepolitik, Industrielle und Politiker, behaupten routinemäßig, dass Deutschland aufgrund seines Atomausstiegs die Kohleindustrie neu angekurbelt hat. Schon im Wahlkampf sagte unser heutiger Präsident Emmanuel Macron: 'Ich verteidige die Atomenergie, weil ich nicht wie Deutschland Kohlekraftwerke wieder eröffnen will.' Das wird von allen Beteiligten ständig wiederholt. Deutschland wird in Frankreich energiepolitisch mit Kohle und höheren CO2-Ausstößen gleichgesetzt.
SPIEGEL ONLINE: Es stimmt doch, dass Deutschland noch stark auf die Kohle angewiesen ist und daher in einer Kommission über den Ausstieg nach 2040 berät.
Magnin: Das stelle ich nicht in Frage. Aber in Frankreich wird systematisch suggeriert, dass Deutschland heute weniger Atomenergie hat und genau deshalb mehr Kohleenergie verbraucht. Das sind Fake-News. Trotz der Schließung vieler Atomkraftwerke hat Deutschland seinen Kohleanteil am Energieverbrauch leicht reduzieren können. Außerdem ist der Anteil der Erneuerbaren Energien aus Windkraft etwa in Deutschland drastisch gestiegen. Das aber wird bei uns konsequent verschwiegen.
SPIEGEL ONLINE: Wer verschweigt das?
Magnin: Natürlich die Verantwortlichen vom Energiekonzern EDF, aber auch Politiker aller Lager und Teile der Medien. Hinterher liest man einen vereinzelten Tweet, der die Sache richtigstellt. Aber das dringt nicht durch.
SPIEGEL ONLINE: Deutschlands Wirtschaftspolitik wird doch sonst in Frankreich viel gelobt.
Magnin: Völlig richtig, gerade die französischen Eliten beneiden Deutschlands Exportüberschuss und seine industriellen Erfolge. Mit einer großen Ausnahme: der Energiepolitik. Man behauptet, dass Kanzlerin Angela Merkel nach der Katastrophe von Fukushima ihren Ängsten und Gefühlen nachgegeben und mit dem Atomausstieg irrational gehandelt habe. Dabei ist sie Physikerin mit einem Pro-Atomhintergrund.
SPIEGEL ONLINE: Auch das wissen viele Franzosen und schätzen Merkels Pragmatismus.
Magnin: Ich muss als Franzose regelmäßig vernehmen, wie uns der EDF-Vorsitzende Jean-Bernard Lévy erklärt, dass die armen Deutschen für die Beheizung ihrer Wohnungen 80 Prozent mehr oder doppelt so viel für ihren Strom zahlen müssen. Das macht ihnen angst, aber auch das ist eine Irreführung. Weil die deutschen Haushalte ein Drittel weniger Strom als die französischen konsumieren, betragen ihre Stromrechnungen trotz höherer Kilowattpreise bei weitem nicht das Doppelte der französischen. Das wiederum erfährt bei uns niemand.
SPIEGEL ONLINE: Macht in der Energiepolitik in Europa nicht sowieso jeder, was er will?
Magnin: Auch das wirft Frankreich den Deutschen vor: Sie hätten den Atomausstieg ohne Absprache mit ihren Nachbarn beschlossen. Doch der Vorwurf gilt genauso für Frankreich: Bei der Formulierung des neuen Energiegesetzes für die nächsten Jahren stimmt sich Paris heute auch mit niemandem ab.
SPIEGEL ONLINE: Woher der ganze Ärger über Deutschland?
Magnin: Es geht um die Rechtfertigung der französischen Ausnahme. Nur Frankreich setzt heute noch nahezu komplett auf Atomkraft. Bei EDF sieht man den deutschen Erfolg mit den Erneuerbaren zudem als Preis-Dumping: Weil Deutschland immer mehr erneuerbare Energien in einer Zeit fallenden Elektrizitätsverbrauchs auf den Markt bringt, sinken die Preise.
SPIEGEL ONLINE: Trotzdem exportiert EDF jede Menge Atomstrom.
Magnin: Ja, in fast alle Länder exportieren wir mehr Strom als wir importieren. Die große Ausnahme aber ist Deutschland. Nur will das kein Franzose glauben. Alle denken, wir exportieren mehr nach Deutschland als umgekehrt. Das ist aber schon seit Jahren falsch und zeigt nur, wie verblendet die französische Öffentlichkeit ist. 2017 war sogar das Jahr des Rekordüberschusses an deutschen Stromlieferungen, trotzdem änderte sich nichts an der französischen Grundhaltung.
SPIEGEL ONLINE: Warum macht Präsident Macron bei all dem mit? Er ist doch ein Liberaler, der das Quasi-Monopol EDF kritisieren müsste.
Magnin: Er hatte sich schon als Wirtschaftsminister in den Jahren 2014 bis 2016, als ich im Aufsichtsrat von EDF saß, den Interessen der Atomindustrie untergeordnet. Tatsächlich ist der Anteil von Sonnen- und Windenergie am französischen Stromverbrauch innerhalb der vergangenen 20 Jahre von 0,5 auf 6 Prozent gewachsen, in Deutschland aber in der gleichen Zeit von 3 auf 36 Prozent. Das bedeutet: Der deutsche Vorsprung ist uneinholbar.