Freihandelsabkommen für Asien und Pazifik Die Macht des neuen Ostblocks

Während Europa und die USA mit der Pandemie kämpfen, gelingt China einer der weltgrößten Freihandelsverträge. Er könnte die Vormachtstellung des Landes ausweiten – und zur Gefahr für die deutsche Exportindustrie werden.
Von Markus Becker, Georg Fahrion, Claus Hecking und Bernhard Zand, Brüssel, Hamburg und Peking
Applaus, Applaus: Die Vertreter von 15 Nationen und der Asean-Generalsekretär bei der virtuellen Unterzeichnung des RCEP-Abkommens

Applaus, Applaus: Die Vertreter von 15 Nationen und der Asean-Generalsekretär bei der virtuellen Unterzeichnung des RCEP-Abkommens

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Vietnam News Agency (VNA) / AP

Das Unterschriften-Zeremoniell haben sich die Organisatoren des virtuellen Freihandelsgipfels von Hanoi offenbar bei Donald Trump abgeschaut: Sobald die 15 Regierungschefs und Minister aus Asien und Ozeanien das Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) signiert haben, sollen sie die Mappe mit der Signatur in die Webcam halten – ähnlich wie es der Noch-US-Präsident so gern zelebriert.

Nacheinander unterschreiben sie die beiden vor ihnen liegenden Blätter: die Herren in Tokio, Canberra oder Peking, die Damen in Wellington oder Seoul. Bei jedem In-die-Kamera-halten werden sie beklatscht von den anderen Teilnehmern der Videokonferenz. Sie haben Großes vereinbart. Zumindest auf dem Papier. Auch dank Donald Trump.

15 Staaten, von Australien über China, Japan und Südkorea bis Vietnam, haben sich am Sonntag auf das größte Handelsabkommen in der Geschichte des asiatisch-pazifischen Raums geeinigt. 2,2 Milliarden Menschen leben in dem neuen Handelsblock. Sie produzieren mehr als 30 Prozent der Weltwirtschaftsleistung – und hatten vor der Coronakrise einen Anteil von 29 Prozent am globalen Handelsvolumen.

Bald könnte die neue Freihandelszone so groß sein wie der EU-Binnenmarkt. Größer als die Volkswirtschaften USA, Mexiko und Kanada, die durch den Nafta-Nachfolger USMCA miteinander verbunden sind.

Und während die USA außen vor sind, ist China mittendrin.

Die Machthaber in Beijing zelebrieren RCEP als Triumph. Obwohl nicht sie damals vor acht Jahren die Verhandlungen initiiert hatten, sondern die südostasiatischen ASEAN-Staaten.

Aber es ist das erste Freihandelsabkommen, das China mit Japan und Südkorea eingeht, den beiden anderen großen Volkswirtschaften der Region. Und obendrauf einigt sich die kommunistische Volksrepublik auch noch mit Rohstofflieferanten wie Australien auf gemeinsame Regeln. All das geschieht inmitten der Covid-Pandemie, ungeachtet historischer Spannungen und tagespolitischer Konflikte.

"China nutzt das Vakuum, das die USA hinterlassen haben."

Jürgen Matthes, Institut der Deutschen Wirtschaft

Noch dazu sind die Regierungschefs in Tokio, Seoul und Canberra zentrale Bündnispartner der USA; teils beherbergen sie Truppen der Vereinigten Staaten. Aber diesem Vertrag konnten sie sich nicht verweigern: Hochtechnologie aus Japan, Autos aus Korea, Kohle und Erz aus Australien – kaum jemand kauft davon mehr als China, die Supermacht der östlichen Hemisphäre.

Das Abkommen ist lange nicht so umfassend wie ähnliche internationale Handelsverträge. Pekings Staatsmedien gehen darüber hinweg. Die »China Daily« zitiert auf ihrem Titel Premierminister Li Keqiang – der RCEP zum »historischen Sieg für Multilateralismus und Freihandel« erklärt. Und das US-kritische Propagandablatt »Global Times« erkennt in RCEP gar den Nachweis, dass die »USA in Asien zusehends marginalisiert« seien.

Unter Trumps Vorgänger Barack Obama hatten die USA ein transpazifisches Handelsabkommen geschmiedet: mit einer Reihe asiatisch-ozeanischer Staaten und ohne den Rivalen China. Doch Trump kündigte den TPP-Vertrag gleich am ersten Tag seiner Amtszeit.

Viele Handelsbarrieren für die Landwirtschaft bleiben bestehen

»China nutzt das Vakuum, das die USA im asiatisch-pazifischen Raum hinterlassen haben«, sagt Jürgen Matthes, Leiter des Kompetenzfelds Internationale Wirtschaftsordnung und Konjunktur, beim Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln. »Mit dem Abkommen wird das Land seinen ökonomischen Einfluss erweitern. Und damit auch seinen politischen Einfluss in der Region.« All das passiert mitten in einer Pandemie – die viele Staaten im Fernen Osten offenbar besser unter Kontrolle bringen als jene im Westen, wo gerade die zweite oder dritte Welle wütet.

Allerdings sind die wirtschaftlichen Fortschritte dieses Abkommens überschaubar. Viele der Mitgliedsländer waren vorher schon durch individuelle Freihandelsverträge miteinander verbunden – etwa die südostasiatischen Asean-Staaten untereinander oder als Asean-Block mit China. RCEP vereinheitlicht diese unterschiedlichen Regelungen nun.

»RCEP ist lange nicht so ambitioniert, wie westliche Handelsabkommen es üblicherweise sind«, sagt Mikko Huotari, Direktor des China-Thinktanks Merics in Berlin. So sollen innerhalb der neuen asiatischen Freihandelszone rund 90 Prozent der Zölle wegfallen – bei CPTPP, dem Überbleibsel von TPP nach dem Ausstieg der USA, waren es 100 Prozent. Viele Handelsbarrieren für Landwirtschaft und Dienstleistungen bleiben bestehen. Und von Umwelt-, Arbeits- oder Menschenrechtsstandards ist in dem mehr als 500 Seiten dicken Vertragswerk kaum einmal die Rede.  

Immerhin werden die sogenannten Ursprungsregeln harmonisiert und entbürokratisiert. Das heißt: Ein Hersteller kann sein Produkt mit nur noch einem einzigen Dokument in alle anderen Mitgliedsländer exportieren, sobald RCEP in Kraft getreten ist. Auch bei grenzüberschreitenden Investitionen oder dem Schutz geistigen Eigentums gebe es Fortschritte, sagt Deborah Elms, Chefin des Asian Trade Centre in Singapur. »Es ist ein Wunder, dass diese 15 so unterschiedlichen Staaten überhaupt ein Abkommen erreicht haben.«

Schließlich liegen einige der Unterzeichnerstaaten miteinander im Clinch: etwa China und Australien, deren Streit über die Ursprünge des Coronavirus eskaliert ist. »Auf dem Feld der Wirtschaftspolitik senden diese Länder das klare Signal: Wir können und wollen zusammenarbeiten«, sagt Merics-Forscher Huotari. »Das setzt einen Kontrapunkt zu einem Szenario, in dem sicherheitspolitische Spannungen zu einer Entflechtung auch in der Wirtschaft führen würden.« 

Bedrohlich könnte das Abkommen für die europäische und nordamerikanische Exportindustrie werden. »Es ist ein Problem für alle Unternehmen in Nicht-Mitgliedsländern, die nach Asien exportieren wollen«, sagt Handelsforscherin Elms. Denn für deren Produkte bleiben die alten Handelsbarrieren bestehen. »Die Botschaft von RCEP lautet: Wer Zugang zu den Wachstumsmärkten in Asien haben wollen, soll in Asien produzieren.«

"Ein Ausweg kann nur sein, noch stärker aus Deutschland mit seiner Produktion zu gehen."

Ferdinand Dudenhöffer, Direktor des Duisburger CAR-Center Automotive Research

Der deutsche Automobilexperte Ferdinand Dudenhöffer warnt vor Wettbewerbsnachteilen für die hiesigen Fahrzeughersteller. Das Abkommen eröffne Toyota, Honda, Nissan, Hyundai und Kia wie auch japanischen und südkoreanischen Zulieferern einen wichtigen Zugang zum chinesischen Automarkt, schreibt der Direktor des Duisburger CAR-Center Automotive Research dem SPIEGEL auf Anfrage. »Ein Ausweg kann nur sein, noch stärker aus Deutschland mit seiner Produktion zu gehen und stärker in Asien Produktionen aufzubauen.«

Auch Daniel Caspary, Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe und der ASEAN-Delegation im Europaparlament, sieht im RCEP-Abkommen »für Europa eine große Gefahr«. Genau die Zusammenarbeit, die China jetzt mit den anderen teilnehmenden Staaten plane, hätten die USA und die EU einst im TTIP-Abkommen angestrebt. »Nun sind uns die Chinesen zuvorgekommen«, so Caspary.

Die EU müsse nun konsequent weitere Handelsabkommen abschließen, den Mercosur-Vertrag mit ratifizieren und mit dem künftigen US-Präsidenten Joe Biden eine »gemeinsame transatlantische Agenda« für eine Strategie gegenüber China hinbekommen. Allerdings hat Biden im Wahlkampf wenig Begeisterung für Handelsverträge erkennen lassen.

Doch nicht alle schätzen die Gefahr für Europa so groß ein: »Ich sehe nicht, dass die EU durch dieses Abkommen fundamental ins Hintertreffen geraten wäre«, sagt etwa Chinaexperte Huotari. »Dieser Wahrnehmung würde ich entgegenhalten, dass die EU-Handelspolitik riesige Erfolge in Asien erzielt hat.« So reichen die Abkommen, die Brüssel zuletzt mit Japan und Vietnam geschlossen hat, laut Huotari deutlich weiter als RCEP. Auch, wenn ihre Unterzeichnung längst nicht so pompös zelebriert wurde.

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