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JUGEND Ganz haarig

Ein Forschungsinstitut hat amtliche Zahlen über Jugendarbeitslosigkeit nachgeprüft. Ergebnis: Die offizielle Statistik übersieht jeden zweiten Jung-Arbeitslosen.
aus DER SPIEGEL 10/1978

Auf dem Papier ist das Fernziel klar ins Visier genommen. Heute, so schrieben Bonner Bildungsplaner in ihren »Berufsbildungsbericht 1978«, gelte es »diejenigen zu qualifizieren, die gegen Ende dieses Jahrhunderts die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und soziale Stabilität zu sichern haben werden«.

Doch die da aus dem Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, an 1984 schräg vorbei, aufs Jahr 2000 anlegen, haben einen unsicheren Stand. Allen politischen Beschwörungen zum Trotz klafft der bundesdeutsche Gesellschaftsvertrag zwischen den Generationen immer weiter auseinander: ungewisse Aussichten für die Renten der Alten, wachsende Arbeitslosigkeit und lückenhaftere Berufsausbildung für die Jungen, gerade erst aus der Schule entlassen.

Wie viele Jugendliche so bereits in eine Negativ-Karriere abgedrängt werden, bevor sie überhaupt eine reelle Leistungschance hatten, versucht eine Analyse des Soziologischen Forschungsinstituts (Sofi) in Göttingen zu erstellen. Anderthalb Jahre lang untersuchten die niedersächsischen Sozialforscher im Auftrag der Bonner Regierungsressorts für Bildung und Jugend sowie des Deutschen Gewerkschaftsbundes »Ausbildungs und Berufsstartprobleme von Jugendlichen« -- unter »den Bedingungen verschärfter Situationen auf dem Arbeits- und Ausbildungsstellenmarkt«.

Der gewichtigste Fund des Sofi: Die statistischen Aussagen des Staates sowie die Methoden seiner Daten-Erfassung seien äußerst unzulänglich und verschleierten eher das tatsächliche Ausmaß der Jugendarbeitslosigkeit. In Wahrheit -- und dieser Quantifizierungsanspruch ist das eigentlich Bedeutsame am Sofi-Zwischenbericht -- würden für den Berechnungszeitraum die offiziellen Zahlen der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit »um mehr als das Doppelte übertroffen«.

Zur Ausgangsgröße ihrer Rechenarbeit wählten die Göttinger Soziologen jene knapp 85000 jugendlichen Arbeitslosen aus der Anstalts-Statistik vom Mai 1976. Da die Nürnberger Verwaltung jedoch nur denjenigen berücksichtigt, der am Zähl-Tag bei einem der 146 Arbeitsämter als arbeitssuchend, arbeitsfähig und dennoch nicht erwerbstätig registriert ist, rutschen schon hier Tausende von Jugendlichen durch das zu grobe statistische Sieb: diejenigen, die von der Schulbank weg erst gar keine Arbeit finden, deshalb keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld und somit auch keinen Grund haben, sich auf dem Amt zu melden.

Aber auch solche arbeitslose Jugendliche werden vom Nürnberger Zahlenwerk nicht erfaßt, die entlassen wurden und sich auf eigene Faust einen Job suchen. Im Gegensatz dazu operiert der vom Statistischen Bundesamt in Wiesbaden vorgenommene Mikrozensus, eine vierteljährliche Volks- und Berufszählung bei einem Tausendstel aller Haushalte, mit dem umfassenderen Begriff der Erwerbslosigkeit: Hier wird jeder mitgezählt, der in der Berichtswoche nicht erwerbstätig, jedoch arbeitswillig und arbeitsfähig ist -- also etwa auch der Schulentlassene, der sich um eine Lehrstelle bemüht.

Beim Vergleich der Wiesbadener und der Nürnberger Angaben stellten die Sofi-Forscher fest, daß Erwerbslosen- und Arbeitslosenzahlen für Jugendliche unter 20 Jahren noch bis 1974 weitgehend übereinstimmten, dann jedoch jäh auseinanderfallen: Im Mai 1976 stehen den 85 000 jugendlichen Arbeitslosen nach der Bundesanstalts-Statistik bereits 136 000 jugendliche Erwerbslose nach dem Mikrozensus gegenüber -- rund 60 Prozent mehr.

Nun erklärt sich der kontinuierliche Rückgang der sogenannten Erwerbsquote -- immer weniger Jugendliche stehen in einem Beschäftigungsverhältnis -- von 59,6 Prozent (1972) auf 48,3 Prozent (1976) vor allem durch verändertes Schulverhalten: Immer mehr Jugendliche gehen immer länger auf weiterführende Schulen.

Dies belegt ein ebenso ständiges Ansteigen der »Schülerquote": Bezogen auf die gleichaltrige Wohnbevölkerung, kletterte der Anteil von Schülern und Studenten von 37,2 Prozent (1972) auf 47,1 Prozent (1976).

Die Göttinger Analytiker haben nun beide Quoten addiert und damit jene Restgruppen zu bestimmen gesucht, deren Angehörige weder Erwerbstätige noch Schüler oder Studenten sind. In diese Kategorie gehören zwar beispielsweise auch verheiratete junge Frauen, die unabhängig von den verschlechterten Arbeitsmarktbedingungen zu Hause bleiben. Zugleich aber muß sich in dieser Gruppe auch, so die Sofi-These, ein Gutteil »verdeckter Jugendarbeitslosigkeit« verbergen.

Tatsächlich hat diese Restgruppe ebenfalls zugenommen -- von 3,2 Prozent im Jahr 1972 auf 4,6 Prozent vier Jahre später. In absoluten Zahlen bedeutet das einen Zuwachs von 70000 erwerbslosen Jugendlichen, 50 000 allein von 1975 auf 1976. Bei einer Gewichtung nach Jahrgängen fand das Untersuchungsteam zudem heraus, daß vor allem 15- und 16jährige in diesen Sog gerieten und damit »verdeckte Arbeitslosigkeit insbesondere die Schulabgänger betreffen dürfte«.

Das Fazit der Göttinger Recherchen: Im Mai 1976 waren mit hoher Wahrscheinlichkeit rund 185 000 Jugendliche ohne Beschäftigung --

* jene 85 000 offiziell eingestandenen jugendlichen Arbeitslosen aus der Statistik der Bundesanstalt,

* weitere 50 000 »aus der Differenz zwischen (bereinigten) Erwerbslosenzahlen nach dem Mikrozensus und den Arbeitslosenzahlen« (Berichtstext) und schließlich

* 50000 nach Sofi-Definition »verdeckt Beschäftigungslose«, davon als besonders hart betroffene Gruppe allein 35 000 bis 40 000 jugendliche Ausländer.

Für Karl Furmaniak, Planungsgruppenleiter im Bundesarbeitsministerium, sind solche Rechnungen allerdings »schlicht unsolide« und daher keiner Aufregung wert. Die Sofi-Leute hätten »halt ein ganz bestimmtes politisches Engagement« und bereinigten deshalb »die Zahlen bewußt nach oben«. Verdeckte Beschäftigungslosigkeit -- das ist laut Furmaniak »auch so eine Schimäre«, und »ganz haarig« sei es, aus dem Mikrozensus »noch mal 50 000 jugendliche Arbeitslose herbeizuzaubern«.

Gegen Hexerei spricht freilich, daß bereits im vergangenen Jahr eine Schätzung des West-Berliner Bundesinstituts für Berufsbildungsforschung mit 160 000 jugendlichen Arbeitslosen dem Sofi-Ergebnis sehr nahe kam. Professor Martin Baethge vom Göttinger Institut hält die Sofi-Analyse denn auch eher noch für »eine Minimum-Schätzung, statistisch gut abgesichert und in allen Einzelheiten jederzeit nachprüfbar«.

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