Gastkommentar Freier Welthandel nützt allen Ländern - auch den armen

Wer ist schuld an der globalen Krise? Der freie Welthandel, sagen Kapitalismuskritiker. Eine krasse Fehleinschätzung, urteilt Volkswirt Julian Emami Namini. Auf SPIEGEL ONLINE schreibt er: "Jedes Land gewinnt durch die Globalisierung, unabhängig von seinem Entwicklungsstand."

Amsterdam - Die Teilnehmer des G-20-Gipfels haben sich unter anderem gegen Protektionismus und für eine Wiederaufnahme der Doha-Runde ausgesprochen.

Glaubt man den Argumenten der Globalisierungskritiker, so ist dies der falsche Weg. Immerhin sei die aktuelle Wirtschaftskrise mitverursacht durch den Welthandel, lautet deren Argument.

Ein Drittel der Argumente der Globalisierungsgegner ist nachvollziehbar. Ein weiteres Drittel ist ökonomisch umstritten. Und das verbleibende Drittel bietet Raum für weitere Diskussionen.

Wird vor dem Hintergrund der aktuellen weltwirtschaftlichen Situation gegen die Globalisierung argumentiert, lauten die Thesen üblicherweise wie folgt:

  1. Die aktuelle Wirtschaftskrise ist mitverursacht worden durch den unkontrollierten Welthandel.
  2. Einfuhrbegrenzungen sind geeignet, die Krise zu meistern.
  3. Generell ist der Welthandel zwischen Industrie- und Entwicklungsländern unfair und verläuft zwangsläufig zu Lasten der ärmeren Staaten.

In Bezug auf die aktuellen Turbulenzen sind diese Argumente nicht stichhaltig. Zunächst einmal war der mutmaßliche Auslöser der Wirtschaftskrise die Intransparenz internationaler Finanzmärkte und weniger der unkontrollierte Welthandel. Zugegeben, würde Deutschland keinen internationalen Warenaustausch treiben, hätte es die Wirtschaftskrise wohl nicht importiert. Aber auf welchem Entwicklungsstand befände sich die Bundesrepublik aktuell, hätte es sich seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts nicht konsequent für die globalen Märkte geöffnet?

Sicher, die Wirtschaftskrise trifft uns hart - aber gerade durch das handelsgetriebene Wachstum in den vergangenen 60 Jahren genießen wir immer noch einen außerordentlich hohen Lebensstandard. Denn setzen wir den Wohlstand eines Landes mit dem Pro-Kopf-Einkommen gleich, lehrt uns die Praxis folgendes: Offene Länder sind im Schnitt reicher, wachsen schneller und haben weniger Armut als geschlossene.

Gleichzeitig ist es aber auch einleuchtend, dass Globalisierung und die somit globale Dimension von Wirtschaftskrisen zu erheblichen Anpassungskosten führen kann. Beispielhaft sei die deutsche Automobilindustrie genannt. Sollten Anbieter wie Opel aus dem Markt austreten müssen, gäbe es unmittelbar Zehntausende Arbeitslose mehr.

Aus volkswirtschaftlicher Perspektive ist es allerdings wünschenswert, wenn ein nicht überlebensfähiges Unternehmen den Markt verlässt. Die freigesetzten Arbeiter könnten zu einem effizienteren und expandierenden Wettbewerber wechseln. Nun haben derzeit auch effizientere Anbieter, etwa Volkswagen oder Daimler, mit einem krisenhaften Rückgang der weltweiten Nachfrage zu kämpfen.

Wie sollte der Staat also eingreifen, wenn selbst relativ gesunde Anbieter keine neuen Arbeiter einstellen? Oberflächlich betrachtet helfen Einfuhrbeschränkungen in diesem Fall. Dadurch reduzieren wir die deutsche Nachfrage nach Citroën oder Peugeot, so dass stattdessen mehr Opel-Fahrzeuge gekauft werden. Deutsche Käufer sind vielleicht bereit, einen höheren Preis für ihr Auto zu zahlen, wenn so der deutschen Autoindustrie Arbeitsplätze erhalten bleiben.

Einfuhrbeschränkungen sind jedoch nur sinnvoll, wenn unsere Handelspartner ihrerseits Importe aus Deutschland nicht einschränken. Was aber, wenn Frankreich auch seine Importe von Opel begrenzt? Was ist dann der Nettoeffekt auf die Nachfrage nach Opel? Schlimmer noch, reagieren alle unsere Handelspartner mit einer Verminderung der Importe zum Schutz der heimischen Industrie, fallen wir zurück in Autarkie.

Politiker und Ökonomen sind sich bewusst, dass wir aus diesem Grund eine Institution wie den G-20-Gipfel benötigten. So haben die Staaten die Möglichkeit, ihr Krisenmanagement zu koordinieren, so dass kein Land zu Lasten eines Handelspartners Importhemmnisse errichtet.

Wenn sich die Weltmärkte von der aktuellen Krise nicht selbst erholen können, welche Alternativen zu Einfuhrhemmnissen existieren? An Stelle von Schutzzöllen könnte die globale Wirtschaft durch ein ausgewogenes Konjunkturprogramm gestützt werden. So finden zumindest die gesunden Unternehmen eines Landes aus der Krise.

Es ist daher richtungsweisend, dass die G-20-Regierungschefs die bewilligten Mittel dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zur Verwaltung überlassen. Dem IWF steht mit Olivier Blanchard ein etablierter Ökonom der politischen Mitte vor. Zudem sollen die finanziellen Mittel vor allem den armen Ländern die Teilnahme am Welthandel erleichtern. Der G-20-Gipfel hat demonstriert, dass Politiker und beratende Ökonomen wohl überlegt, human und verantwortungsbewusst handeln.

Darüber hinaus wurde der Zusammenhang zwischen Globalisierung, Wirtschaftswachstum und Armut bereits von Generationen von Ökonomen sorgfältigen Überprüfungen ausgesetzt. Gäbe es nicht reichlich empirische Evidenz, dass uns Welthandel in seiner Reinform und im Schnitt über alle Länder nützt, hätte diese Vorstellung gewiss nicht über Jahrzehnte hinweg in der Überzeugung der Verantwortlichen überlebt.

Bleibt also noch die These des unfairen Welthandels zwischen starken und weniger starken Ökonomien. Klammern wir die Einkommensverteilung innerhalb eines Landes zunächst aus, dann gilt: Jedes Land gewinnt durch Globalisierung, unabhängig von seinem Entwicklungsstand.

So waren etwa die südostasiatischen Tigerstaaten ökonomisch rückständig, als sie sich ab den siebziger Jahren der Globalisierung verschrieben haben - und sie haben eine einzigartige Wachstumskarriere hingelegt. Im Gegenteil, ein "kleines" Entwicklungsland gewinnt mehr durch die Globalisierung als ein "großes" Industrieland.

Schließlich ergeben sich vor allem für das Entwicklungsland viele neue Tauschmöglichkeiten, wenn es mit einem Industriestaat handelt. Aber selbst wenn alle "starken Länder" ihre Märkte vollkommen abschotten, können die Entwicklungsnationen nach wie vor untereinander Handel treiben. Auf jeden Fall aber wären sie auch dann nicht schlechter gestellt als in völliger Autarkie.

Ändert sich die Beurteilung des Freihandels, wenn wir die Einkommensverteilung innerhalb eines Landes mit einbeziehen? Verteilungsfragen sind recht komplex. Vielleicht hilft ein Blick in die wirkliche Welt. Immerhin können wir für Europa, China und Indien für die vergangenen 60 Jahre konstatieren, dass die Globalisierung Milliarden von Menschen aus ihrer Armut befreit hat. Durchaus auch zu Lasten von kultureller Vielfalt oder ökonomischer und politischer Selbstbestimmung, aber stets zu Gunsten des reinen Überlebens.

Kombinieren wir nun Globalisierung mit bestechlichen Eliten in der Dritten Welt, fehlenden Umweltgesetzen oder legeren Arbeitsstandards, dann berechnet auch ein rigoroser Theoretiker ein moralisch bedenkliches Handelsgleichgewicht zwischen Industrie- und Entwicklungswelt. Dennoch bleibt die Frage, was sollen wir bekämpfen? Die Globalisierung selbst oder die tatsächlichen Unzulänglichkeiten?

Die aktuelle Krise und ihre Ursachen haben gezeigt, dass Randlösungen stets fragwürdig sind. Gegenwärtig ist es strittig, ob wir den Selbstheilungskräften der Märkte vertrauen können. Dessen ungeachtet führen Pauschalmaßnahmen wie Einfuhrbeschränkungen mit ihren volkswirtschaftlichen Folgeschäden sicher nicht aus der Krise. Mit fachkundigen Politikern und erfahrenen Ökonomen ist wohl eine Kombination von Markt und Staat, ausbalanciert von der Schwere der Krise, der richtige Weg.

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