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US-FORSCHUNG Geheim und teuer

Jahrzehntelang galten die USA als technologisch unumschränkt führende Nation. Nun bangen US-Wissenschaftler um den Vorsprung ihres Landes.
aus DER SPIEGEL 4/1972

Was nützt es denn einer Nation«, fragte Xerox-Vizepräsident Myron Tribus vor amerikanischen Maschinenbau-Ingenieuren, »wenn sie den Mond gewinnt und dabei ihr Hemd verliert?«

Wie Tribus sorgen sich immer mehr US-Industrielle, Wissenschaftler und Regierungsbeamte, daß Amerikas Industrie im technologischen Wettlauf der Wirtschaftsmächte zunehmend abgeschlagen wird.

»Da stimmt sicherlich etwas nicht«, stellte Xerox-Manager Tribus fest, »wenn der sogenannte Spitzenreiter in Technologie Schutz vor ausländischer Konkurrenz suchen muß. Es wird Zeit, diesen Mythos zu überprüfen.«

In der Tat: Vor allem im Handel spüren die Amerikaner, daß ihre ausländischen Konkurrenten in der Technologie aufgeholt haben. Zwar setzten Amerikas Flugzeug-, Chemie-, Computer- und Maschinenbau-Konzerne 1970 auf fremden Märkten immer noch weit mehr Produkte mit hohem technologischem Standard ab, als Westeuropäer, Japaner und Kanadier zusammengenommen in die USA liefern konnten.

Doch von 1965 bis 1970 schrumpfte der US-Exportüberschuß von Gütern, in denen ein hohes Maß an Forschung und Entwicklung steckt, im Handel mit Kanada, Japan und Westeuropa um 43 Prozent auf 2,1 Milliarden Dollar. Nur durch die verstärkte Ausfuhr dieser Produkte in weniger entwickelte Staaten vermochten die Amerikaner diese Einbußen zum Teil auszugleichen. Im gleichen Zeitraum ging Amerikas Anteil am gesamten Welthandel mit hoch technologischen Gütern von über 80 Prozent auf weniger als 65 Prozent zurück.

Für den Harvard-Technologie-Professor Harvey Brooks ist es denn auch »sehr wahrscheinlich, daß die schwächere amerikanische Außenhandelsposition eine Verschlechterung der relativen technologischen Stellung widerspiegelt«.

Entgegen landläufigen Expertenmeinungen nimmt Brooks sogar an, daß sich die technologische Lücke zwischen den USA und ihren wichtigsten Handelspartnern schon »seit geraumer Zeit. vielleicht seit 1950« verringert hat.

Bis 1950 hatten die Amerikaner 80 Jahre lang die Produktivität ihrer Wirtschaft rascher als Europäer und Japaner steigern können. Dann aber wuchs die Produktivität in den USA langsamer als in Europa und Japan. Ab 1965 beschleunigte sich diese Entwicklung noch: In Europa nahm die Produktivität dreimal, in Japan fast siebenmal so schnell zu wie in den USA.

Eine der wichtigsten Ursachen des Produktivitäts-Wachstums aber ist die industrielle Nutzbarmachung des technischen Fortschritts. Hier profitierten die Europäer, vor allem aber die Japaner in der Nachkriegszeit von dem Nachteil, wissenschaftlich-technisch Zweiter zu sein. Sie konnten die höchstentwickelten Technologien in den Vereinigten Staaten kaufen -- was beträchtlich billiger war, als sie selbst zu entwickeln. Um so mehr konnten sich Europas und Japans Ingenieure darauf konzentrieren, grundlegende Erfindungen eigenständig für industrielle Verfahren auszuwerten.

Zudem pumpten Europäer und Japaner besonders in den letzten Jahren immer mehr Gelder in Forschung und Entwicklung, während gleichzeitig die Amerikaner ihre Ausgaben hierfür kürzten. So erhöhten die EWG-Regierungen ihre Forschungs- und Entwicklungsbudgets von 1968 bis 1971 um rund 1,2 Milliarden Dollar. Washington kappte den Wissenschafts- und Technologie-Etat um knapp eine Milliarde Dollar.

Zwar gab die US-Regierung mit etwa 16,2 Milliarden Dollar im vergangenen Jahr mehr als dreimal soviel für Forschung und Entwicklung aus wie die sechs EWG-Regierungen zusammen (4,9 Milliarden Dollar). Aber der Anteil der öffentlichen Aufwendungen für diese Bereiche an den gesamten US-Staatsausgaben sank seit 1965 von 12,6 Prozent auf acht Prozent. Bereits seit 1964 ging auch der gesamte Forschungs- und Entwicklungsaufwand von Regierung und Industrie im Vergleich zum Bruttosozialprodukt zurück: Die Quote fiel von 3,1 Prozent auf rund 2,6 Prozent.

Werden die Ausgaben für militärische Zwecke abgezogen, geben die USA sogar nur 1,5 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für Forschung und Entwicklung aus. Japan hingegen wendet 2 Prozent, die Bundesrepublik 2,6 Prozent des Sozialprodukts hierfür auf.

Schon in den Jahren 1963 bis 1967 stiegen beispielsweise die gesamten Forschungs- und Entwicklungsausgaben in Frankreich mit einer durchschnittlichen Jahresrate von 18,5 Prozent, in Japan mit 17,5 Prozent, in Westdeutschland mit 13,2 Prozent. In den USA betrug diese Rate nur 7,1 Prozent.

Denn nach den gewaltigen technologischen Anstrengungen der frühen sechziger Jahre rückte in den Vereinigten Staaten an die Stelle blinder Fortschrittsgläubigkeit immer stärker die Skepsis an dem Nutzen einer ungehemmten technologischen Entwicklung. die sich immer weniger an den Bedürfnissen des Menschen orientiert.

So strich der Washingtoner Kongreß nach erfolgreicher Landung der US-Astronauten auf dem Mond den

* In den Boeing-Werken in Seattle (US-Bundesstaat Washington).

Raumfahrt-Etat drastisch zusammen. Im März vergangenen Jahres entzogen die Abgeordneten den Boeing-Werken die Gelder für das umstrittene Überschall-Passagierflugzeug SST. Und staatliche Forschungskredite an die Industrie fließen spärlicher als viele Jahre lang zuvor. Die Folge: Wissenschaftler verloren zu Tausenden ihren Job, Institute mußten schließen.

Für Amerikas »wissenschaftliche Welt ist eine Ära der lauten Lobpreisung und der offenen Portemonnaies zu Ende gegangen«, urteilte das Magazin »U.S. News & World Report«.

»Offenbar war Amerika nicht in der Lage«, folgerte Ambrosius P. Speiser, Forschungsdirektor des Schweizer Elektro-Konzerns BBC, »den riesigen Anfall an technischem Fortschritt richtig zu verarbeiten und zu kanalisieren.«

Die zu einseitige Ausrichtung auf Rüstung, Raumfahrt und Nukleartechnik gilt bei vielen Kritikern als Fehlentwicklung. So waren 1961 in den Vereinigten Staaten 88 Prozent aller öffentlichen Forschungsmittel in diese drei Forschungsbereiche geflossen. 1969 betrug dieser Anteil immerhin noch 77 Prozent (Westdeutschland: 39 Prozent; Japan: zehn Prozent).

Für zu »geheim und teuer« hält denn auch Harvard-Professor Brooks die Rustungs- und Raumfahrt-Technologien, um auch zivilen Zwecken dienen zu können. Der Nutzen, der bei der Entwicklung von Mondfähren, Antiraketen-Computern und -Radar für zivile Produkte oder Produktionsverfahren abfalle, werde immer geringer.

»Wenn die Theorie vom zivilen Nutzen militärischer Forschung Sinn hätte«, spottete Brooks Kollege Melman, »könnte man ebensogut behaupten. man solle sich auf die zivile Technologie konzentrieren und hoffen, daß die militärische Technologie dabei abfällt.«

Eine weitere Ursache der »technologischen Krise« (Emilio Q. Daddario, Vizepräsident des Maschinenbau-Unternehmens Gulf & Western Precision Engineering) in den USA sieht Nixons Wissenschafts-Berater Edward E. David Jr. in der Tatsache, daß viele US-Konzerne die Forschungstätigkeit in ihre ausländischen Filialen verlagern. »Wenn dieser Trend anhält«, sorgte sich David, »sehen Sie uns hier bald ohne Produktionsbetriebe sitzen und nur noch Dividenden-Coupons schneiden.«

Für US-Manager Daddario ist schon jetzt »ein Punkt erreicht, an dem jeder Unterschied zwischen den hochtechnologischen Fertigkeiten der USA und denen der anderen entwickelten Nationen unbedeutend ist«.

Auch der britische Technologie-Professor Lord Bowden hält die technologische Lücke zwischen den USA und Europa bereits für geschlossen. »Das Verschwinden der Lücke war unvermeidlich«, so argumentierte der Lord. »weil keine Nation auf Dauer irgendeinen Vorsprung halten kann.«

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