Roland Müller schaut kurz auf das Schaltpult der neuen Autofabrik und drückt einen der vielen Knöpfe. Vor ihm bewegt sich die Bühne, auf der eine taubenblaue Trabi-Karosserie steht, mit einem leichten Ruck seitwärts. Unter einem Greifer mit vier Stahlarmen kommt sie zum Stehen.
Müller lächelt zufrieden und drückt einen anderen Knopf. Die Krake senkt sich langsam. Ihre Arme schweben außen an der Karosserie vorbei, nähern sich der Bühne und setzen plötzlich mit lautem Krachen auf: Halterungen brechen ab, eine Aufhängung verbiegt sich.
Es ist sieben Uhr morgens. Müllers Arbeitstag hat so begonnen, wie der Chef der Montage es fast erwartet hat: »mit eener kleenen Havarie«.
In seinem Büro kommt Müller anschließend, während er sein Frühstücksbrot aus Plastikbeutel und Pergamentpapier holt, ins Grübeln: »Hier läuft einfach alles schief.«
Das kann eigentlich gar nicht sein. Müller ist schließlich nicht am Aufbau irgendeiner Hinterhof-Werkstatt beteiligt. Der Mann aus dem Ifa-Kombinat soll gemeinsam mit Experten des VW-Konzerns die automobile Zukunft in Ostdeutschland gestalten: In dem neuen Werk im Örtchen Mosel, einige Kilometer von der alten Fabrik in Zwickau entfernt, werden der Polo und ein Trabant mit VW-Motor von den Bändern rollen.
Hier will VW fünf Milliarden Mark investieren. Hier wird das bislang wohl bedeutendste deutsch-deutsche Gemeinschaftsprojekt aufgezogen. Hier soll die Marktwirtschaft zeigen, wie sie einen von der Planwirtschaft ruinierten Industriezweig ruck, zuck wieder auf Touren bringt. Und dann setzt dieser Müller schon morgens eine Miene auf, als verkörpere er selbst eine kleine Havarie.
In der Halle, nicht weit vom Ort der Panne entfernt, ist das Symbol der neuen Zeit zu besichtigen: eine weiße Karosserie des Polo, um die sich fünf Arbeiter versammelt haben. Die in Wolfsburg zusammengeschweißte und lackierte Blechhaut ist mit 15 weiteren per Eisenbahn nach Mosel transportiert worden, wo Ifa-Arbeiter nun einen kompletten Volkswagen montieren sollen.
Ifa-Arbeiter Klaus Ziegenfuß zeigt einem Kollegen die ersten Handgriffe: »Gummi rein, Eckfenster rein, Scheibe hochziehen, alles ganz einfach, nur bei der Kurbel mußt du aufpassen, daß die richtig in der Führung sitzt.«
Jahrelange Arbeit am Trabi bringt es mit sich, daß Ziegenfuß schon über Kleinigkeiten schier in Verzückung gerät, etwa darüber, daß bei dem Wagen aus Wolfsburg »einfach alles paßt«. Kein Gewinde muß nachgeschnitten, kein Eisen nachgefeilt werden, da ist »eene Tür wie de andere«.
Die erste Erfahrung mit westlicher Präzision machte Ziegenfuß an den Fließbändern von VW. Zusammen mit einigen Dutzend Kollegen wurde er drei Wochen lang auf seine neue Aufgabe vorbereitet. Die DDR-Mechaniker haben die Fenster und die Sitze, die Scheinwerfer und den Tank, die Achsen und den Motor in den Polo eingebaut und konnten das bald schon im gleichen Tempo wie ihre Wolfsburger Kollegen. Doch nun sind sie wieder in Mosel, und alles ist plötzlich ganz anders.
»Wo ist der Uwe denn?« fragt Ziegenfuß schon etwas gereizt nach seinem Kollegen, denn es geht nicht voran. Der Uwe sucht gerade den Federring Nummer 012 038.2 und andere Teile, die für die nächsten Montagearbeiten benötigt werden. Er ist mit einem kleinen Handwägelchen zum Lager gefahren, in dem Holzkisten aus Wolfsburg ausgeladen werden. Sie enthalten jene 1174 Einzelteile, aus denen ein Polo besteht.
Das Auto als Bausatz aus der Kiste: Nach dieser Methode wird die Arbeit in dem VW-Ifa-Gemeinschaftsunternehmen wohl noch bis Ende 1993 laufen. Erst dann werden auf dem Acker neben der Montagehalle ein Preßwerk, ein Karosseriewerk und eine Lackiererei fertiggestellt sein. Erst dann werden die Arbeiter Teile des Autos selbst herstellen und nicht mehr die angelieferten Teile wie ein Puzzle zusammensetzen.
Von 1994 an können in Mosel jährlich rund 250 000 Volkswagen hergestellt werden. Gemessen daran erscheinen die Ziele für dieses Jahr - von Oktober an sollen täglich 50 Polos vom Band rollen - äußerst bescheiden. Es gibt aber Tage, da wirken selbst diese Vorgaben aus Wolfsburg utopisch.
Es ist inzwischen elf Uhr. Neben der Polo-Karosserie steht ratlos ein VW-Techniker. Sein DDR-Kollege Ziegenfuß ist weg, Uwe mit dem Wägelchen noch nicht wieder zurück, und auch die anderen DDR-Arbeiter sind verschwunden. »Weiß der Teufel«, flucht der VW-Mann, »was die jetzt treiben.«
Ein gutes Dutzend Techniker hat der Volkswagen-Konzern nach Mosel beordert. Eine »Pionierarbeit«, so wurde ihnen pathetisch erklärt, gelte es zu vollbringen. In dieser Halle, deren Bau vor dem 9. November begonnen wurde und die schon vorbereitet war für die Trabant-Produktion, sollen sie nun ein Kabinettstück vollbringen: Am selben Band soll neben dem Plaste-Mobil aus dem Osten das Blechauto aus dem Westen montiert werden.
Mehrere der nach Sachsen entsandten VW-Experten haben Pionierarbeit schon unter schwierigsten Bedingungen geübt, bei Ablegern der Wolfsburger in Mexiko, in Nigeria und China. Da haben sie schon viel erlebt, und so vermag Montage-Fachmann Karl-Heinz Löblein noch still in sich hinein zu lächeln, wenn andere längst brüllen würden.
Löblein weiß, daß er hier »nur Gast« ist. Noch hat VW nicht die Mehrheit in dem Gemeinschaftsunternehmen, noch kann er den Ifa-Leuten allenfalls Empfehlungen geben. Und wenn zu der wichtigen Besprechung um elf Uhr kein Ifa-Mann erscheint, was soll er da machen?
Vor der Mittagspause kann Löblein nur noch dafür sorgen, daß in die Transportkette ein neuer Greifer eingebaut wird; der wurde schon so umgerüstet, daß er statt des Trabi einen Polo aufnehmen kann. An ihm soll in einer Höhe von etwa 1,80 Metern die weiße Karosserie aufgehängt werden. Den Tank und die Achsen können die Ifa-Monteure dann von unten einbauen.
Nach dem Essen tauchen die Ifa-Arbeiter wieder auf. Zu siebt schieben sie die Polo-Karosse vorbei an fünf Trabis, die ruhig in ihren Greifern hängen.
»Hier muß es sein«, sagt Löblein. Der Polo-Greifer aber hängt nicht mehr an der Stelle, wo er vor der Mittagspause eingebaut wurde. Er schwebt ein ganzes Stück weiter vier Meter über dem Boden. Dort werden die Karosserien von den Stahlarmen um die Kurve getragen und können nicht bearbeitet werden.
Ein Ifa-Arbeiter hat das Band in der Mittagspause zwei Takte weitergefahren und den Polo-Greifer dadurch abheben lassen. Nun geht nichts mehr. Das Band kann nicht zurückgefahren werden und vorwärts auch nicht. Ein VW-Arbeiter scherzt: »Die wollten wohl verhindern, daß ein Polo vor den Trabis hängt.« Ein anderer Wolfsburger schimpft: »Die boykottieren uns hier.«
Gewiß, wenn eine neue Autofabrik angefahren wird, geht stets viel daneben. Bekannt werden die Pannen selten, denn die Techniker zeigen ihr Werk erst vor, wenn alles klar ist und die Roboter der Lackiererei sich nicht mehr gegenseitig mit Farbe einsprühen.
Die Probleme in Mosel aber haben ihren Ursprung meist in einem anderen Umstand. Unter einem Fabrikdach arbeiten dort zwei Wirtschaftssysteme nebeneinanderher, die Plan- und die Marktwirtschaft. Gemeinsam wird da zunächst mal nichts anderes produziert als das komplette Chaos.
Der mühsame Start von VW im östlichen Deutschland - er läßt ahnen, wieviel Nerven und Geduld die Überleitung der Kombinatswirtschaft in die Marktwirtschaft noch kosten wird. Mit Geld allein wird das Wunder im Osten nicht zu vollbringen sein. Die Westler müssen viel guten Willen mitbringen, die Ostler ein Übermaß an Lernbereitschaft.
In der Planwirtschaft ist niemand für den ungeplanten Stromausfall verantwortlich, der einen Teil der Anlage stilllegt. Die Beschäftigten in Mosel nutzen die Gelegenheit zu einer kleinen Pause. Fünf Stunden später, die Anlage steht noch immer, erfährt ein VW-Mann von dem Ausfall und droht: »Wenn Sie das noch mal so spät sagen, war es für Sie das letzte Mal.«
In der Planwirtschaft wird dem Ifa-Arbeiter Thomas Kuthnig, wie er klagt, »ein Stückchen Draht verweigert«. Kuthnig will eine Verbindung von dem Robotron-Computer am Band, in den die Fahrgestellnummern eingegeben werden, zu seinem Datenerfassungsraum. Das würde viel Doppelarbeit ersparen. Sein Chef aber sagt ihm: »Laß das lieber sein, die Kollegen wollen auch noch ihre Beschäftigung haben.«
Im DDR-Wirtschaftssystem muß die Erfüllung des Plans gefeiert werden, auch wenn sie noch in weiter Ferne liegt. Der bei Ifa/Mosel für die Investitionen Verantwortliche schert sich nicht darum, daß noch nichts richtig läuft. Er läßt eine Trabi- und eine Polo-Karosserie fein putzen, stellt sich zwischen die beiden und hält eine Ansprache zum geglückten Produktionsbeginn.
Mehr als 40 Jahre Planwirtschaft haben ihre Spuren hinterlassen, nicht nur in den Fabriken, die durch neue ersetzt werden können, sondern auch in den Köpfen. »Wer 40 Jahre schlich«, sagt Thomas Kuthnig, »der kann nicht plötzlich traben.«
Die sieben Arbeiter haben die Polo-Karosse inzwischen wieder zu ihrem alten Platz geschoben. Uwe ist im Lager und sucht Teile. Karl-Heinz Löblein läuft nachdenklich am stehenden Fließband entlang. An der Stirnseite der Halle kommt er an zwei Arbeitern vorbei, die mit ihren Preßlufthämmern den versiegelten Fußboden wieder aufreißen. An der Stelle soll ein Rollenprüfstand gebaut werden, auf dem Autos im Stand probegefahren werden können.
Ein paar Meter von der lärmenden und staubenden Arbeit entfernt sind Techniker der Firma Komeg aus dem Saarland damit beschäftigt, elektronische Meßgeräte für die Spur- und Scheinwerfereinstellung einzupassen. Den hochempfindlichen Geräten bekommt der Staub aus der Baugrube überhaupt nicht. »Das ist alles mehr als Wahnsinn«, sagt ein Komeg-Techniker.
Im nahe gelegenen Pausenraum ist nun, eine Stunde vor Feierabend, kaum noch ein Sitzplatz frei. Die Stimmung ist mies. Ost-Arbeiter erzählen von einem VW-Mann, der Ungeheuerliches von sich gegeben habe: Die Ifa-Leute würden »genauso langsam arbeiten wie Neger«.
Der häufige Stillstand, schimpfen die Arbeiter, ginge ihnen genauso auf den Geist wie den Leuten aus Wolfsburg. Sie würden oft zur Untätigkeit gezwungen. »Hier braucht man keinen Schraubenzieher und keinen Hammer«, sagt Montagearbeiter Frank Lindner, »sondern eine Kaffeemaschine.«
Die Arbeiter machen ihre Meister für die vielen Schwierigkeiten verantwortlich und die Meister ihre Bereichsleiter. »Das Ganze ist ein Kamikaze-Unternehmen«, meint einer zwischen zwei Zügen an seiner Karo-Zigarette. Die meisten glauben auch schon zu wissen, wie das Werk vor dem Chaos gerettet werden kann. Die VW-Leute, sagt Ifa-Arbeiter Ziegenfuß, müßten sich »den Hut aufsetzen und sagen, wo es langgeht«.
So wird es wohl kommen. VW wird irgendwann die Mehrheit an dem Gemeinschaftswerk übernehmen, Löblein und seine Kollegen werden dann nicht mehr Gast, sondern Chef sein.
Bis dahin aber wird es Löblein noch häufig so ergehen wie an diesem Nachmittag: Mühsam muß er einige Arbeiter davon überzeugen, trotz des nahen Feierabends noch einen neuen Greifer für die Polo-Karosserie einzubauen.
Acht Arbeiter diskutieren eine Weile, wie das gehen könnte, einer holt schließlich einen Gabelstapler, ein anderer eine Leiter. Und dann endet der Arbeitstag, der mit einer kleinen Havarie begann, doch noch mit einem kleinen Erfolg: Um 17 Uhr ist der Greifer befestigt.
Am nächsten Morgen, so hat es Löblein geplant, soll der weiße Polo daran aufgehängt werden, und die Montage der Achsen kann beginnen. Falls nichts dazwischenkommt. f