INTERNET Genies im Größenwahn
Viel hat diese Frau nicht gerade an, die mit geschlossenen Augen durch die schwatzende Menge tanzt. Ihr Bikini besteht aus den Platinen eines Computers, von ein paar Klebestreifen notdürftig auf Position gehalten. Ab und zu hält sie ihr Champagnerglas gefährlich schief und kleckert über die Netzstrümpfe auf den Boden. »Sorry«, sagt sie kieksig.
Dann kreischen ihre Freundinnen und ziehen weiter, vorbei an den Leinwänden mit grellen Weltuntergangsvisionen, die in diesem Loft die Mauern bedecken. Sie bleiben einen Augenblick vor einem Videomonitor stehen und sehen einem russischen Pathologen zu, der mit seiner Säge pedantisch einen Schädel zerteilt.
Sie lugen in einen schummrigen Raum, in dem ein halbes Dutzend Spieler an Computern auf alles ballert, was sich über den Bildschirm bewegt. Und sie lauschen dem Endzeit-Künstler Joe Coleman, der düstere Tiraden von sich gibt, die eine Kamera live ins Internet aussendet: »Die Menschheit ist wie Krebs, der Tod muß uns reinigen.«
Es ist eine dieser New Yorker Partys, auf denen niemand genau weiß, warum sie eigentlich gefeiert werden. Internet und Apokalypse, Computer und Sex, wie das alles zusammengehört, kann Josh Harris, der diese Feier organisiert hat, auch nicht recht erklären. »Die Evolution, wie wir sie kennen, ist zu Ende«, sagt er und saugt an einer erloschenen Zigarre, »die Computer übernehmen die Macht.«
So wäre es Harris, 37, wohl am liebsten. Der Mann betreibt keinen neuen Kult, sondern eine Firma mit dem Namen Pseudo Programs. Sein Plan ist, Fernsehen für den Computer zu veranstalten, sein Ziel klar und knapp: »Ich werde der Ted Turner des Internet.«
Noch ist allerdings nicht ganz klar, ob der Mann als Spinner oder als Genie in die Geschichte eingehen wird. Seine Künstler produzieren täglich ein schräges Show-Programm für das Internet, auf dem Computer sieht das aus wie ein Film, der ins Stottern geraten ist. Das Bild, das die Netz-Surfer zu Hause empfangen, ist kaum größer als eine Kreditkarte, und so wundert sich auch niemand, daß Harris' Verluste im Expreßtempo wachsen.
Harris ist einer jener Technik-Abenteurer, die sich in New York niedergelassen haben. Sie verstehen sich als Avantgarde des Cyberspace, als Kern einer neuen globalen Medienindustrie. Ihre Leidenschaft ist der Computer, ihre Gottheit das Internet und ihr gemeinsamer Wunsch, damit irgendwie reich und berühmt zu werden.
Sie verkaufen bunte Internet-Werbung für Konzerne und bauen virtuelle Läden für Bücher und CDs. Sie schaffen Online-Banken, Online-Agenturen und Online-Magazine für Literatur, Geld oder Sex. Sie veranstalten Radio und Fernsehen online; oft feiern sie auch ihre Partys online, jeder kann dabeisein, ohne dazusein.
Was sich auch immer mit Maus und Computer anstellen läßt: die Artisten der »Silicon Alley«, wie die Szene ihr Terrain im südlichen Manhattan nennt, probieren es aus. In New York herrscht Goldgräberstimmung. Investmentbanker schicken ihre Scouts durch die Schluchten der Stadt. Auftrag: »Irgend so einen heißen Laden mit 10 bis 15 Mann« für ein Großunternehmen zu erwerben.
Abteilungsleiter von Siemens durchforsten Ateliers im New Yorker Stadtteil SoHo, um sich Ideen zu kaufen, auf die ihre Leute in den Büroetagen nicht gekommen sind. Manager der Deutschen Telekom und von DaimlerChrysler fahnden im Industriebezirk Flatiron District nach der Zukunft, selbst Firmen wie Microsoft und America Online haben ihre Späher geschickt, damit ihnen kein Trend entgeht.
Wie aus einer riesigen Gießkanne plätschern Millionen von Dollar auf eine Szene herab, deren Erfinder noch vor kurzem Mühe hatten, die Miete für ein Hinterhofzimmer zu zahlen. In kurzer Zeit ist die Bankenmetropole das größte Freiluftlabor für Internet-Geschäfte geworden.
Noch vor vier Jahren bestand New Yorks Multimedia-Industrie aus einem Haufen Design-Freaks wie etwa Jamie Levy von Electronic Hollywood: schrill, bunt, unbeschwert. Wenige rechneten damit, daß irgendeiner der jungen Online-Künstler am Hudson einmal großes Geld verdienen würde. Die Strategen der neuen Industrie saßen im kalifornischen Silicon Valley und sahen mit Hohn auf das Durcheinander in den Backsteinhöhlen von Manhattan. Dort wurde viel getrunken, viel geraucht, aber sonst war nicht viel zu entdecken.
Doch die Experten täuschten sich. Während die Kalifornier die Technik fabrizieren, »den Transistorenkrimskrams«, wie es in den Bars von SoHo verächtlich heißt, hauchen die New Yorker »dem Internet die Seele ein«.
Nichts wächst in New York derzeit schneller als die Online-Industrie, nicht die Wall Street, nicht die Werbeagenturen, nicht einmal die Gefängnisse. Über 5000 Multimedia-Firmen entstanden neu, rund 150 000 Menschen arbeiten dort.
Niemand von ihnen hat Internet studiert, wenige haben eine Computerausbildung, viele niemals zuvor fest gearbeitet. Ähnlich waren sie sich nur in einem Drang: bloß nicht in ein ödes Konzernbüro, bloß keine festen Arbeitszeiten, nie wieder Langeweile.
Viele sind Geisteswissenschaftler, wie der studierte Literat Chan Suh, 37, der mit dem gelernten Schauspieler Kyle Shannon, 33, vor vier Jahren die Internet-Beratungsfirma Agency.com schuf, Umsatz heute: 80 Millionen Dollar.
Andere machten es wie der Theaterwissenschaftler Seth Goldstein, 28. Als »Artist in Residence« - Künstler des Hauses - fing er beim New Yorker Verlag Condé Nast an und schuf bunte Internet-Seiten. Bald folgten Aufträge von anderen Firmen, die Goldstein erst heimlich an den Condé-Nast-Computern erledigte und später, nachdem ihn die Firma deshalb gefeuert hatte, in seiner Wohnung. Heute ist er »Entrepreneur in Residence« bei einer Finanzgesellschaft und verwaltet 50 Millionen Dollar Risikokapital - Starthilfe für junge Internet-Unternehmer.
Es ist ein ganz normaler Freitagmorgen in einem hallengroßen Loft am unteren Broadway. Ein tibetischer Mönch zielt mit einem Basketball auf einen Korb hoch oben an der Wand. Hinter ihm lärmen zwei Programmierer vor einem Monitor bei einer Partie Video-Football, aus einem Fernseher an der Wand wummert Techno-Musik. Auf einem Tisch hat sich ein junger Mann im Lotussitz zwischen sirrenden Computern niedergelassen und meditiert vor einer Lavalampe.
Dies ist das Reich von Nicholas Butterworth, dem Gründer der Internet-Radiofirma SonicNet. Er versucht, aus diesem Durcheinander Tag für Tag etwas Geldwertes hervorzubringen, eine Online-Radioshow etwa.
»Vor drei Jahren hat uns keiner eine Chance gegeben«, sagt Butterworth und kneift die verquollenen Augen zusammen, »heute besteht kein Zweifel: Wir werden überleben.«
Die Zuversicht des Gründers wird von einigen Millionen Dollar genährt, mit denen ihm der Kabel-TV-Konzern TCI 1997 SonicNet abkaufte. Nun plant er zwischen Bürosesseln mit weggebrochenen Lehnen, Umzugskartons und einer halbleeren Whiskyflasche die Revolution des Musikhandels: den digitalen Versand von Songs direkt in die Computer seiner Hörer.
»Wir müssen wachsen, schnell wachsen«, trommelt Butterworth, und seine Worte sind wie ein Mantra der neuen Entrepreneure. Zwischen den Partybrüdern von einst ist eine unbarmherzige Jagd in Gang gekommen. Nicht unbedingt die Besten, sondern die Flinksten werden Erfolg haben.
Nun rangeln sie um die Finanziers der Wall Street, die einstmals verachteten Schlipsträger, die das begehrte Startkapital verwalten. Sie jagen die Marketingmanager der großen Konzerne mit ihren fetten Millionenschecks. Und sie verfolgen Internet-Surfer, denn beim Kampf um werbeträchtige Klick-Quoten zählt jeder, der sich nur irgendwie auf eine Web-Seite der jungen Gründer verirrt hat.
Aus nächtelangem Gedaddel mit Maus und Keyboard ist plötzlich ein Millionenspiel geworden, aus der Silicon Alley ein wucherndes Biotop für Firmengründer. Statt über Bits und Bytes debattieren die Web-Designer über Aktienoptionen und Börsengang. Vorbild: die New Yorker Online-Agentur Doubleclick, vier Jahre alt und schon 1,7 Milliarden Dollar wert. Fast jede Woche steigen aus diesem kreativen Gewirr ein paar neue Millionäre auf, meist unter 30.
Die jüngsten der Superreichen sind gerade 24, ihr Zahltag war der 13. November 1998. Damals brachten Stephan Paternot und Todd Krizelman ihre Online-Gemeinschaft theglobe.com an die Börse. Schon am Nachmittag war ihr Anteil je 50 Millionen Dollar wert.
Daß theglobe.com gerade 5,5 Millionen Dollar Umsatz und dabei einen Verlust von 16 Millionen Dollar macht, ist weniger wichtig. Wer hier investiert, wettet auf die Zukunft, und da kommt es auf Verluste in der lausigen Gegenwart nicht an.
Alles scheint sich hier plötzlich nach oben zu bewegen: Die Kurse steigen, die Mieten steigen, die Einsätze steigen. Die Fernsehmanagerin Geraldine Laybourne beispielsweise bekam gleich 100 Millionen Dollar von Risiko-Finanziers, um ihr neues Frauen-Netzwerk Oxygen Media in Gang zu bringen, ein Online-Dienst und TV-Programm für Mädchen, Mütter und Hausfrauen -Erfolg ungewiß.
Immer häufiger trägt man jetzt Anzug und Designer-Gläser zum Outfit statt Knitterhemd und Hornbrille. Wer vor drei Jahren nächtens kaum zu Hause blieb, zieht sich nun zeitig ins schicke 500-Quadratmeter-Loft zurück, um am nächsten Morgen fit fürs »hardcore-business« zu sein: Meetings, Verhandlungen, Konferenzen - ab acht Uhr früh.
»Die Alley ist erwachsen geworden«, sagt der Deutsche Florian Peter, 26, der sein Geld mit Trendberichten für deutsche Konzerne verdient. »Und ein bißchen langweiliger«, stöhnt er.
Statt Pizza-Imbiß vor dem Bildschirm gibt es nun öfter gepflegten Business-Lunch in SoHos Gourmetlokal Balthazar, »wo reiche Leute nun einmal essen gehen«, wie der Deutsche Jaye Muller, Gründer des Online-Fax-Service JFax stolz vermeldet.
Einige leisten sich jetzt auch eine Prise Kokain. Und gelegentlich leihen sie sich eine Luxuslimousine, um damit in die Spielerstadt Atlantic City zu brettern. »Wie die Großen von der Wall Street«, sagt einer.
Und dennoch ist der Luxus der Internet-Entrepreneure bescheiden gegen die Exzesse der Banker, die Orgien der Werber und Verleger. Nicholas Butterworth schlurft noch immer im Sweatshirt durch sein winziges Büro, das nur ein roter Samtvorhang vom Rest der Mannschaft trennt.
Dann hängt er sich von hinten über seine Stuhllehne, streckt seine Arme nach vorn und hackt wild auf seiner Computertastatur herum: »Fuck Luxus.«
MATHIAS MÜLLER VON BLUMENCRON