Neue Studie zum Wachstum der Geldbranche »Der Finanzsektor ist ein Programm zur Wohlstandsvernichtung«

Zu groß, zu mächtig, nutzlos: Finanzexperte Gerhard Schick rechnet mit den Banken ab. Hier sagt der frühere Grünenpolitiker, was getan werden muss, um einen Crash des Systems zu verhindern.
Ein Interview von Tim Bartz
Frankfurter Bankenviertel: »Große Teile des Sektors erbringen keine nützlichen Leistungen«

Frankfurter Bankenviertel: »Große Teile des Sektors erbringen keine nützlichen Leistungen«

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ARMANDO BABANI/ EPA-EFE/ REX

2008, als die Weltwirtschaft nach dem Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers am Abgrund stand, schien die Sache klar: Nie wieder sollten Finanzinstitute so groß und gefährlich werden, dass sie ganze Volkswirtschaften vernichten und die Steuerzahler in Geiselhaft nehmen können. Jeder Finanzplatz, jedes Produkt, jeder Akteur sollte reguliert werden, mahnten Politiker weltweit, nachdem sie mit billionenschweren Staatshilfen und Bürgschaften den GAU abwenden konnten.

Jetzt, 13 Jahre später, ist von den markigen Ansagen nicht mehr viel übrig, sagt Gerhard Schick, Gründer des Vereins Bürgerbewegung Finanzwende, der sich für eine nachhaltige Finanzwirtschaft einsetzt. Im Gegenteil: Die Banken seien noch größer und gefährlicher als vor dem Lehman-Crash. Allein in der Eurozone hätten sich die finanziellen Vermögenswerte im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung binnen 20 Jahren verdoppelt. Viele Geschäfte, vor allem mit den von Warren Buffett »Massenvernichtungswaffen« getauften Derivaten, seien nicht nur nutzlos, sondern sogar wertevernichtend.

In einer neuen Studie beleuchtet die Denkfabrik Finanzwende Recherche, eine Tochter der Bürgerbewegung, das ungebremste Wachstum des Finanzsektors.

Finanzwende-Chef Schick, einst der Finanzexperte der Grünen-Bundestagsfraktion, spricht im Interview darüber, wieso die Entwicklung Wirtschaft und Gesellschaft schadet und was passieren muss.

SPIEGEL: Herr Schick, wenn man Ihrer Studie folgt, haben Politik und Aufsichtsbehörden nicht allzu viel gelernt aus dem Systemcrash 2008. Wie kann das sein?

Schick: Die alten Kräfteverhältnisse sind wieder komplett intakt. Sicher, es hat einiges an Regulierung gegeben. Aber es gab nie eine klare Zielsetzung, was damit wirklich erreicht werden soll.

SPIEGEL: Wie meinen Sie das?

Schick: Der Finanzsektor ist, gesamt betrachtet, ein Wohlstandsvernichtungsprogramm und keine Branche, die Werte schafft. Eigentlich müsste es nicht darum gehen, bloß irgendwie und irgendwas zu regulieren und Risiken zu reduzieren. Sondern darum, die gesellschaftlich schädlichen Aktivitäten des Sektors zu beenden und ihn auf seinen nützlichen Kern zurechtzustutzen. Diese Perspektive war nach 2008 nicht präsent genug. Wir müssen uns fragen: Was ist überhaupt der produktive Kern des Finanzsektors?

SPIEGEL: Und was ist er?

Schick: Kredite vergeben, Risiken absichern, den Menschen faire Finanzprodukte anbieten.

SPIEGEL: Das würde wohl jeder unterschreiben.

Schick: Ja, aber große Teile des Finanzsektors erbringen keine nützlichen Leistungen. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist Europas Finanzsektor heute zwar deutlich größer als vor einigen Jahren, aber nur knapp 30 Prozent davon bestehen in der Vergabe von Krediten an die Realwirtschaft.

SPIEGEL: Was machen die Banken mit dem Rest?

Schick: Vor allem Geschäfte mit anderen Finanzinstituten, oft Geschäfte zur Umgehung staatlicher Regeln. Die Deutsche Bank hat 2020 nach eigenen Angaben weltweit Kredite im Wert von 431 Milliarden Euro vergeben, aber Derivatepositionen von 32.000 Milliarden Euro. Das sind 1000 Prozent des deutschen BIP. Das hat wenig mit der Realwirtschaft zu tun.

SPIEGEL: Mit Derivaten sichern Banken Geschäfte ihrer Kunden ab, etwa wenn Unternehmen sich gegen Währungsschwankungen schützen wollen.

Schick: Das wäre ja schön, aber oft genug geht es dabei um die Vernichtung realer Werte. Nehmen Sie wieder die Deutsche Bank als Beispiel: Sie hat dem spanischen Weinhändler J. García Carrión Devisenderivate  verkauft, die diesem Millionen an Verlusten brachten. Das war wohl rechtlich nicht in Ordnung. Die Bank zahlte Millionen, um den Streit beizulegen. Das ist ein kleiner Fall, aber er steht für so vieles. Denn so werden real erwirtschaftete Werte vernichtet, um Rendite in der Finanzwirtschaft zu erzeugen. In Summe führt das dazu, dass die Einkommen im Finanzsektor mit die höchsten überhaupt sind. Diese hohen Einkommen werden nur möglich, weil sie anderswo abgezweigt werden.

»Die Banken waren nicht einmal bereit oder in der Lage, bei den Corona-Hilfskrediten zehn Prozent der Ausfallrisiken zu tragen. Der Staat haftet für alles.«

SPIEGEL: Die Banken argumentieren, dass sie gerade in der Pandemie dafür gesorgt haben, dass die Realwirtschaft mit Kredit versorgt wurde und nicht ins Bodenlose fiel. Stimmt das denn nicht?

Schick: Das klingt zu schön, um wahr zu sein. Die Wahrheit ist, dass der Staat oft das komplette Risiko trägt. Die Banken waren nicht einmal bereit oder in der Lage, bei den Corona-Hilfskrediten zehn Prozent der Ausfallrisiken zu tragen. Der Staat haftet für alles, weil viele Banken schon zu Beginn der Pandemie zu wenig Risikopuffer hatten. Und sie produzieren ständig selbst neue Krisen.

SPIEGEL: Was meinen Sie damit?

Schick: Seit der Finanzsektor so aufgebläht ist, also seit ungefähr 20 Jahren, löst eine Krise die nächste ab. Banken sollen die Wirtschaft mit Kredit versorgen und stabilisieren. Stattdessen machen viele Akteure ein Geschäftsmodell daraus, in guten Zeiten Risiken einzugehen und Gewinne zu machen und sich in schlechten Zeiten von der Zentralbank retten zu lassen. Das mag für manchen ja ein cooles Geschäftsmodell sein, ist aber gewiss nicht im Sinne der Gesellschaft.

SPIEGEL: Was schlagen Sie vor? Etwa die Verstaatlichung aller Banken?

»In der Finanzbranche gibt es 1,5 Millionen Produkte, im Supermarkt maximal nur 25.000.«

Schick: Ganz sicher nicht. Bis zur Finanzkrise haben gerade staatliche Banken, allen voran die Landesbanken, viel Mist gemacht, wenn ich allein an die Rolle der WestLB beim Cum-Ex-Steuerbetrug denke. Nein, wir müssen den Finanzsektor schrumpfen. Wir alle würden profitieren, wenn man den Hochfrequenzhandel und viele Derivategeschäfte unmöglich machen würde. Die Kunden würden weniger Geld verlieren, wenn wir ein Provisionsverbot hätten. So würden Banken und Sparkassen die Kunden nicht in Finanzprodukte hineinquatschen, die diese gar nicht verstehen, nur damit der Vertrieb Gebühren kassiert.

SPIEGEL: Ihre Partei, die Grünen, wollte in den Koalitionsverhandlungen die Stärkung der Honorarberatung  durchsetzen, konnte sich aber nicht durchsetzen.

Schick: Da hat sich eindeutig die Finanzlobby durchgesetzt, leider. Es ist grotesk: In der Finanzbranche gibt es 1,5 Millionen Derivate, im Supermarkt maximal nur 25.000. Die meisten dieser Produkte sind überflüssig, viele schädlich. Bekämen alle Kunden eine unabhängige Finanzberatung, hätten diese Produkte keine Chance und würden verschwinden.

SPIEGEL: Das Modewort in der Branche ist derzeit ESG – dabei geht es darum, bei Krediten und Finanzprodukten dafür zu sorgen, dass die Aspekte Umweltschutz (Environment), Soziales und saubere Unternehmensführung (Governance) beachtet werden. Auch hier gibt es bereits Skandale . Ist das ESG-Thema ein grüner Bluff ?

Schick: Es gibt wirklich große Anstrengungen, nachhaltig zu finanzieren und investieren. Aber Fakt ist auch: Oft steckt bei vermeintlich nachhaltigen Geldanlagen nicht drin, was draufsteht. Seit 2015 haben europäische Großbanken 1000 Milliarden Dollar in Unternehmen und Projekte im Bereich der fossilen Energien investiert. Mich erinnert das an die Automobilbranche.

SPIEGEL: Inwiefern?

Schick: Auf den großen Motorshows werden die Hybrid- und Elektroautos angepriesen, verkauft werden aber immer noch vor allem SUVs. Genauso ist es am Finanzmarkt.

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