HARTZ IV Gestörter Frieden
Es war gegen 19.40 Uhr am Dienstag vor drei Wochen, als ein unscheinbarer Citroën Saxo im baden-württembergischen Bietigheim-Bissingen die Abendruhe empfindlich störte. Der Kleinwagen schoss quer über die Freiberger Straße und einen Gehweg, prallte gegen ein Haus - um schließlich mit einer gewaltigen Detonation zu explodieren.
An einen Unfall mochten die herbeigerufenen Polizeibeamten nicht glauben: Das Auto hatte zu zielsicher den Haupteingang der Agentur für Arbeit getroffen. Tatsächlich stellten sie fest, dass der völlig verkohlte Fahrer hinter dem Lenkrad zu Lebzeiten ein Klient des Amtes war - und auf dem Beifahrersitz eine geöffnete Zwölf-Liter-Flasche Propangas hatte. Dem 51-jährigen Fernmeldehandwerker war das Arbeitslosengeld gestrichen worden.
Das Fanal von Bietigheim lässt Sicherheitsexperten in Deutschland aufhorchen. Seit Wochen warnen sie vor einer zunehmend explosiven Stimmung im Land, die sich mancherorts auch gefährlich entzünden könne, wenn ab Januar das neue Hartz-IV-Gesetz in Kraft tritt. »Wenn der soziale Frieden gestört ist«, so etwa der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Konrad Freiberg, »nimmt auch der innere Frieden und damit die innere Sicherheit Schaden.« Die Gewerkschaft rechnet damit, dass Anfang 2005 Sozialämter und Agenturen um Polizeischutz bitten werden.
Während die Bundesregierung vor »Horrorszenarien« warnt und Freibergs Erwähnung möglicher Gewalttaten als »in jeder Hinsicht unverantwortlich« (Gerhard Schröder) rügt, wird vor Ort aufgerüstet: Polizeipräsenz, private Sicherheitsdienste, Kampfsporttraining für Mitarbeiter und neue Alarmsysteme sollen Risiken senken.
Schon jetzt ist die Sicherheitslage in den Arbeitsagenturen und Sozialämtern im Land alles andere als entspannt. In den letzten Wochen gab es Bombendrohungen gegen Arbeitsagenturen in Wittenberg (Sachsen-Anhalt), Deggendorf (Bayern), Waiblingen (Baden-Württemberg), Leipzig (Sachsen), Stendal (Sachsen-Anhalt) und in Bergen auf Rügen.
Dort in Bergen ging auch eine Morddrohung ein, Brandanschläge trafen die Agenturen im brandenburgischen Rathenow und in Königs Wusterhausen. Ende August war in Berlin-Lichtenberg eine 52jährige Sekretärin der Agentur für Arbeit von einem Kunden gar mit einem Küchenmesser angegriffen worden. Sie überlebte, weil die Klinge abbrach.
Was Agenturmitarbeitern noch blühen könnte, offenbarte sich kürzlich auf der Bühne des Dresdner Staatsschauspiels. Da brüllte sich ein arbeitsloser Laiendarsteller in der »Weber«-Aufführung seinen Frust von der Seele: »Zuerst gehe ich ins Arbeitsamt, zu der Schlampe, die immer so tut, als wäre ich schuld. Ganz böse fuchtel ich mit meiner Pistole vor der rum. Dann scheißt die sich in die Hosen.« Inzwischen ist das Aufführen der Passage untersagt.
Die Polizeiführer der Länder haben reagiert: In Thüringen hat das Innenministerium Gespräche zwischen Polizei und Agenturen zwecks »Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung« angeordnet. Ab Januar sollen Streifen und Kontrollen vor den Ämtern verstärkt werden, Polizeibeamten wird in Sonderschulungen erklärt, wie sie vor Ort reagieren sollen - anhand einer »Checkliste zur Verhaltensorientierung«. Auch Sachsen-Anhalt hat alle Polizeibehörden auf Hartz IV vorbereitet: Es sei »nicht ausgeschlossen«, heißt es in einem Papier des Innenministeriums, dass Einzelne »in übersteigerter Emotionalisierung zu spektakulären Kurzschlusshandlungen« neigen könnten. »Aggressive Akte« gegen Personal und Gebäude der Agentur seien denkbar.
Andernorts rüsten die Ämter die eigenen Leute auf. Die Agentur-Außenstelle im bayerischen Deggendorf schickt Mitarbeiter zum Bundesgrenzschutz, damit ihnen dort die Kunst der Selbstverteidigung beigebracht wird. »Einfache Techniken« und »Befreiungsgriffe« werden geübt. Das Amt hat bereits eine Bombendrohung und zwei Brandanschläge hinter sich.
Heikel könnte die Lage durch die Unwissenheit vieler Betroffener und den enormen Zeitdruck in den Ämtern werden. Erst im Januar - beim Besuch der Agenturen - werden wohl manche Arbeitslosen begreifen, was Hartz IV bedeuten kann: den kompletten Wegfall der Stütze im Extremfall oder enorme Kürzungen. Manch einer könne seine Wut sofort ablassen, fürchten Polizisten, in vielen Agenturen haben die Computer schon Tastenkombinationen, die unauffällig Alarm auslösen.
Nach wie vor ist auch nicht klar, ob bis Januar überhaupt alle Bescheide bearbeitet werden können. Schon jetzt ist in manchen Agenturen kaum ein Mitarbeiter mehr telefonisch erreichbar, weil alle über Bergen von Anträgen schwitzen. Vergangene Woche räumte die Bundesagentur ein, es würden 5000 Mitarbeiter zur Umsetzung der Reform fehlen. Kein Geld im Januar - das Chaos wäre perfekt.
Linke Gruppen haben für den 3. Januar 2005, den ersten Werktag, schon mal die Aktion »Agenturschluss« angekündigt: Sie rufen dazu auf, bundesweit Arbeitsagenturen zu blockieren - durch Bürobesetzungen und Versammlungen. Was am ersten Hartz-IV-Tag noch passieren soll, lassen die Aktivisten vorerst im Dunkeln. Das sei abhängig »von den Menschen vor Ort, von ihrem Zorn und von dem, was sie sich zutrauen«. STEFFEN WINTER