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Gewerkschaften: »Erfahrungen sind verschüttet«

Streiks und Aussperrung im Druckgewerbe, Warnstreiks und Urabstimmung in der Metallindustrie, hohe Forderungen der Staatsdiener -- die härteste Lohnrunde seit Jahren ist Im Gange. Trotz Arbeitslosigkeit und sinkender Exportchancen werden Lohnerhöhungen gefordert, die nach Experten-Ansicht das Erwerbslosenheer vergrößern.
aus DER SPIEGEL 10/1978

In ihrer vorletzten Wochenend-Ausgabe ließ die »Süddeutsche Zeitung« einen ungenannten Witzbold die schädlichen Folgen eines möglichen Druckerstreiks kommentieren: »Am meistn genga mir de Todesanzeigen ab. Jetzt woaß ma ja nimma, wer no lebt!«

Es war zunächst mal der letzte Witz, der ins Blatt kam. Denn seit Montag vergangener Woche, als die Industriegewerkschaft Druck und Papier zum Streik blies, erschien in München keine Zeitung mehr.

Der Streik, den angeblich keiner wollte, legte auch in Düsseldorf, Wuppertal und Kassel die Zeitungsrotationen still. Am Donnerstag waren die Unternehmer am Zuge. Die Verlagsunternehmen Gruner + Jahr sowie Heinrich Bauer in Hamburg sperrten 2200 Beschäftigte aus.

Dann ging es Zug um Zug. Auch in Köln hielten die Verleger von Stadt-Anzeiger«, »Rundschau« und« »Express« die Räder an und sperrten Setzer, Metteure und Drucker aus. Daraufhin bestreikte die IG Druck die Setzerei des Springer-Verlages in Hamburg, um, wie der IG-Druck-Funktionär Detlef Hensche erklärte, den »harten Kern des Unternehmerlagers« zu treffen. Anschließend machten die Herausgeber der »Frankfurter Allgemeinen«, bekannt, aus »Solidarität mit den bestreikten Verlagen« werde die »FAZ« am Freitag nicht erschienen.

In dem Kampf der Drucker um einen Manteltarifvertrag zur sozialen Absicherung der Setzer bei der Einführung elektronischer Systeme mischte sich grollend Heinz Oskar Vetter, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), ein. Auf eine bundesweite Aussperrung in der Druckindustrie werde es »eine bundesweite Antwort geben« -- Sympathiestreiks nicht betroffener Gewerkschaften.

Der Arbeitskampf eskaliert in alle Richtungen. In der Metallindustrie sind die Verhandlungen über einen neuen Lohntarif ebenso geplatzt wie die anschließenden Schlichtungen. Am Dienstag dieser Woche werden in den Tarifgebieten Nordrhein-Westfalen und Nordwürttemberg/ Nordbaden die organisierten Metaller per Urabstimmung über Streik entscheiden. Weil die Unternehmer bis zuletzt über ihre Anfangsangebote von drei und 3,5 Prozent nicht hinausgingen (die IG Metall hatte einheitlich acht Prozent gefordert), erklärte der Stuttgarter Metaller-Chef Franz Steinkühler, notfalls werde »die Solidarität von Millionen die Kumpanei von Millionären brechen«. Während die Streikvorbereitungen bei Druckern und Metallern liefen, zeigte Heinz Kluncker, zweieinhalb Zentner schwerer Boß der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), daß ihn die vielen Appelle der Bundesregierung für maßvolle Lohnabschlüsse nicht stören. Den öffentlichen Arbeitgebern präsentierte er gemeinsam mit Eisenbahnern und Postlern eine Forderung von 7,5 Prozent mehr Lohn sowie zusätzlichen Urlaub im Wert von etwa zwei Lohnprozenten. Kluncker begründete seine massive Forderung: »Wir haben 1974 nicht gestreikt, um jetzt wieder den Anschluß zu verlieren.«

Besorgt äußern Gewerkschafter wie Unternehmer, daß die Tarifauseinandersetzungen in der Bundesrepublik eine neue Qualität gewonnen haben. Neu ist freilich nicht die Art der Sprüche, das Ritual der wechselseitigen Bezichtigungen -- kräftig gestanzte Formeln auf seiten der Gewerkschafter, die den Unternehmern »Arroganz«, »Unverschämtheit«, Zynismus«, »Brutalität« (so etwa der IG-Metall-Vorsitzende Eugen Loderer) ankreiden, und. tadelnde Bemerkungen auf seiten der Unternehmer, die ihren Verhandlungspartnern vorwerfen, sie handelten »unverantwortlich« (Metallarbeitgeber) oder zeigten eine »irrationale Haltung, (Arbeitgeber des Verlags- und Druckgewerbes).

Doch im Gegensatz zu früheren Tarifgängen um Löhne und Arbeitsbedingungen trennt die Parteien mehr als nur die Differenz zweier Zahlen. Anders als ehedem herrscht hinter dem kämpferischen Wortgeklingel nicht mehr der stille Konsens, der aus Partnern nur Gegner auf Zeit machte. Vielmehr zeigt sich immer deutlicher, daß die Ausgleichsmechanismen, die der Bundesrepublik eine nahezu beispiellose wirtschaftliche und soziale Stabilität sicherten, gestört sind.

Selten klafften die gewerkschaftlichen Forderungen und das, was unter der Berücksichtigung der ökonomischen Möglichkeiten erreichbar zu sein scheint, so weit auseinander wie in der gegenwärtigen Tarifrunde. Alle Arbeitnehmerverbände verlangen derzeit Zuschläge von über 6,5 Prozent, obwohl die Bundesregierung, alle unabhängigen Wirtschaftsinstitute und der von Bonn beauftragte Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vorgerechnet haben, daß selbst bei sehr viel niedrigeren Lohnzuwächsen nur ein geringer Abbau der Arbeitslosigkeit und wenig Wachstum zu erwarten seien.

Vor allem die große Zahl der westdeutschen Unternehmen, die einen beträchtlichen Teil ihrer Produktion im Ausland absetzt oder zu Hause gegen mächtige Import-Konkurrenz bestehen muß, hat derzeit kaum Chancen, erhöhte Lohnkosten auf die Preise abzuwälzen. Denn seit Anfang 1977 ist der Wechselkurs der Mark gegenüber den Währungen der wichtigsten Handelspartner im Durchschnitt um zwölf Prozent gestiegen, allein in den letzten vier Monaten um sieben Prozent.

In etwa gleichem Ausmaß wurden damit deutsche Waren im Ausland teurer, fremde Produkte hier entsprechend billiger. Den Arbeitnehmern bringt die Aufwertung zunächst Vorteile in Gestalt niedrigerer Preissteigerungsraten, jede Lohnerhöhung wird mithin mehr wert. Den Unternehmen drohen dagegen verminderte Absatzchancen.

Nach einer Daumenregel können die westdeutschen Fabrikanten im Ausland ohne Absatzeinbußen bis zu zehn Prozent teurer sein als ihre Konkurrenten -- eine Art Prämie für pünktliche Lieferung, sorgfältige Verarbeitung und gleichmäßig gute Qualität.

»Aber dieser Vorsprung zählt nicht mehr«, so Bernhard Kapp, Präsident des Vereins Deutscher Maschinenbau-Anstalten (VDMA), »wenn der Preisabstand auf zehn bis fünfzehn Prozent wächst.« Daß eine Mark-Aufwertung im derzeitigen Ausmaß den Spielraum für Lohnerhöhungen einengt, wenn zusätzliche Arbeitslosigkeit vermieden werden soll, versteht sich von selbst.

Vergebens mahnte Bundeskanzler Helmut Schmidt, daß die Wirtschaft nicht ständig mit steigenden Kosten belastet werden dürfe, weil sonst die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Firmen bedroht sei: Aber die Abschlüsse, die bisher zustande kamen, liegen oberhalb dieser Grenze.

Im Hamburger Hafen etwa waren die Arbeiter selbst mit einem Verhandlungsergebnis von 6,4 Prozent nicht zufrieden und erzwangen noch einen Zuschlag. Die Schauer- und Tallymänner kassieren nun nach Berechnungen der Bundesbank ein Lohnplus von 7,5 Prozent. Die deutschen Häfen, die ohnedies schon erheblich teurer als andere europäische Anlegeplätze waren, mußten ihre Gebühren erhöhen und werden dadurch wahrscheinlich Kunden verlieren.

In der Eisen- und Stahlindustrie, die seit zwei Jahren nur noch von ihren Verlusten lebt, konnte die IG Metall (ursprüngliche Forderung: sieben Prozent) nach dreimonatiger Verhandlung rund vier Prozent Lohn herausholen.

Vor elf Jahren, als die Stahlindustrie auch in Verlusten, freilich nicht in so tiefen wie heute steckte, hatten die Gewerkschafter sechs Monate lang auf einen Zuschlag verzichtet und dann nur die Absicherung der damals halb so hohen Effektiv-Verdienste vereinbart. Der jetzige Mehrlohn wird das Loch in den Bilanzen der Stahlfirmen 1978 um 230 Millionen Mark vergrößern.

In den zwölf Branchen der Metallindustrie verlangt die IG Metall offiziell acht Prozent und möchte gern einen Abschluß durchdrücken, der über fünf Prozent liegt, obwohl viele Unternehmer ihre Ertragslage so beschreiben: »Bescheiden wäre noch geprahlt« (VDMA-Präsident Kapp). Die Einlassungen sind glaubhaft. Denn die unabhängigen Experten des Münchner Ifo-Instituts fanden heraus, daß die Geschäftslage in neun der zwölf metallverarbeitenden Branchen schlecht bis miserabel war.

Der Metall-Abschluß gilt gleichermaßen für die Werften, die das Wort Gewinn längst nicht mehr kennen, wie für die Automobilindustrie, deren Erträge einzig im Lande sind.

Fast hätten sich die Metall-Tarifparteien am vorletzten Wochenende in Nordrhein-Westfalen schon geeinigt -- ein Lohnabschluß über 4,8 Prozent stand im Raum. Doch zum möglichen Abschluß kam es nicht, weil am Tag zuvor der Stuttgarter Bezirkschef der IG Metall, Franz Steinkühler, der in Baden-Württemberg parallel verhandelte, die Weichen auf Streik stellte. Er ließ die Schlichtung, nachdem der neutrale Vermittler 4,8 Prozent ventiliert hatte, vorzeitig platzen. Damit war die Einigung erst einmal blockiert.

Der harte Arbeitskampf und die hohen Forderungen auf dem Hintergrund einer Millionen-Arbeitslosigkeit verunsichern unterdes auch manche altgediente Funktionäre.

Vorbei scheint jene Zeit, in der Westdeutschlands Gewerkschafter rückhaltlos und durchgängig das westliche Wirtschaftssystem akzeptierten und sogar stützten. Vorbei auch ist jene Zeit, in der sie sich an die Maxime hielten, daß bei Lohnrunden nur verteilt werden kann, was zusätzlich erarbeitet wird.

Vor einem guten Jahrzehnt noch sagte Wilhelm Haferkamp, heute EG-Kommissar und damals Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung im DGB, über die ökonomischen und gesellschaftlichen Ziele der deutschen Arbeitnehmeroranisationen, sie bedeuteten »eine klare Ab sage an eine zentrale Verwaltungswirtschaft«. Die Vorstellungen der Gewerkschaften seien auf »eine gemischte Wirtschaftsordnung gerichtet, wie sie in allen modernen Volkswirtschaften der freien Welt besteht«.

Heute wächst innerhalb der Verbände die Kritik an dieser Mischung. In vielen gewerkschaftlichen Papieren und auf manchen Kongressen wird eine »gesamtgesellschaftliche Planung und Lenkung des Wirtschaftsprozesses« (Gewerkschaftstag der IG Druck 1977) gefordert.

In allen Bereichen wird Wandel sichtbar. In dieser Tarifrunde fordern erstmals zwei Arbeitnehmerverbände, die Metall- und die Druckergewerkschaft, daß die Belegschaften vor den Folgen von Rationalisierung und vor allem vor den Folgen des technischen Fortschritts nahezu vollkommen und auf immer geschützt werden. Ein führender Gewerkschaftler beschreibt, was sich geändert hat: »Die westdeutschen Arbeitnehmer-Organisationen waren lange Zeit beinahe die einzigen in der Welt, die sich zum Freihandel und zum technischen Fortschritt bekannten. Das baut sich jetzt ab.«

Früher auch orientierte sich das wichtigste Instrument der Gewerkschaften, die Tarifpolitik, an den »ökonomischen Systemzwängen«, wie die linken Mitglieder des Frankfurter Instituts für Sozialforschung kritteln, die auf Rechnung der Deutschen Forschungsgemeinschaft die Strategien der Arbeitnehmerverbände untersuchen. Den Unterschied zwischen gestern und heute beschrieb die Gemeinschaft zum Schutz der deutschen Sparer: »Bis zum Beginn der 70er Jahre folgten die Lohnsteigerungen einem Konjunkturabschwung so elastisch, daß sich Erträge und Investitionsneigung der Wirtschaft jeweils rasch wieder erholten; in den letzten Jahren hingegen ließen die Lohnsteigerungen eine solche Anpassungsbereitschaft vermissen.«

Nachdem etwa im zweiten Halbjahr 1966, zu Beginn der ersten größeren Nachkriegsrezession, die Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit nur noch um 1,4 Prozent gestiegen waren, reagierten die Gewerkschafter sofort. Für das Jahr 1967 schlossen sie im Durchschnitt eine Tariflohnsteigerung von nur 4,3 Prozent ah, obwohl die Produktivität, die Leistung je Arbeitsstunde. um 7,6 Prozent zunahm.

Damals erklärte Günter Friedrichs, Leiter der Automationsabteilung der IG Metall: »Wird ein Unternehmen gezwungen, Löhne zu bezahlen, bei denen es wirtschaftlich nicht mehr existenzfähig ist, so gefährden die Arbeitnehmer ihre eigenen Arbeitsplätze.«

Ähnliches ist heute von Gewerkschaftsfunktionären nur noch leise zu hören. Obwohl die Gewinne und die Investitionen seit 1970 nur noch selten und dann meist wenig stiegen, wollen oder können die Gewerkschaften zu der früher bewährten Lohnpolitik nicht mehr zurückkehren.

Nur noch einmal, 1976, orientierten sie sich an ihren früher akzeptierten Grundsätzen, daß Tarifbewegungen nur dann keine Beschäftigungsrisiken schaffen, wenn sich Reallohn und Leistung in etwa decken. Zwischen 1970 und 1977 kletterten die tariflichen Stundenlöhne real, das heißt nach Abzug der Preissteigerungen, im produzierenden Gewerbe um insgesamt fast 30 Prozent, die Produktivität aber wuchs nur um 27 Prozent.

Wenn die Gesetze der Arithmetik noch gelten, dann haben die Lohnrunden der jüngsten Vergangenheit entscheidend dazu beigetragen, daß derzeit 1,2 Millionen Bundesbürger erwerbslos gemeldet sind und ein Teil ihrer ehemaligen Arbeitsplätze unwiederbringlich beseitigt wurde.

Herbert Pavel, Präsident des Wirtschaftsverbandes der Eisen-, Blech- und Metallwarenindustrie, machte die Rechnung auf: »Seit 1970 sind in meinem Bereich die Löhne dreimal so schnell gestiegen wie die Produktivität und doppelt so rasch wie die Inflationsrate.« Von 1973 bis jetzt sei daraufhin die Zahl der Beschäftigten in der Branche um 15 Prozent gesunken. Pavel, der selbst in mehreren Fabriken mit über 3000 Beschäftigten Industrienadeln, Tanksäulen und -behälter sowie Kleinzieh- und Stanzteile herstellt, kalkuliert die möglichen Folgen der neuen Metall-Tarifrunde: »Wenn zwischen fünf und sechs Prozent abgeschlossen wird, dann muß ich zwei Prozent meiner Belegschaft entlassen.«

Immer wieder weisen Wirtschaftswissenschaftler darauf hin, daß die derzeitige ökonomische Lage der Situation in den fünfziger Jahren nicht unähnlich sei: Damals mußten außer 2,5 Millionen erwerbslosen Bundesbürgern (1950: elf Prozent) zwei Millionen DDR-Flüchtlinge eingegliedert werden. Heute und in Zukunft warten außer den jetzt schon Arbeitslosen rund eine Million Jugendliche, die bis 1985 zusätzlich an den Arbeitsmarkt drängen, auf eine Stelle.

Vor gut zwanzig Jahren haben die Tarifpartner das Problem mit einer arbeitsmarkt-orientierten Lohnpolitik gelöst: Damals blieben die jährlichen Tariflohnsteigerungen nach Abzug der Preissteigerungen durchweg unter dem Produktivitätsgewinn, daß heißt dem Leistungszuwachs je Arbeitsstunde (siehe Graphik). Ergebnis: Zwischen 1950 und 1959 entstanden 5,3 Millionen neue Arbeitsplätze. »Die Erfahrungen der fünfziger Jahre«, so ein maßgeblicher Gewerkschaftsfunktionär, »sind heute mehr verschüttet, als ich es wünschte.«

Die Einlassung der IG Metall, die Basis in den Betrieben dränge auf kräftige Lohnerhöhungen, jedenfalls ist nicht belegt. Soweit die Arbeitnehmer-Meinung erkundet wurde, trat eher das Gegenteil zutage.

In einer repräsentativen Umfrage des Hamburger Instituts Kehrmann erklärten im vergangenen Dezember nur 29 Prozent der Arbeiter, die Löhne müßten stärker als die Lebenshaltungskosten steigen, der große Rest war entweder für gänzlichen Lohnverzicht (neun Prozent), für mehr Arbeitsplätze durch Lohnverzicht (17 Prozent) oder für einen Inflationsausgleich (31 Prozent). Die übrigen 14 Prozent wollten das akzeptieren, was der Bundeswirtschaftsminister für verdaulich hält.

Geändert hat sich dagegen der Personen-Typus, der innerhalb der Gewerkschaften den Ton angibt, geändert haben sich auch die Entscheidungs-Muster und Organisations-Strukturen der Einzel-Verbände wie der Dachgewerkschaft DGB.

Der deutschen Gewerkschaftsbewegung scheint derzeit eine Führungspersönlichkeit zu fehlen, die sich notfalls auch gegen begreifliche Wünsche der Basis sperrt. Die Indizien sind unverkennbar. So klagen etwa die Arbeitgeber in der Metall-, aber auch in der Druckindustrie, daß die Verhandlungskommissionen immer größer werden, der Mut einzelner um sauren Kompromiß dagegen immer geringer wird.

Bei den Schlußverhandlungen zwischen Druckindustrie und der Gewerkschaft saßen früher höchstens noch je drei Abgesandte am Tisch. Wenn es um die Formulierung des Kompromisses ging, führte bei den Arbeitnehmern stets der Tarifexperte und zweite Vorsitzende Herbert Schwiedel, ein ehemaliger Setzer, das Wort. Was er ausmachte, galt.

Schwiedel starb 1976, und seither ist es nur noch schwer möglich, mit der IG Druck Verträge zu schließen. Denn heute sind die Kommissionen doppelt, manchmal dreimal so stark besetzt wie früher, weil, so Erhardt Stiebner, Vorsitzender der bayrischen Zeitschriftenverleger, »die jungen Gewerkschafter darauf bestehen, die Gremien groß zu halten«. Und niemand ist mehr in der Lage, einen Kompromiß bei den eigenen Kollegen durchzustehen.

Wenn die Verhandlungen festgefahren waren, hatte früher auch schon einmal die Spitze der IG Metall direkt und allein mit den Arbeitgebern die Entscheidung getroffen. Der derzeitige IG-Metall-Chef Eugen Loderer, der stets mit einer starken Opposition in seinem Vorstand rechnen muß, aber hat anders als sein Vorgänger Otto Brenner weder die unteren Funktionäre noch die Tarifpolitik fest in der Hand.

Unter ihm wuchsen die Bezirksleiter der IG Metall zu »souveränen Landesfürsten« (so ein Arbeitgeberfunktionär). Der Stuttgarter Bezirksleiter Steinkühler gilt heute als der eigentliche Macher in der Tarifpolitik, der sogar nach Ansicht seiner Kollegen durch Konfliktstrategie den Vorsitzenden Loderer auszuhebeln trachtet.

Geändert hat sich schließlich das politökonomische Umfeld, in dem die Gewerkschaften agieren. Zu Zeiten Ludwig Erhards beschränkte sich die staatliche Wirtschaftspolitik darauf, Eingriffe in die unternehmerische und gewerkschaftliche Sphäre möglichst gering zu halten. Erhards Politik bestand allein darin, Zukunftssicherheit zu verbreiten und die Erwartungen zu stabilisieren. Der Staat lieferte den Tarifvertragsparteien weder Entscheidungshilfen für die Lohnpolitik noch die Gewißheit, er werde die Folgen falscher Abschlüsse heilen.

Mangels einer gesamtwirtschaftlichen Richtschnur hielten sich die Einzelgewerkschaften stets an die ökonomischen Bedingungen der von ihnen vertretenen Branchen und Regionen, in denen regelmäßig unterschiedlich hohe Lohnabschlüsse vereinbart wurden.

Heute operiert jede Einzelgewerkschaft mit den undurchsichtigen Begriffen aus der Modellwelt der Nationalökonomie. Nach dem Übergang von der »naiven zur aufgeklärten Wirtschaftspolitik« (Karl Schiller), die sich nach dem Sturz Ludwig Erhards 1966 vollzog, änderte sich allmählich auch das tarifpolitische Klima. Denn von nun an lieferte die Bundesregierung den Tarifparteien alljährlich Entscheidungshilfen: eine »Jahresprojektion« (Stabilitätsgesetz), in der den Tarifparteien vorgerechnet wird, bei welchem gesamtwirtschaftlichen Lohnzuwachs etwa Preisstabilität und Beschäftigung wahrscheinlich gesichert sind.

Die Akademisierung der Wirtschaftspolitik, zu der auch der von Bonn beauftragte Sachverständigenrat mit seinen Prognosen beitrug, hat auf Dauer den angestrebten Zielen mehr geschadet als genützt. Prognosen haben nämlich die Eigenschaft, daß sie mit Wahrscheinlichkeit eher falsch als richtig sind. Das gilt im besonderen für Regierungsprognosen, weil es ein Gebot politischer Irrationalität ist, die Zukunft rosa zu malen.

Zudem sehen die Gewerkschaften in den Lohnzahlen des Jahreswirtschaftsberichts »eine Meßlatte, die es zu überspringen gilt«, so Hans Janßen, im IG-Metall-Vorstand zuständig für Tarifpolitik. Der Vorgang ist psychologischer Natur. Die Gewerkschaftsführer fürchten den Vorwurf ihrer unteren Funktionäre, sie ließen sich von der Regierung gängeln, wenn sie dem Rat folgen.

Als ihre eigene tarifpolitische Leistung definieren die Gewerkschaftsstrategen daher das, was sie über die staatliche Prognoseziffer hinaus erstreiten. Es gehört zu den Paradoxien der jüngeren deutschen Sozialgeschichte, daß der gläubig unternommene Versuch, aus gesamtwirtschaftlicher Sicht die Tarifparteien auf ökonomisch unschädlichen Kurs zu führen, beinahe das Gegenteil bewirkt hat.

Für 1974 hatten die Rechner des Bonner Wirtschaftsministeriums kalkuliert, daß nur bei Abbau von Beschäftigung und Überstunden eine Zunahme der Bruttolohn- und -gehaltssumme je Beschäftigten von 8,5 bis 9,5 Prozent möglich sei, was in etwa einer tariflichen Stundenlohnerhöhung von zehn Prozent entsprach. Abgeschlossen wurden im Durchschnitt zwölf Prozent. So oder so ähnlich war es in den Jahren vorher und danach. Sachverständige Gewerkschafter vermuten, daß ohne die staatlichen Rechenwerke derart hohe Lohnzuwächse kaum zustande gekommen wären.

Durch die vermeintlich aufgeklärte Wirtschaftspolitik wurde zudem der Mechanismus gestört, der dafür sorgte, daß unterschiedlich leistungsfähige Branchen unterschiedlich hohe Lohnzuwächse tragen mußten. Einzelne Gewerkschaften, die es früher durchaus ertrugen, daß Schwesterverbände häufig doppelt soviel herausholten wie sie selbst, kamen nun immer mehr auf den Einheitsnenner.

Wer den ersten Abschluß unterschrieb, legte alle anderen Tarifrunden des Jahres praktisch fest. Der Sachverständigenrat beobachtete, »daß es den Tarifpartnern schwerfällt, sich von einem zu Beginn der Lohnrunde gesetzten Maßstab zu lösen«.

Wie nicht anders zu erwarten, hatte die Seminarisierung von Wirtschaft und Politik auch Rückwirkungen auf die Organisation der Gewerkschaften, deren Stäbe sich rasch mit Universitätsabsolventen füllten. Mit der Akademisierung Schritt hielt eine Ideologisierung des Gewerkschaftsapparats. Junge Akademiker sahen die Chance, linke Ideologien gegen wenig Widerstand in die Tat umzusetzen.

Den Organisationen floß so eine politische Auslese zu, die »wir nicht wollten« (so ein altgedienter Funktionär). Damit wuchs der Einfluß einer Gruppe, die in der klassischen Arbeiterbewegung kaum Platz hatte: Intellektuelle, die zur industriellen Arbeitswelt nur ein theoretisches Verhältnis haben.

Ihre Ziele sind von der Art, wie sie eine Studiengruppe des Frankfurter Instituts für Sozialforschung beschreibt: »Umorientierung der gewerkschaftlichen Politik auf das Ziel einer Kampforganisation« hin, die letztlich »auf eine Klassenpolitik hinarbeitet«.

Wichtiger als höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen scheinen ihnen »mögliche Veränderungen im gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital«.

Die Intellektuellen aus dem Mittelbau, eingestuft hauptsächlich als wissenschaftliche Referenten, haben rasch an Gewicht gewonnen -- vor allem deshalb, weil sie einen Großteil der gewerkschaftlichen Schriften füllen. Sie veränderten den Tonfall, die Sprache und am Ende manchmal auch den Inhalt gewerkschaftlicher Forderungen.

So geschah es bei der IG Druck. Noch im Frühjahr 1968, als Berliner Apo-Trupps die Auslieferung von Springer-Zeitungen mit Gewalt verhinderten, bekannte die IG Druck in ihrem Verbandsorgan: »In der Tat ist die Presse überall dort, wo sie frei ist, privatwirtschaftlich organisiert.«

Acht Jahre später wurde in der Gewerkschaftszeitung »Druck und Papier« gefragt, »wie lange wir uns in diesem für die Demokratie so wichtigen Bereich noch den Luxus privater Unternehmen leisten können«. Der Autor, Detlef Hensche, 38, Doktor der Jurisprudenz und aus dem wissenschaftlichen Stab des DGB in den Vorstand der Druckergewerkschaft übergewechselt, vollendete noch im gleichen Jahr den politischen Kobolz der Organisation. Im Hamburger Linksblatt »Konkret« nannte er die private Presse »verfassungswidrig«.

Auf dem letzten IG-Druck-Kongreß nahmen die Delegierten mit großer Mehrheit den Vorschlag an, »Alternativen zur privat-wirtschaftlichen Ordnung der Presse zu entwerfen« -- binnen zehn Jahren ein ideologischer Schwenk um 180 Grad.

Gestandene DGB-Gewerkschafter sind sicher, daß sich die politischen Überzeugungen an der Basis, bei Setzern und Druckern, nicht geändert haben. Geändert hat sich nur die Besetzung der Schlüsselpositionen, in die in den vergangenen Jahren immer mehr frustrierte Weltverbesserer einsickerten. In den gemäßigten Gruppen der DGB-Organisationen wird die wildlaufende Truppe, die den alten Drucker-Bund fest im Griff hat, »Grünspan« genannt.

1976 trieb die IG Druck die Belegschaften 19 Tage lang in den Streik, machte dafür 29 Millionen Mark Schulden und erreichte einen Abschluß, der um 0,8 Prozentpunkte über dem der LG Metall (5,4 Prozent) lag. Der Aufschlag stand in keinem Verhältnis zu dem eigenen Aufwand und den Folgekosten des Streiks, der den Appetit der Verleger und Druckerei-Unternehmer auf die elektrische Lichtsatztechnik kräftig stärken mußte.

Nur noch in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), die von den Linken in einen Prozeß permanenter Selbstauflösung getrieben wurde, ist die Macht radikaler Theoretiker stärker als in der Druckergewerkschaft. Aber der Einfluß der Systemveränderer, die den klassischen Kurs der Arbeitnehmervertretung als anpasserisch und selbstrestriktiv verurteilen, wächst auch in anderen Bereichen der DGB-Gewerkschaften.

Über den Typus des Intellektuellen in den Gewerkschaften schrieb schon 1942 der Sozialwissenschaftler Joseph Alois Schumpeter, er radikalisiere durch Theorien und Schlagworte beinahe zwangsläufig die Arbeitnehmer-Organisationen und verleihe »zuletzt selbst den bürgerlichsten Gewerkschaftspraktiken eine revolutionäre Richtung«.

»Da der Intellektuelle«, so Schumpeter in seiner Vision, »keine echte Autorität besitzt und sich immer in Gefahr fühlt, daß man sich ohne weitere Umstände seine Einmischung verbittet, muß er schmeicheln, versprechen und antreiben, an die Außenseiter appellieren.« Er neige dazu, den Inhalt gewerkschaftlicher Politik in eine Richtung zu verändern, die von den Arbeiter-Verbänden selber nie angestrebt worden wäre.

Kennzeichnend für diesen Einfluß ist heute beispielsweise die Tatsache, daß die von den Jungsozialisten aufgebrachte Forderung nach totaler Investitionslenkung auch bei den Gewerkschaften virulent wurde, etwa bei der IG Chemie, obwohl jede Festlegung der Investitionen die Tarifautonomie unmöglich machen würde. Denn wenn die Höhe der Investitionen in der Gesamtwirtschaft oder in den Branchen durch übergeordnete Gremien vorgeplant wird, ist auch der für den Konsum zur Verfügung stehende Betrag definiert, mithin auch die Lohnhöhe. So gesehen, läuft Investitionslenkung in letzter Konsequenz auf den Freitod der Gewerkschaften hinaus.

In den ökonomischen Stäben der Gewerkschaften findet sich vor allem jene Art von Akademikern, die der renommierte Saarbrücker Volks- und Betriebswirt Wolfgang Stützel so beschrieb: Sie seien zur Hauptaufgabe eines Wirtschaftswissenschaftlers, die darin bestehe, »etwas von Wirtschaft zu wissen«, gar nicht erst vorgedrungen. Sie seien vielmehr »professionelle Systemkritiker«, mit einem »gefährlichen Überschuß ihres Idealismus über ihren Sachverstand«.

So stand beispielsweise in den Mitteilungen des Wirtschafts-und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Gewerkschaft, die Unternehmer würden bei zurückhaltender Lohnpolitik den dadurch erzielten Gewinnspielraum nur zum weiteren Einsatz arbeitsparender Maschinen benutzen. Fazit: »Die Arbeitnehmer sollen mithin gezwungen werden, über Lohnverzicht zu ihrer technologisch bedingten Arbeitslosigkeit beitragen« (WSI-Meldungen Mai 1977).

Wenn es richtig ist, daß Unternehmer den höchstmöglichen Gewinn anstreben, kann diese These nicht stimmen: Denn sie unterstellt dem Unternehmer, er werde auf den Gewinn verzichten, den er wenn die Arbeitskosten wieder einmal etwas langsamer stiegen als die Kosten für maschinelle Ausrüstung -- durch geringere Rationalisierung und erhöhten Arbeitseinsatz erzielen könnte.

In neueren Analysen, die seit einigen Jahren die Tarifkonflikte begleiten, wird der Zusammenhang zwischen Lohnkosten, Investitionen und Beschäftigung mehr oder weniger geleugnet. Lohnerhöhungen, so lautet die Gegenthese, seien das beste Mittel, die darniederliegende Kauflust zu beheben. Der Nachfragestoß würde die Absatzchancen der Unternehmen erhöhen und die Firmen anreizen, Arbeitslose einzustellen.

Ein solches Vorgehen ähnelt allerdings dem Verhalten eines Kaufmanns, der sich davon ein gutes Geschäft erhofft, daß er seinen Kunden das Geld zum Einkaufen aus der Ladenkasse schenkt.

Die Kaufkrafttheorie wurde zwar schon früher von den Gewerkschaften ins Feld geführt, freilich nur als propagandistische Floskel. Intern aber war man sich mit den Unternehmern darin einig, daß Löhne vor allem Kosten sind, deren übermäßiger Anstieg die Kuh gefährdet, von der man die Milch und das Kalb haben will. In neuerer Zeit, so klagen ökonomisch sattelfeste Funktionäre, habe sich die Kaufkrafttheorie verselbständigt und sei mittlerweile zur Ideologie verfestigt.

Beinahe täglich erklärt Eugen Loderer von der IG Metall: »Lohnverzicht schafft keinen neuen Arbeitsplatz.« Sein Stuttgarter Kollege Franz Steinkühler behauptet: »Die Löhne von heute sind die Kaufkraft von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen.« Der IG-Druck-Vorsitzende Leonhard Mahlein nennt den Zusammenhang zwischen den Lohnkosten und der Zahl der Arbeitsplätze eine »verlogene Formel«.

Diese Theorie ist höchst verlockend. Denn sie verleitet die Gewerkschaften zu dem Glauben, sie seien in keiner Weise für den Beschäftigungsgrad mitverantwortlich. Helmut Schmidt warnte die Arbeitnehmervertreter davor, ohne Rücksicht auf den Stellenmarkt Löhne auszuhandeln und anschließend dem Staat die Verantwortung für die Beschäftigungslosigkeit zuzuschieben: »Das ist sehr bequem und sehr falsch.«

Verstärkt wird die Tendenz, die Arbeitslosen aus dem tarifpolitischen Kalkül auszuklammern, durch Machtverschiebungen in den gewerkschaftlichen Entscheidungsgremien. Seit Jahren, so stellte eine Forschungsgruppe der Universitäten Münster und Berlin fest, nimmt in den Verwaltungsstellen die Zahl der ehrenamtlichen Funktionäre, die den betrieblichen Ablauf kennen, immer mehr ab. Dagegen wächst die Zahl der hauptamtlichen Funktionäre in den Zentralen und auf den Bezirksebenen. Die Forscher: »Eine deutliche Tendenz zur Professionalisierung.« Bei der IG Metall kamen 1961 auf einen Gewerkschaftsangestellten 1333 Mitglieder, 1976 waren es nur noch 1099.

1960 gab die IG Metall 16 Prozent ihres Beitragsaufkommens für Gehälter, 1976 waren es 27 Prozent und das, obwohl die Anzahl der Beitragsleistenden in diesem Zeitraum stark gestiegen war. Bei der IG Chemie kletterte der Personalkosten-Anteil in der gleichen Zeit von 24 auf fast 34 Prozent.

Das zunehmende Gewicht der Hauptamtlichen gegenüber ehrenamtlichen Funktionären hat Konsequenzen für die innergewerkschaftliche Meinungsbildung. Bei den Hauptamtlichen stellte das Frankfurter Institut für Sozialforschung einen »Überschuß an verbaler Radikalität« fest, die »nicht als bloß manipulative Rhetorik zu interpretieren ist«.

Auf die Frage, ob die Gewerkschaften Klassenkampf-Organisationen werden sollten, antworteten den Frankfurter Sozialforschern, die das »Bewußtsein der Funktionäre« untersuchten, 45 Prozent der Hauptamtlichen, dies sei ihr wichtigstes ZieL Dagegen waren nur 15 Prozent der Ehrenamtlichen dieser Ansicht. Diese wiederum hielten individuelle Hilfe bei persönlichen Problemen der Mitglieder für weit wichtiger (48 Prozent) als die besoldeten Funktionäre (24 Prozent).

Die Mehrheit der Betriebsgewerkschaftler plädierte dafür, in Krisenzeiten nur maßvolle Lohnforderungen zu stellen (62 Prozent), die Berufsfunktionäre bejahten das nur zu 40 Prozent. Die Hälfte dieser Gruppe aber äußerte, Lohnzurückhaltung in der Krise sei falsch.

Neuerdings dringen auch in den Kreis der Betriebsfunktionäre Kräfte ein, deren politischen Standort gemäßigte Gewerkschafter mit »SPD-ML« (Marxismus/Leninismus) beschreiben -- Gruppen, die »über die Tarifpolitik die Gesellschaft kippen wollen«.

Die neuen Strömungen im Kreis der mittleren und unteren Funktionäre trugen auch dazu bei, daß die klassische Forderung nach Rationalisierung in einer Form vorgebracht wird, bei der die langfristigen Auswirkungen auf die Beschäftigten selbst nicht bedacht sind.

Der Stuttgarter Metallarbeiter-Führer Franz Steinkühler, ein rauher und scharfzüngiger Lohnkämpfer, etwa wollte den Besitzstand der Arbeitnehmer nicht nur individuell, sondern auch kollektiv sichern. Dazu sollte ein System sogenannter Sicherungskennzahlen (SK) dienen: Diese Ziffer drückt den Lohn aus, den der Betrieb im gewogenen Durchschnitt zahlt. Sie soll nach Steinkühlers Vorstellungen für die Dauer des Tarifvertrages nicht unterschritten werden dürfen.

Die Kostenvorteile des technischen Fortschritts würden durch die geforderte Sicherungsautomatik und darüber hinaus durch den individuellen Abgruppierungsschutz in jedem Fall geschmälert, im Extremfall sogar aufgezehrt. Außerdem wäre das von den Gewerkschaften erkämpfte Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit praktisch aufgehoben.

Senkt beispielsweise ein Unternehmen durch verbesserten Schallschutz den Lärmpegel, so würde die eigentlich überflüssige Lärmzulage den schon Beschäftigten weitergezahlt, später Eingestellte aber hätten darauf keinen Anspruch, obwohl sie die gleiche Arbeit verrichten wie ihre dienstälteren Kollegen. Permanente Streitigkeiten wären programmiert.

Eine kollektive Absicherung nach Steinkühler würde ganz sicher dem Abbau von Arbeitslosigkeit im Wege stehen. Denn wenn ein Unternehmen wegen verbesserter Auftragslage zusätzlich Ungelernte einstellen möchte, hätte dies zur Folge, daß wegen des sinkenden Lohndurchschnitts alle unteren Lohngruppen außerhalb der Tarif runde dauerhaft höher dotiert werden müßten. Daher würden Unternehmen eher auf Marktchancen verzichten als unabsehbare Kostensteigerungen riskieren. Gleiches gilt bei der Einstellung von Lehrlingen.

Ein System von Sicherungskennzahlen müßte die Anpassungsfähigkeit der Unternehmen an veränderte Marktbedingungen blockieren, in vielen Fällen sogar seinen Bestand gefährden. Schließlich dürfte es den Facharbeitern schaden, weil ihre Qualifikation bei permanentem Hochschaukeln der unteren Lohngruppen nicht mehr angemessen bezahlt würde.

In die gleiche Richtung, wenn auch auf anderen Wegen, geht auch die Druckergewerkschaft. In keinem Bereich der Wirtschaft bedrohen neue Techniken herkömmliche Facharbeiter-Berufe so unausweichlich und so schnell. Schätzungsweise 30 000 Maschinensetzer und Metteure werden durch elektronische Lichtsatztechnik binnen weniger Jahre ihren herkömmlichen Arbeitsplatz verlieren.

Dieser technologische Umbruch traf die IG Druck am Lebensnerv. Mit schwindenden Beschäftigungschancen für Setzer, die traditionell das Rückgrad der Gewerkschaft bildeten, droht der Organisation die Auszehrung. Von 1970 bis 1976 schrumpfte die Beschäftigung gewerblicher Arbeitnehmer in der Druckindustrie -- durch den Konjunktureinbruch verschärft -- kontinuierlich von 176 000 auf 143 000, das sind mehr als 18 Prozent.

Mit der personellen Schwächung der Branche schwand die Kompromißfähigkeit der IG Druck immer mehr. Die Gewerkschaft lehnte am 31. Januar einen Tarifvertrag »über die Einführung und Anwendung rechnergesteuerter Textsysteme« ab, auf den sich die Unterhändler beider Seiten nach 18 Monate dauernden Gesprächsrunden geeinigt hatten.

Das Abkommen sah den umfangreichsten Rationalisierungsschutz vor, den es je in Deutschland gegeben hat: Den nun bald überflüssigen Setzern sollte danach die betriebliche Umschulung auf andere Facharbeitertätigkeiten ermöglicht werden; wer statt dessen die Hilfsarbeit an den neuen rechnergesteuerten Apparaten, die das Blei ersetzen, machen möchte, sollte fünf Jahre lang einen Aufschlag auf den dafür üblichen Lohn bekommen -- in anderen Branchen gibt es solche Anpassungshilfen bei Abgruppierung höchstens für die Dauer eines Jahres.

Der IG-Druck-Vorsitzende Mahlein und sein Stellvertreter Erwin Ferlemann stimmten gegen den Vertrag, dessen Grundlagen sie zuvor selbst ausgehandelt hatten und den Ferlemann sogar mitverfaßt hatte. Schließlich bezeichneten sie in Flugblättern dieses Papier als »Unternehmerdiktat«.

Die Druckergewerkschaft verlangt nun, daß bestimmte Tipparbeiten an den neuen elektronischen Lichtsatzgeräten auf ewig »Fachkräften der Druckindustrie, insbesondere Schriftsetzern« vorbehalten bleiben. Mithin müßten auch künftig noch hochqualifizierte Kräfte in der alten handwerklichen Setztechnik ausgebildet werden -- eine ungeheure Verschwendung von Talenten und Kapital. Oder: Hilfskräfte müßten nach ihrem Beitritt zur IG Druck und Papier per Tarifvertrag zu vollbezahlten Facharbeitern ehrenhalber umbenannt werden -- eine teure Ungerechtigkeit, die Unruhe und Streit in den Betrieben stiften muß.

Zwar: Die totale Garantie einmal erreichter Positionen für die Arbeitnehmer, wie sie vom Metaller Steinkühler und vom Druck-Gewerkschafter Hensche angestrebt wird, kann es heute oder auch in späteren Tarifrunden wohl nicht geben.

Aber allein schon die Forderungen machen deutlich, daß die Sicherung von Besitzständen für jene, die Arbeit haben, an die Spitze der gewerkschaftlichen Ziele gerückt ist. Solche Strategien führen freilich zur Verewigung der Klassenschranke zwischen denen, die einen Job haben und jenen, die dann auf Dauer von jeder Tätigkeit abgeschnitten sind.

Besitzstands-Sicherung und überhöhte Lohnsteigerungen gefährden schließlich auch die Sekurität und den Wohlstand der bevorrechtigten Arbeitsplatzinhaber. Diese Strategien münden in den Zustand, den die englischen Gewerkschaften in ihrem Land erkämpft haben: zu viele oder zu teure Beschäftigte an Plätzen, an denen sie nicht benötigt werden ("overmanning"). Dies muß zwangsläufig immer mehr Unternehmen auf Null bringen. In den überlebenden Firmen würden die Spielräume für Reallohnerhöhungen immer geringer und die Verteilungskämpfe immer härter.

Daß in Westdeutschlands Industrie morgen oder übermorgen derartige Verhältnisse einreißen, ist, so sagt Horst Knapp, Vizepräsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, »nun eine reale Gefahr«. Ein alter Gewerkschafter ist noch pessimistischer: »In zehn Jahren, dann ist die alte Gewerkschaft tot.«

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