Goldman Sachs Software-Diebstahl offenbart Verwundbarkeit der Wall Street

Ein brisanter Kriminalfall sorgt an der Wall Street für Wirbel: Der Computerexperte Sergej A. soll bei Goldman Sachs eine Software gestohlen haben, mit der sich die Märkte weltweit manipulieren lassen. Der Mann streitet alles ab - doch der Datentransfer zeigt, wie gefährlich die Lücken im System sind.
Händler an der Wall Street: Hochfrequenztrading mitverantwortlich für die wilden Kursstürze

Händler an der Wall Street: Hochfrequenztrading mitverantwortlich für die wilden Kursstürze

Foto: Henny Ray Abrams/ AP

New York - Tanzen kann er ja. Zum Beispiel den langsamen Walzer, wie er in einem YouTube-Video von 2008 unter Beweis stellt. Da schwebt Sergej A. mit Ehefrau Elina geradezu über die Bühne, bei einem nicht weiter identifizierten Tanzturnier, zu den Klängen der Schmalzballade "You Light Up My Life". "Entzückende Vorstellung", gurrte der Conferencier zum Schluss, "vielen Dank!" 

Der Mann, der da so elegant das Parkett wienerte, findet sich heute freilich in einer weniger angenehmen Situation. Der 39-Jährige ist zum unfreiwilligen Tagesgespräch an der Wall Street geworden - und zum aktuellen Reizthema auf Börsenblogs und Handelsparketten.

Denn der dreifache Vater, der bis vor Kurzem hauptberuflich als IT-Spezialist bei der Wall-Street-Bank Goldman Sachs arbeitete, wird von der Justiz der Industriespionage in großem Ausmaß beschuldigt: Er soll unter anderem einen geheimen Softwarecode gestohlen haben, der den Schlüssel für den gesamten automatisierten Wertpapierhandel des Goldman-Konzerns birgt.

Software kann Weltmärkte bewegen

Der Vorwurf - der sich auf wochenlange FBI-Ermittlungen stützt und nun als Klage vor dem US-Bezirksgericht New York liegt - könnte dramatische Folgen haben: Mit besagter Software, die computerisierte Trades im Wert von vielen Millionen Dollar steuert, lassen sich der Staatsanwaltschaft zufolge Weltmärkte bewegen. Allein die Existenz eines solchen Programms in der Hand einer einzigen Wall-Street-Firma hat Befremden ausgelöst.

Manche sprechen übertreibend sogar schon von "Goldman-Gate", eine ungute Schlagzeile für die Großbank, die an diesem Dienstag mit ihren jüngsten Quartalsergebnissen glänzen will. Börsenkolumnist Jonathan Weil vom Wirtschaftsdienst Bloomberg nennt den fraglichen Code eine "doomsday machine" ("Weltuntergangsmaschine"): "Wenn der in die falschen Hände gerät - rette sich wer kann."

Nach kurzer U-Haft ist A. inzwischen gegen 750.000 Dollar Kaution auf freiem Fuß. Der gebürtige Russe, der seit 19 Jahren in den USA lebt und doppelte Staatsangehörigkeit hat, streitet jede Schuld ab. Seine Anwältin Sabrina Shroff bezeichnete die Vorwürfe als "absurd": A. habe lediglich "open source"-Daten - also frei verfügbare Daten - kopiert. Wenn er mehr als erlaubt geladen habe, dann sei das ein Versehen gewesen. Im Verhör mit dem FBI sagte A.: "Es war nicht meine Absicht, in irgendwelche böswilligen Aktionen verwickelt zu werden."

Stattdessen schob Anwältin Shroff den schwarzen Peter an Goldman zurück: "Wenn Goldman solch eine firmeninterne Information nicht schützen kann, von der uns die Staatsanwaltschaft glauben machen will, dass sie so viel wert ist wie der gesamte US-Markt, dann muss man sich fragen, wie die mit anderen Datenlöchern umgehen wollen."

System verarbeitet Marktdaten in Mikrosekunden

Fest steht bisher nur, dass A. ein ausgewiesener Experte ist: Der gebürtige Russe studierte nach eigener Darstellung in Moskau Mathematik, kam 1990 in die USA und machte an der Rutgers University seinen Abschluss in Computerwissenschaften. Im Mai 2007 ging er als Computerprogrammierer zu Goldman Sachs, wo er unter anderem für die Entwicklung einer "high-frequency trading platform" (HFT) zuständig war, einer Plattform für computerisierten Hochfrequenzhandel.

Dieses System kann Marktdaten von Börsen wie der New York Stock Exchange (NYSE) und der Nasdaq binnen Mikrosekunden, sprich Millionenstel Sekunden, verarbeiten. Trades laufen dabei völlig automatisch ab, mit massiven Volumina. Goldman selbst hat sich zu dem Fall bisher noch nicht offiziell geäußert.

Im Juni dieses Jahres kündigte A. - der im gleichen Ort in New Jersey wohnt, in dem die TV-Mafiaserie "Sopranos" angesiedelt war - bei Goldman, um zu Teza Technologies zu wechseln, einer neuen Firma, die sich auf Systeme für Hochfrequenzhandel spezialisieren will. Teza war von einem weiteren russischen Emigranten gegründet worden, Misha Malyshev, einem früheren Top-Trader der Citadel Investment Group. Bei Teza hätte A. angeblich das Dreifache seines Goldman-Gehalts von 400.000 Dollar verdient.

So weit aber kam er nicht: Am 3. Juli, dem Vorabend des US-Unabhängigkeitstags, wurde A. am Flughafen Newark vom FBI verhaftet und tags darauf dem Haftrichter vorgeführt. Dort wurde er in zwei Punkten angeklagt: Diebstahl von Handelsgeheimnissen sowie Transport der gestohlenen Ware ins Ausland - der externe Server befindet sich demnach in Deutschland.

Argloser Dummkopf oder abgebrühter Softwaredieb?

Goldman hatte das FBI schon Anfang Juni alarmiert, als es auffällige Datenströme auf einem seiner Server bemerkte. Urheber soll A. gewesen sein, von dessen Goldman-Bürocomputer die Transfers der Anklage zufolge ausgingen. Staatsanwalt Joseph Facciponti sprach von einem hohen Marktrisiko: Es bestehe die Gefahr, dass ein kenntnisreicher Unbefugter dieses Programm "nutzen könne, um Märkte auf unfaire Weise zu manipulieren", sagte er vor dem Haftrichter.

Bei dem externen Server handelte es sich um XP-Dev.com , eine Datenhosting-Site, deren Server sich physisch in Bayern befinden, die aber vom Londoner Software-Entwickler Roopinder Singh unterhalten wird. Die britische Polizei habe seine Festplatten beschlagnahmt. XP-Dev.com sei fast zwei Tage lang aus dem Netz genommen worden, berichtet Singh auf seinem Blog: "Irgendein idiotischer Trottel hat Daten aufgeladen, zu denen er nicht autorisiert war."

Ob A. ein argloser Dummkopf ist oder ein abgebrühter Softwaredieb, muss das Gericht klären. Fest steht: Der komplizierte Kriminalfall, dessen Verästelungen bis nach Deutschland und Großbritannien reichen, enthüllt eine sonst eher verborgene, virtuelle Welt, der Goldman seine ungebrochene Vormachtstellung an der Wall Street mit verdankt - und er enthüllt zugleich die Verwundbarkeit dieser geheimen Welt.

"Wer diesen Code stiehlt, stiehlt im Prinzip die Methode, mit der Goldman Sachs am Aktienmarkt Geld verdient", sagt Larry Tabb, der Gründer der Researchfirma TABB. Harvey Pitt, der frühere Chef der US-Börsenaufsicht SEC, warnt vor Konsequenzen für die gesamte Branche: "Dies ist ein Weckruf für alle Finanzinstitutionen, ihre Sicherheitssysteme zu überprüfen, nicht bei den Handelscodes, sondern bei allen internen Informationen."

Wie sicher sind die Codes?

Hinter dem ganzen technologischen Hin und Her verbirgt sich eine potentielle Schwachstelle des Computertradings, auf das sich nicht nur Goldman, sondern die ganze Wall Street immer mehr verlässt: Wie sicher sind die Daten und Codes? Wer kommt an sie heran? Können sie geklaut und meistbietend verkauft werden?

Der Fall könnte für die betroffenen Goldman-Händler "den Untergang bedeuten", schreibt der Börsenblog "Zero Hedge". Bloomberg-Blogger Weil stört sich an der Behauptung der Staatsanwaltschaft, ein Diebstahl der Codes öffne einer breiteren Marktmanipulation die Türen: Heiße das nicht, dass "Goldman selbst diese Programme missbrauchen könnte"?

Bruce Schneier, der Sicherheitschef der British Telecom, wiegelt dagegen ab. Der Fall zeige, dass so was kaum unbemerkt vor sich gehen könne, sagte er der "New York Times": "Dies ist ein Beispiel dafür, dass das System funktionierte."

Manche preisen A. derweil schon als "Helden des kleinen Mannes", wie etwa John Keeling schreibt, Börsen-Blogger der Website "Motley Fool". "Sergej wird als Robin Hood in die Geschichte eingehen, der einen selbstlosen Plan ausheckte, um die Hochfrequenz-Handelsprogramme zu untergraben, die Chaos an den Märkten angerichtet haben."

Auch wenn dies womöglich die Motive des IT-Spezialisten überschätzt, ist es tatsächlich das elektronische Hochfrequenztrading, das Wall-Street-Kritiker für die wilden Kursstürze des letzten Jahres mit verantwortlich machen. "HTF's dominieren das tägliche Marktvolumen", schreibt Keeling, "während die Händler im Kreuzfeuer der Supercomputer zu Kollateralschaden wurden." Durch die Offenlegung der Goldman-Algorithmen habe A. ein zerstörerisches System zertrümmert.

Die Schuld des ehemaligen Goldman-Sachs-Mitarbeiters scheint am Ende nebensächlich. Denn egal, ob er den Code unabsichtlich oder bewusst entwendet hat - der Diebstahl hat dafür gesorgt, dass ein wenig mehr Transparenz an der Wall Street einkehrt.

Wie die persönliche Zukunft von A. aussieht, bleibt abzuwarten. Erfolg könnte er allerdings auch außerhalb der Bankenwelt finden, lästerte das "New York Magazine" kürzlich: "Er könnte durchaus noch eine Zukunft bei 'Dancing With the Stars' haben" - in Anspielung auf die populäre US-Version der TV-Tanzshow "Let's Dance".

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