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ARBEITSMARKT Griffige Formel

Den Bonnern dämmert: Auch ein Wirtschaftsaufschwung bringt die Arbeitslosen nicht mehr von der Straße, und staatliche Investitionsprogramme allein schaffen kaum Entlastung.
aus DER SPIEGEL 3/1977

Mit einer lästigen Frage störte Hartmut Görgens vom Deutschen Gewerkschaftsbund unlängst eine ehrenwerte Runde von Spitzenbeamten und Verbandsfunktionären, die sich in Bonn zur Vorbereitung der ersten Konzertierten Aktion in diesem Jahr versammelt hatte.

Der Gewerkschafter wies auf den paradoxen Umstand hin, daß 1976 das bundesdeutsche Sozialprodukt stärker als erwartet gewachsen sei, die Zahl der Arbeitslosen sich aber kaum vermindert habe. Görgens spitz: »Können Sie mir das erklären, meine Herren?« Eine Antwort wußte niemand.

Die Experten waren offenkundig überfordert. Bisherige Erfahrungen hatten sie gelehrt, daß jeder Aufschwung mit beruhigender Regelmäßigkeit für erneute Vollbeschäftigung sorge. Da paßte es nicht ins Schema, daß diesmal zur Jahreswende trotz 5,6 Prozent Wachstum wieder 1,09 Millionen Bundesbürger auf Jobstiche sind.

Allmählich dämmert den Bonnern, daß sie mit einem schlichten Konjunkturaufschwung ihre Beschäftigungssorgen nicht loswerden. Selbst die Patentökonomen in Hans Friderichs« Wirtschaftsministerium, die bisher mit fast religiöser Zuversicht an die Selbstheilungskräfte der Wirtschaft geglaubt hatten, beginnen daran zu zweifeln, Gewinne und Unternehmeroptimismus allem würden auch mehr Investitionen und damit ausreichend Arbeitsplätze schaffen.

Die Wirtschaftslenker richten sich darauf ein, daß es bei einem erwarteten Wirtschaftswachstum von durchschnittlich vier bis fünf Prozent nicht gelingen wird, die Arbeitslosenzahl in den nächsten Jahren unter eine Million zu drücken. Angesichts nachrückender geburtenstarker Jahrgänge halten es Beschäftigungsexperten sogar für denkbar, daß die Schar der Stellungssuchenden an die Zwei-Millionen-Grenze heranklettert. Arbeitsminister Herbert Ehrenberg hat da leicht prophezeien: »Das wird die bedeutendste und schwierigste Aufgabe der nächsten vier Jahre.«

In dieser Situation wollen sich die Gewerkschaften nicht länger mit vagen Konjunkturversprechen abweisen lassen. DGB-Chef Heinz Oskar Vetter machte letzte Woche klar, die Arbeitnehmerorganisationen würden »keinen einzigen Arbeitslosen als unabänderlich akzeptieren«. Seine energische Aufforderung an die Bonner Adresse, Abhilfe zu schaffen, verband Vetter mit dem in den eigenen Reihen heftig umstrittenen Vorschlag, durch Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich mehr Menschen zur Arbeit zu verhelfen (siehe auch Seite 26).

Die Regierungs-Ökonomen wollen zunächst jedoch in den gewohnten Bahnen bleiben. Erste Entlastung erhoffen sie sich von einem mehrjährigen Investitionsprogramm. Bis 1980 sollen Bund, Länder und Gemeinden rund zehn Milliarden Mark für staatliche Investitionen auswerfen, die zusätzliche Arbeitsplätze bringen sollen. Die angekündigten Horrorzahlen vom Arbeitsmarkt haben selbst den sonst so knauserigen Finanzminister Hans Apel spendabel gestimmt: »Falls der Arbeitsmarkt sich wie befürchtet entwickelt, dann würde ich mir kein Summenlimit setzen.«

Das Superprogramm, das nicht vor Mitte des Jahres durchs Parlament zu bringen ist, kann zwar frühestens 1978 Wirkung zeigen. Doch mit griffigen Formeln wollen Kanzleramtsplaner rechtzeitig den Eindruck vermitteln, daß Bonn tatkräftig gegen die Unterbeschäftigung angeht, und so den Druck aus SPD und Gewerkschaften abschwächen.

Die neue Milliarden-Spritze soll vielmehr helfen,

* Kläranlagen zu bauen und für sauberes Wasser zu sorgen (Slogan: »Wir machen den Rhein sauber"); > Unfallschwerpunkte auf den Straßen zu beseitigen (Stichwort: »Wir schaffen die Ortsdurchfahrten

* Stadtkerne zu sanieren, Grünflächen anzulegen und Wohngebiete vor Lärm zu schützen (Spitzmarke: »Wir machen Deutschlands Städte wohnlicher").

So werbewirksam sich Konjunkturprogramme und Plakatierung ausnehmen. so angenehm sich auch die Projekte über die Jahre hin auf die Lebensqualität der Bürger auswirken mögen -- ob damit tatsächlich neue Arbeitsplätze geschaffen werden, scheint zweifelhaft. Erfahrungen mit ähnlichen Programmen zeigen, daß die stets unter Geldmangel leidenden Gemeinden mit den Bundesmitteln Investitionen finanzieren, die sie ohnehin geplant hatten und sonst aus der eigenen Schatulle hätten bezahlen müssen.

Zudem profitiert vom Straßen- und Kläranlagenbau vornehmlich der Tiefbau. eine hochtechnisierte Branche, die mit wenigen Arbeitskräften auskommt. Und schließlich: Keinen aus der Kerntruppe des Arbeitslosenheeres -- Frauen, Angestellte aus Büros und Verwaltung sowie ältere Arbeitnehmer -- würde das Vorzeige-Programm wieder in Sold bringen.

Um der Vollbeschäftigung näher zu kommen, müssen sich die Bonner schon etwas mehr einfallen lassen. Und erste schüchterne Denkversuche sind erkennbar.

Bereits im vergangenen Herbst forderte die Gruppe Arbeitsmarktpolitik der SPD-Bundestagsfraktion in einer Studie, die Beschäftigungspolitik könne nicht mehr nur als »Anhängsel der Konjunkturpolitik«, als »Reparaturinstanz bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten« behandelt werden, ihr müsse in der Bonner Politik Vorrang vor allem anderen eingeräumt werden.

Fragwürdig erscheint den Parlamentariern zum Beispiel das seit 1974 praktizierte Konzept, durch Stelleneinsparung und Einstellungsstopp im öffentlichen Dienst die Personalausweitung ohne Rücksicht auf den Bedarf zu blockieren. So werden in bundesdeutschen Schulklassen häufiger noch mehr als 40 Schiller zusammengepfercht, während gleichzeitig arbeitslose Lehrer mangels Planstellen nicht engagiert werden können.

Und noch immer ist die psychiatrische Betreuung in Landeskrankenhäusern katastrophal, fehlt es allenthalben an sozialen Beratungsdiensten; gleichzeitig aber leben tausende Psychologen und Sozialarbeiter von der Arbeitslosenunterstützung.

Da jedoch die öffentlichen Haushalte kaum mehr mit noch höheren Personalkosten belastbar sind, müßten die vorhandenen Personal-Milliarden auf mehr Köpfe verteilt werden. Die inzwischen hochbezahlten Staatsdiener mußten, wie etwa der baden-württembergische SPD-Chef Erhard Eppler vorschlägt, zurückstecken, damit Mittel für neues Personal frei werden.

Einen ersten Anlauf, die Gesetze von Angebot und Nachfrage auch auf den Staatsbereich auszudehnen, machten bereits Hessens Regierende. Sie engagierten stellungssuchende Lehrer zu Gehältern, die nur zwei Drittel des üblichen Salärs ausmachen. Der neue Arbeitsminister würde mitziehen. Herbert Ehrenberg zum SPIEGEL: »Ich hielte es für vertretbar, beispielsweise die Lehrergehälter einzufrieren und dafür mehr Lehrer einzustellen.«

Der Minister, der als wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion lange Zeit fest darauf vertraut hatte, die Arbeitslosigkeit würde vom Wirtschaftshoch weggeblasen, will in seinem neuen Amt nun strikt darauf achten, daß die Bonner Ressorts bei allen Staatsvorhaben zukünftig mehr als bisher die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt berücksichtigen.

So mutig allerdings auch mancher jetzt tönt, die harten Gefechte stehen noch bevor: mit Arbeitnehmervertretern etwa, die sich gegen Einkommenseinbußen zugunsten ihrer arbeitslosen Kollegen wehren; mit einer Beamtenlobby, die sich verbissen an das festgefügte Besoldungssystem klammert; mit Ländern und Gemeinden, die bei Investitionsprogrammen ihre eigenen Vorstellungen durchdrücken wollen.

Doch die Zeiten des Beschwichtigens und Vertröstens, so scheint es, sind vorbei. Reinhart Bartholomäi, SPD-Staatssekretär beim hessischen Ministerpräsidenten Holger Börner und bis vor kurzem Spitzenbeamter im Bonner Arbeitsministerium, mahnt seine Parteifreunde zum Umdenken. » Dieses Land«, so Bartholomäi, »steht vor einem Problem ähnlich dem des Wiederaufbaus.«

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