Zur Ausgabe
Artikel 19 / 63

LONDON Gully Europas

In Masken einschwebende Einkaufstouristen vom Kontinent vergraulen zunehmend die Engländer.
aus DER SPIEGEL 1/1977

Robert Midgley, Direktor im Londoner edel-Kaufhaus Harrods, entfaltete seine manikürten Hände, breitete die Arme in gespielter Hilflosigkeit aus, ehe er mutig untertrieb: »Wir haben bereits eine oder zwei Beschwerden bekommen, von britischen Stammkunden, schlimm.«

Dann holte der Handelsherr tief Luft: »Wissen Sie, wir haben eine Reihe ganz exklusiver Kunden, allererste Kategorie. Die erwarten, mit Recht, den ausgerollten roten Teppich, ausgesuchte, persönliche Behandlung.« Und dann der Seufzer: »Wir finden es immer schwieriger, solche Sonderwünsche zu befriedigen.«

Schuld daran sind, wieder einmal, die Ausländer. Denn bei Harrods, wie überall in London, tobte, was englische Zeitungen »die Schlacht um England« nannten.

Einem Vereinten europäisch-amerikanischen Invasionsheer« ausgestattet mit stärksten Währungen, größten Koffern, besten Nerven und unbändigem Kaufwillen haben die demoralisierten und pfundschwachen Briten nicht mehr allzu viel entgegenzusetzen.

In Zahlen: Harrods' Umsatz lag in den vergangenen zwei Monaten um 80 Prozent über dem Vergleichszeitraum 1975. 40 Millionen Pfund (160 Millionen Mark) des Gesamtumsatzes 1976 von rund 100 Millionen Pfund brachten Ausländer. Im Vorjahr -- als die Briten-Währung zwar schon schwach, aber nicht auf Schußfahrt wär -- waren es erst 20 Prozent.

Und: »Die Deutschen sind jetzt unsere besten Auslandskunden, sie haben die Amerikaner vom ersten Platz verdrängt«, so Midgley.

Andere Warenhäuser bestätigen den Trend. Selfridges rechnet ebenfalls mit 40 Prozent Ausländer-Anteil am Gesamtumsatz, Mothercare, spezialisiert auf Kinder- und Babywaren, gar mit 75 Prozent.

Nie zuvor war es etwa für Deutsche, Franzosen und Belgier so günstig, in England einzukaufen. Zwar betrug 1976 das Inflationstempo rund 15 Prozent, doch noch schneller verlor das Pfund gegenüber härteren Währungen an Wert. Gegenüber der Mark zum Beispiel sackte das Pfund im letzten Jahr um 25 Prozent ab.

Im Schnellverfahren gewissermaßen lernte ein ganzer, einst auf individuelle Käuferwünsche getrimmter Berufsstand schleunigst um: Jetzt zählt Masse statt Klasse. Viele Verkäufer, überfordert vom holprigen Ersatzenglich hysterischer Foreigners, bellen wütend zurück, wenn der Kunde, bis gestern noch König, unfaßbare Sonderwünsche hat.

»Kauf dein verdammtes Sofa doch, wo du herkommst"« mußte sich ein in England lebender Deutscher im Einrichtungshaus Habitat in der Tottenham Court Road sagen lassen -- nur weil er eine Sitzgarnitur in einem anderen, dort erhältlichen Stoffbezug erstehen wollte -- gegen Aufpreis, versteht sich. Gelegentliche Hinweise auf hohe Preise werden immer häufiger mit aggressivem Unverständnis beiseite gefegt: »Für Sie doch nicht, mit Ihren Deutschmarks.«

Freilich: Auch die »Continentals« zeigen wenig Contenance. Gejagt vom Kaufzwang -- um den Flugpreis wieder »hereinzuholen« -- und vom Zeitdruck -- weil sie meist nur einen Tag für Einkäufe haben -- lassen sie es oft an der in England noch gepflegten Feinfühligkeit missen.

Am meisten verärgert die Briten, daß die Kontinentaleuropäer ihnen gelegentlich nach Art britischer Kolonialherren entgegentreten.

Zwei junge Deutsche, die in einer Zweigstelle der Barclays Bank in der New Oxford Street ihre Mark umtauschten, ließen das Kleingeld (etwa drei Mark) mit einem gönnerhaften »sere is somesing for you« liegen. Eine aufgeregte Französin schnauzte im Wollspezialgeschäft Scotch House in Knightsbridge eine Verkäuferin an: »Ich würde Sie sofort entlassen.«

Das »Sunday Telegraph Magazine« zitierte gar einen deutschen Manager so: »England wird immer mehr zum Entwicklungsland. billige Waren in den Läden, die Leute bereit, ein bißchen mit Steuern und Zöllen zu manipulieren, überall Dreck und Niedergang: England ist der Gully Europas.«

Einige Briten-Unternehmen vollbringen mittlerweile psychologische Meisterleistungen, um die aufgebrachten Landsleute zu beruhigen. P. J. Williams etwa, Generalmanager von Selfridges: »Der Verkaufsboom teurer Markenartikel im Geschäft mit Ausländern hat uns in die Lage versetzt, Billig-Artikel im Preis stabil zu halten -- auf diese Weise profitieren auch die Briten.«

Obgleich britische Edelkunden bei Harrods neuerdings auf den roten Teppich verzichten müssen, für exotische Big Spenders gilt das nicht: Am Donnerstag vor Weihnachten kaufte die Frau des saudiarabischen Ölministers Jamani bei Harrods ein -- das entvölkerte Kaufhaus blieb für sie allein zwei Stunden länger geöffnet.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 19 / 63
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren