BÖRSE Häufig daneben
Aufregende »Chart-Signale« sah das Fachblatt »Börsen-Journal«. Der Kurs der Lufthansa-Aktie etwa sei »im Steigflug«, also rieten die Börsenexperten im letzten Februar: »Zukaufen.« Seither stürzte der Kurs von rund 300 auf unter 170 Mark.
Die »Kursknospen gehen auf«, frohlockte im April das »Wertpapier«. VW-Aktien beispielsweise würden »stramm auf die 600er-Marke« klettern. Inzwischen sind die Auto-Papiere rund 350 Mark wert.
»Jetzt Aktien kaufen«, trommelte im Oktober »Capital« mit dicken Lettern auf dem Titel, »und nach der Wahl kassieren.« Doch verblüfft stellten viele Anleger fest, daß die Kurse keineswegs steigen müssen, wenn eine konservative Regierung ihre Mehrheit verteidigt hat.
Die Börsenprofis tippen neuerdings häufiger daneben. Vorbei sind die Zeiten, als beinahe alle Ratschläge trafen, weil die Aktien nur eine Richtung kannten. In einer lang anhaltenden Hausse von August 1982 bis April 1986 hatten sich die Kurse glatt verdreifacht.
Doch seit einigen Monaten kippen die Kurse wie auf einer Wippe. »Schaukelbörse« nennen Banker und Börsianer die kaum berechenbaren Schwankungen.
Ausgerechnet nach der Bundestagswahl fielen die Kurse, als stünde das rot-grüne Chaos bevor. An einem einzigen Tag, Mittwoch vergangener Woche, büßten Werte wie Porsche 80 Mark ein, Daimler 95, Nixdorf 46, Allianz-Holding gar 240 Mark. Und nicht alle deutschen Aktien machten die Einbußen im Laufe der Woche wieder wett.
Die sensiblen Spieler-Naturen am Aktienmarkt haben längst erkannt, was Ökonomen und Politiker jetzt erst nach und nach herauslassen: Die deutsche Konjunktur ist ins Schlingern geraten. Nichts aber legt sich Börsianern mehr aufs Gemüt als eine ungewisse Zukunft.
Dabei war 1986 sogar noch ein Börsenjahr »mit guten Noten«, meint die Deutsche Girozentrale-Deutsche Kommunalbank (DGZ), auch wenn die Aktionäre, ergänzt die Commerzbank, einige »Wermutstropfen« schlucken mußten. Im Schnitt, vermeldete das Statistische Bundesamt, seien die Kurse immerhin um fünf Prozent gestiegen.
Hinter dem statistischen Durchschnitt verbirgt sich die scharfe Trennung zwischen Gewinnern und Verlierern. Im Februar und im Juli waren die Papiere vergleichsweise billig, im April und im September viel teurer als heute. Der rechte Zeitpunkt für Kauf oder Verkauf war also 1986 besonders entscheidend.
Die Aktien der Aachener und Münchener Versicherung beispielsweise kosteten im letzten Februar rund 1300 Mark. Käufer haben bis heute einen feinen Verdienst von 350 Mark gemacht. Wer freilich erst im November einstieg, der Kurs war inzwischen auf 2300 Mark geschnellt, hat fast 700 Mark verloren.
Ähnlich heftig schwankten die Notierungen fast aller Papiere. Der richtige Zeitpunkt war kaum auszumachen. BMW-Aktionäre, die ihr Depot Anfang August aufstockten, konnten Ende des Jahres einen Gewinn bilanzieren: Wer Gleiches im September tat, mußte Verluste verbuchen. Anteilseigner der Goldschmelze Degussa, die im Juli zukauften, haben bisher 100 Mark pro Stück gewonnen; die Kunden vom April haben 100 Mark eingebüßt.
Nicht einmal auf die Renner ist noch Verlaß. Der Aktienkurs der Allianz Lebensversicherung kletterte zehn Jahre lang scheinbar unaufhaltsam von 800 bis 8000 im letzten April. Letzte Woche wurde der Allianz-Kurs bei 5000 notiert.
Selbst ausgebufften Börsenprofis fällt es mittlerweile schwer, mit Aktien schnelles Geld zu machen. Werner Wanke, Wertpapier-Chef beim Frankfurter Privatbankhaus Metzler, gelang im letzten April eine treffliche Analyse der Lage. Sicher sei, sagte der Bankdirektor
voraus, »daß die Schwankungen des Marktes zunehmen« werden.
Wanke nahm damals nach dem Motto »Substanz und Ertragsstärke« Aktien von Heidelberger Zement, des Energie-Konzerns VEW und der Chemie- und Tesafilm-Firma Beiersdorf ins Depot. Die Bilanz am Jahresende: Der Kurs von Beiersdorf stagnierte, es gab eine Niete (VEW) und nur einen Treffer (Heidelberger Zement).
Das ist sicherlich noch eine gute Bilanz. Die meisten Experten haben die Wende an der Börse schlichtweg falsch eingeschätzt. Als im April letzten Jahres die Kurse Höchstwerte erreichten, vermeldete die Hamburger Vereins- und Westbank, die Börse habe »ein erneutes Fundament gebildet«. Von einer »Traumkonstellation« schwärmte die Münchner Bank Aufhäuser. Die Deutsche Bank entdeckte »Temperament« und sah »weiter günstige Perspektiven«.
Sie alle irrten. Die Anleger auch. Manche Aktienfans, verschreckt durch das unstete Auf und Ab an den heimischen Börsen, schleppten ihr Erspartes schließlich ins Ausland. An vielen Börsen der Welt roch es nach Hausse.
Das stimmte auch. In Australien stiegen die Kurse 1986 um 47 Prozent, in den USA um 23 und in England um 16 Prozent. Leider hatten die Deutschen wenig davon. Denn die Mark wurde immer stärker, Pfund und Dollar verfielen. Währungsverluste fraßen sämtliche Wertzuwächse.
Erst zu nehmende Börsenkenner erklären die Kursschwankungen mit den sogenannten fundamentalen Faktoren. Wichtig für den Kursanstieg sei vor allem, ob die Wirtschaft wächst und die Zinsen sinken. »Letztlich entscheidend«, sagt Werner Schwilling, Börsenchef der Deutschen Bank in Düsseldorf, aber seien die Erträge. Wenn die Firmen mehr verdienen, könnten auch die Kurse steigen.
Weil das Kursniveau so »fundamental gut abgesichert« sei, sagte Schwilling für die deutsche Börse 1986 einen steilen Anstieg um 15 bis 25 Prozent voraus. Die Fehleinschätzung kann den Experten überhaupt nicht irritieren. Im Börsenjahr 1987 sieht er wiederum einen »Spielraum nach oben«. Zu den wenigen gesicherten Erkenntnissen des Börsenwesens gehört der Lehrsatz von Andre Kostolany: Neben den Zinsen bestimmt die Psychologie die Kurse.
Um die Seelenlage der deutschen Aktienkäufer aber steht es nicht zum besten. Seit Monaten bauen Privatanleger schon ihre Aktienbestände ab. »Ohne das Engagement der ausländischen Investoren«, sagt Hans-Dieter Bauernfeind vom Bankhaus Georg Hauck & Sohn, »wäre an den deutschen Aktienbörsen nicht viel gelaufen.«
Ausländische Anleger, etwa Versicherungsgesellschaften oder Pensionskassen, treiben die Kurse in luftige Höhen
wie bei Conti-Gummi. Oder sie lassen die Kurse stürzen wie bei Allianz. In solch »einseitiger Nachfrage« aber, so Bauernfeind, steckt ein erhebliches Risiko. Weil die Mark immer stärker wird, könnten die Ausländer nun deutsche Wertpapiere abstoßen, um Währungsgewinne einzustreichen. Die Entscheidungen der großen Investoren aus England und Amerika sind auch von Börsenexperten kaum vorhersehbar.
Da kann nur noch Börsenastrologe Gerhard Lenz helfen. Für die nächsten Monate sieht der Sternendeuter Kurssteigerungen voraus, denn »Jupiter steht in 1987 je dreimal in einem Trigon zu Uranus und Saturn«. Ende April aber, rät der Astrologe, sollten die Deutschen »alle Aktien verkaufen«.
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DIE LUFT IST RAUS Entwicklung der Aktienkurse in der Bundesrepublik; Commerzbank-Index 1953 = 100; jeweils monatliche Höchst- und Tiefstwerte
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