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Verein verteilt Geld an Hartz-IV-Empfänger Was 100 Euro extra bewirken

In der Coronakrise ist es für Hartz IV-Empfänger noch schwieriger geworden, mit dem Geld auszukommen. Ein Berliner Verein verteilt nach dem Zufallsprinzip je 100 Euro an betroffene Familien. Das Echo war überwältigend.
aus DER SPIEGEL 31/2020
Kindergartenkinder

Kindergartenkinder

Foto: Christian Charisius/ picture alliance/ dpa

Elke Küffen, 56, kocht gern. Gesundes Essen, das ist ihr wichtig, auch wegen ihres Sohnes, 16. Doch in der Coronakrise wurde der Gang in den Supermarkt für sie immer freudloser. Sie mochte kaum auf die Preisschilder schauen.

Zucchini etwa kosteten im April fast doppelt so viel wie im Jahr zuvor, Paprika, Blumenkohl und Brokkoli über die Hälfte mehr. Schlechte Witterungsverhältnisse und das Ausbleiben osteuropäischer Erntehelfer hatten viele Lebensmittel extrem teuer gemacht. Manche Produkte waren wochenlang ausverkauft, man musste nehmen, was man kriegen konnte.

Für Leute mit Job und normalem Einkommen waren das ärgerliche Mehrausgaben, ein paar Euro hier, ein paar Euro da. Nichts, was wirklich Sorgen bereitet.

Für Küffen war das anders. "Wir haben wirklich auf alles verzichtet, was nicht unbedingt nötig war", sagt sie, "und trotzdem habe ich pro Wocheneinkauf bis zu 20 Euro mehr ausgegeben als vorher." 20 Euro, die sie eigentlich nicht hat. Küffen und ihr Sohn leben von Hartz IV.

Draußen hat sich die Lage ein wenig beruhigt. Bei Küffens bleibt sie angespannt. Sie wisse auch heute in der Mitte des Monats oft nicht, wie sie bis zum Ende durchhalten solle, sagt Elke Küffen.

Die Regierung, so sieht es aus ihrer Perspektive aus, wirft mit Hunderten Milliarden um sich, fast jedermann scheint davon etwas abgreifen zu können – sie jedoch dreht zu Hause jeden Euro zwischen den Fingern. Vor lauter Unternehmens- und Arbeitsplatzrettung scheint die Politik Menschen wie sie vergessen zu haben.

Hat wirklich niemand daran gedacht, was die Krise für jene bedeutet, die vom Existenzminimum leben? Hat der Staat versagt?

"Der Staat kommt seiner Fürsorgepflicht nicht nach, das hat sich in der Coronakrise wie unter einem Brennglas gezeigt."

Helena Steinhaus, Leiterin des Vereins Sanktionsfrei

Helena Steinhaus ist genau dieser Ansicht. Sie leitet den Verein Sanktionsfrei, der Menschen wie Küffen hilft. Hartz IV ist für sie ohnehin ein fragwürdiges Instrument; die letzten Monate hätten endgültig deutlich gemacht, wer der Politik wichtig sei und wer nicht. "Der Staat kommt seiner Fürsorgepflicht nicht nach, das hat sich in der Coronakrise wie unter einem Brennglas gezeigt."

Der Hartz-IV-Regelsatz sieht für jeden Erwachsenen rund 5 Euro pro Tag für Lebensmittel vor, 1,12 Euro monatlich für Bildung. Vor allem in Zeiten von Corona geradezu lächerlich wenig, findet Steinhaus.

Es wurden ja nicht nur die Lebensmittel teurer. Auch das tägliche Schul- oder Kitaessen fiel für viele Kinder weg. Die Verbraucherorganisation Foodwatch forderte vergebens eine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze, um Mangelernährung in weiten Teilen der Bevölkerung zu vermeiden. Stattdessen sollten, so befand Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), die Kommunen das Essen an die Kinder beispielsweise liefern lassen. Mehr Geld gab es dafür freilich nicht vom Bund. Entsprechend schwierig gestaltete sich die Umsetzung vielerorts.

Nach dem Zufallsprinzip verteilte der Verein jeweils 100 Euro Corona-Hilfe an rund 230 Familien

Hinzu kamen die Kosten für das Homeschooling. Druckerpatronen und -papier waren noch das geringste Problem. "Viele Familien haben nicht einmal vernünftige Smartphones oder Laptops, die die Kinder nutzen können", sagt Steinhaus.

Die Bundesagentur für Arbeit erklärt dazu auf Anfrage, für solche Fälle käme womöglich ein Darlehen vom Jobcenter in Betracht. Aber auch solche Darlehen müssen später zurückgezahlt werden.

Steinhaus bekam viel elektronische Post von betroffenen Familien. Ihr Verein hat sich zum Ziel gesetzt, mit Spendengeldern ein wenig auszugleichen, was der Staat ihrer Ansicht nach versäumt. Nach dem Zufallsprinzip verteilte er jeweils 100 Euro Corona-Hilfe an rund 230 Familien.

"Politiker kümmern sich nicht um Leute wie mich"

Elke Küffen, Hartz-IV-Empfängerin

Das Echo sei überwältigend gewesen. "Die Menschen sind so dankbar, dass es einem fast das Herz bricht. Da schrieben Eltern, dass sie nun doch noch die Schultüte für ihr Kind kaufen können, das bald eingeschult wird. Oder neue Schuhe für ein Zwillingspärchen. Oder einfach mal gesundes Bioobst."

Auch Küffen bekam im April 100 Euro vom Verein. Das habe ihr rasch über die schlimmste Zeit von Corona hinweggeholfen, sagt sie. Der Staat hingegen brauchte bis Juni, um der alleinerziehenden Mutter wenigstens einen Zuschuss in Aussicht zu stellen: Neben der Mehrwertsteuersenkung – die die Lebensmittelpreise wieder etwas sinken lassen dürfte – wird Familien im Herbst ein Bonus für jedes Kind ausbezahlt. 300 Euro, in zwei Tranchen. Und: Die Summe wird nicht, wie sonstige Geldleistungen, mit dem Hartz-IV-Satz verrechnet.

Allerdings hat die Sache für Alleinerziehende wie Küffen einen Haken, zumindest wenn der andere Elternteil Unterhalt für das Kind bezahlt: Dann bekommt er nämlich die Hälfte des Bonus ab – das Geld kann er von seinen Unterhaltszahlungen abziehen. So bleibt am Ende nur die Hälfte übrig. Küffen hat sich über diese Fußangel im Konjunkturpaket nicht besonders gewundert. "Politiker kümmern sich nicht um Leute wie mich", sagt sie nüchtern.

Hartz-IV-Empfänger sind nicht die Einzigen, die sich in dieser Krise alleingelassen fühlen. Auch Soloselbstständige monieren, dass ihnen nur lückenhaft geholfen werde. Doch während sie laut und hitzig dagegen protestieren, kämpfen sich Menschen wie Küffen auffällig leise durch. "Hartz-IV-Empfänger haben keine Lobby", sagt Steinhaus, "und sie halten ihre Situation oft geheim."

Das Stigma ist immer noch gewaltig. 65 Prozent der Deutschen neigen der Aussage zu, dass jeder, der arbeiten möchte, auch einen Job finde. Das ergab eine Forsa-Umfrage im Auftrag des Paritätischen Gesamtverbandes. 45 Prozent glauben, dass Hartz-IV-Empfänger bei der Jobauswahl zu wählerisch seien; fast ein Drittel ist der Meinung, dass die Betroffenen gar nicht arbeiten wollten.

Dabei galten laut Bundesagentur für Arbeit nur 37 Prozent der erwerbsfähigen Betroffenen im März tatsächlich als arbeitslos. Rund 13 Prozent hingegen absolvierten eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme, etwa einen Ein-Euro-Job. 10 Prozent befanden sich in der Ausbildung, studierten oder gingen noch zur Schule. 14 Prozent verdienten mit ihrem regulären Job so wenig, dass sie zusätzliche Hilfe vom Amt brauchten.

Das miese Image von Hartz IV habe auch mit dem System selbst zu tun, glaubt Steinhaus. Vor allem mit dem rigiden Kontroll- und Sanktionierungsmechanismus. Die Arbeitssuche wird vom Jobcenter überprüft, wer den Wohnort verlässt, muss sich abmelden – und wer sich nicht an die Auflagen hält oder Termine verpasst, dem kann die Hilfe gekürzt werden.

Bis Ende vergangenen Jahres konnte das im schlimmsten Fall bedeuten, dass Betroffene drei Monate lang überhaupt kein Geld mehr bekamen, diese Praxis hat das Bundesverfassungsgericht mittlerweile unterbunden. Nun kann die Leistung nur noch bis zu 30 Prozent gestrichen werden.

In der Coronakrise waren die Sanktionen vorübergehend ausgesetzt worden, solange die Jobcenter für den Publikumsverkehr geschlossen waren. Doch die Ruhepause ist zu Ende, obwohl die Krise noch lange nicht vorüber ist.

Das Misstrauen des Staates gegenüber seinen schwächsten Bürgern, das aus dem ganzen System spricht, will der Verein Sanktionsfrei überwinden.

Er hat deshalb den Wuppertaler Organisationspsychologen Rainer Wieland mit einer Langzeitstudie mit 500 Hartz-IV-Empfängern beauftragt. Die eine Hälfte bleibt den Sanktionen der Jobcenter ausgesetzt. Bei der anderen Hälfte zahlt Sanktionsfrei sämtliche gestrichenen Leistungen. Die Frage ist: Was hat das für Auswirkungen auf die Betroffenen?

"Die Studie dauert noch an", sagt Wieland, "aber was wir jetzt schon sehen, ist, dass allein die Angst vor Sanktionen zu einem ständigen Gefühl der Unsicherheit und Machtlosigkeit führt. Stress, Apathie und das Gefühl, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren, sind oft die Folgen."

Die wenigsten Deutschen glauben übrigens, dass der Hartz-IV-Regelsatz – knapp 440 Euro pro Monat – zum Leben reicht, auch das hat Forsa für den Paritätischen Gesamtverband erfragt. Der Betrag, den der Durchschnitt für nötig erachtete, lag um rund 65 Prozent höher.

Der neue starke Staat: In der Coronakrise lenkt die Regierung die Wirtschaft. Der Staat verteilt Zuschüsse, bürgt für Kredite, er beteiligt sich an Firmen. Die Strategie ist teuer und heikel. Wann wird aus dem Retter ein Vormund? Und wo gefährdet öffentlicher Einfluss den Wettbewerb? Eine SPIEGEL-Serie über das riskante Abenteuer für Staat und Markt.

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