ENERGIE Heiße Ware vom Rhein
Wenn es in der Schweiz regnet«, heißt eine Bauernregel der internationalen Ölzunft, »steigen in Rotterdam die Preise.«
Der Regen aus der Schweiz nämlich erhöht den Rhein-Pegel bis hinunter zum Meer und setzt sofort eine Rheintankerflotte von 1,7 Millionen Tonnen in Fahrt, die Öl von Rotterdam in den Süden bringt. Ergebnis: Die Tanks im Raum Rotterdam laufen leer, und wer rasch noch zusätzlichen Stoff braucht, der muß ihn teuer bezahlen.
Nervös und neurotisch, aberwitzig und überdreht gibt sich der Welt größter Discountladen für Rohöl, Heizöl und Benzin, wenn ein paar tausend Tonnen mehr oder weniger als gewöhnlich an- oder abgefahren werden.
Sobald ein Tankschiff der Moskauer Maklerfirma Sovfracht zwecks Devisenjagd an den Ölpiers von Rotterdam anlegt, bringen lumpige 40 000 Tonnen Zusatzöl aus dem Osten die Preise an der Ölbörse augenblicklich unter Normalpegel, und keiner kann sie halten. Wenn deutsche Importeure 100 000 Tonnen mehr als gewohnt abfahren wollen, schnellt die Ölbörse nach oben, als sei ihr letzter Tropfen weg.
200 bis 300 Händler und Telephonmakler betreiben das schnelle Tagesgeschäft in der Welt größtem Seehafen. Rund 30 bis 80 Millionen Tonnen freier Ware muß das Händlerheer Jahr für Jahr unters Volk bringen und Tag für Tag dafür sorgen, daß nichts liegenbleibt. Denn freier Tanklagerraum ist rar: Hauptsächlich zwei Unternehmen, Paktank und Nieuwe Matex, vermieten ihn meistbietend an Hausse-Spekulanten.
Das Makler- und Händlergewerbe in Rotterdam lebt gefährlich und agiert lebensgefährlich. Sein Job ist die Vermittlung überschüssiger Ölmengen von einzelnen Firmen an andere Unternehmen, die gerade knapp bei Stoff sind. Seine Funktion ist die einer Warenbörse, doch die Lebenserwartung ist kurz, denn der Ölhandel ist ein Geschäft mit allerhöchstem Kapitalrisiko.
Von den Firmen der ersten Stunde, die vor knapp dreißig Jahren nach Rotterdam kamen, sind praktisch nur noch die Mabanaft der Hamburger Familienfirma Weisser und die von dem einstigen deutschen BP-Mann Manfred Schubert gemanagte Tampimex übrig.
Rund zwei Drittel der Rotterdamer Ölmengen werden von sieben großen Vermittlern hin und her geschoben, ein weiteres Viertel von den nächsten zwölf Firmen. Den Rest teilen sich rund 200 andere, die es oft nur wenige Jahre durchhalten: ehemalige Angestellte der Großen, der Handelsfirmen und Konzerne, die in guten Zeiten schnelles Geld holen wollen.
Die Händler waren nach Rotterdam gezogen, weil dort und in der weiteren Umgebung die größten Raffineriekomplexe der Welt stehen: insgesamt 140 Millionen Tonnen Jahreskapazität, denen ein Jahresverbrauch der Beneluxstaaten von 63 Millionen gegenübersteht.
Fast 80 Millionen Tonnen Rohöl folglich verarbeiten die Fabriken in Rotterdam, Amsterdam, Antwerpen und Vlissingen, die zusammen den sogenannten Rotterdamer Markt bilden, ausschließlich für fremde Regionen.
90 Prozent der Raffinerie-Kapazitäten aber gehören den internationalen Ölmultis, die wiederum das meiste der Überschußproduktion zu normalen Abrechnungspreisen an ihre eigenen Tochter- und Schwestergesellschaften in Europa und USA weiterschleusen. Doch ein namhafter Rest bleibt in normalen Zeiten als freie Menge beim Rotterdamer Handel hängen. »Die Zahl der Anbieter«, bemerkt Tampimex-Chef Manfred Schubert, »wuchs ständig, jedoch bei genauer Analyse traf man in Europa am Ende fast immer wieder auf die gleichen Quellen.«
Auch die bedeutendsten Öllieferanten Rotterdams, die italienischen Raffinerien, gehören überwiegend den Multis. Italiens Ölindustrie besitzt Kapazitäten von 209 Millionen Tonnen, das Land selber verbraucht aber nur 100 Millionen. Der Rest muß verscheuert werden.
Hinzu kommen Anbieter wie spanische, griechische, Opec- und Karibik-Raffinerien, aber auch Sowjets und Rumänien, die weniger auf den Preis als auf die Devisen sehen.
Hauptabnehmer der Rotterdamer Freibank-Ware sind -- mit knapp 50 Prozent -- deutsche Importeure. Für die deutsche Regierung, so ein unlängst in der britischen Fachzeitschrift »Petroleum Economist« erschienener Report des Öl-Experten Joe Roeber, sei der Rotterdamer Markt mit seinen lächerlichen fünf Prozent der europäischen Ölversorgung ein »wirksames Gegengewicht zu den multinationalen Konzernen«.
In Zeiten des Ölmangels allerdings, das erfahren die Deutschen jetzt, funktioniert das gelobte Preisdrückersystem via Rotterdam nicht mehr. Während der Ölkrise 1973/74 und seit dem Iran-Debakel vom vergangenen Winter sind die Rotterdamer Preisnotierungen auf das Dreifache des üblichen gestiegen, und statt ihn zu bremsen, ziehen sie den Preis der Konzernware jetzt steil mit nach oben.
Ähnlich lächerlich wie die Rotterdamer Ölmengen sind die Methoden der Preisnotiz: Die Freihändler am Platz bieten ihre Ware der Eile wegen per Telephon feil und hören sich die Gebote der Kundschaft ungeduldig an. Das gleiche tun auch die Kundschafter des deutschen Außenhandelsverbands für Mineralöl (AFM) und des amerikanischen Platt-Büros, und schon bald nach Beginn der Geschäfte veröffentlicht Platt's Oilgram einen Tagestrend für Rohöl, Heizöl und Benzin.
An diesen Preisnotizen orientieren sich die nächsten Geschäfte des Tages. Und wenn Platt's Oilgram einmal pythische Bemerkungen über den Markt von morgen streut, dann stellen sich prompt am nächsten Tag schon vor dem Frühstück Nervosität und Hektik ein: »Ich weiß, das alles ist ungesund«, so ein holländischer Regierungsvertreter, »aber was haben wir sonst?«
Was sonst noch da ist, sind die mehrmals am Tag verscheuerten Partien, die für Stimmung und Preise sorgen. Ölfachmann Günther Lönnecke von der Hamburger Fachgazette »Oil": »Bei steigender Tendenz kann eine Partie Öl am Ende wieder bei dem landen, der sie am Anfang angeboten hat -- nur 80 Mark teurer.«
Luftgeschäfte dieser Art vernebeln genaue Zahlen über die in Rotterdam umgesetzten Mengen. Für Joe Roeber sind es 30 Millionen echte Tonnen im Jahr, für die deutschen Multis 50 Millionen, und Tampimex-Schubert geht von 80 Millionen aus.
Wo schon Mehrfachgeschäfte, Platt-Trends und eine zusätzliche 20 000-Tonnen-Partie die ganze Hektik der Händler entfesseln können, da mußte eine Krise wie die des Iran verheerend wirken: Fünf Prozent weniger Öl am Weltmarkt bedeuten für den Überschußmarkt Rotterdam die totale Ebbe. Nur noch ein Zehntel der üblichen Geschäfte findet gegenwärtig dort statt. Und wie in engen Röhren wurden die Preise nach oben gepreßt.
Nachdem die US-Regierung ihren Öleinkäufen Ende vergangener Woche 68 Mark Subvention je Import-Tonne zugeschoben hatte, explodierten die Rotterdamer Preise weiter: Per 25. Mai notierte Platt's Oilgram für die Tonne leichtes Heizöl 746 Mark -- fünfzig Prozent mehr als einen knappen Monat zuvor.
746 Mark die Tonne sind 61 Pfennig für den Liter. Leichtes Heizöl -- fast so teuer wie die Milch im Supermarkt.