
Wiedervereinigung vor 25 Jahren Wie sähe Europa ohne Deutsche Einheit aus?


Mit und ohne Mauer: Brandenburger Tor in Berlin
Foto: © Fabrizio Bensch / Reuters/ REUTERSEs ist noch nicht lange her, da waren die Deutschen alles andere als eine glückliche Nation. Um die Jahrtausendwende förderten Umfragen die Umrisse einer deprimierten Gesellschaft zutage: Ein großer Teil der Bürger hatte das Gefühl, ihre Lebensumstände würden sich immer weiter verschlechtern. Der Stolz auf die eigene Nation war nirgends in der EU so schwach ausgeprägt wie hierzulande. Und eine große Mehrheit gab an, die Jahre der deutschen Teilung zwischen 1945 und 1990 seien die glücklichste Phase der deutschen Geschichte gewesen. Die Einheit war Realität, aber die Deutschen haderten mit ihr.
Ganz anders heute: 25 Jahre nach der Wiedervereinigung sind die Deutschen überwiegend mit sich zufrieden. Große Mehrheiten in Ost und West finden, nach der staatlichen gelinge nun auch die mentale Einheit, wie das Institut für Demoskopie Allensbach vorigen Herbst ermittelte. Die Wirtschaft läuft, Beschäftigung und Lebenszufriedenheit sind hoch, auch im Osten. Eine gesamtdeutsche Behaglichkeit hat sich ausgebreitet, die auch bei dem Festakt, mit dem das offizielle Deutschland am Samstag das Vereinigungsjubiläum begehen wird, zu spüren sein dürfte.
Dabei war die Wiedervereinigung vor einem Vierteljahrhundert keineswegs zwangsläufig. Es war zumindest denkbar, dass die DDR ihre staatliche Eigenständigkeit behalten könnte - auch Helmut Kohl sprach ja zunächst nicht von staatlicher Einheit, sondern von einer "Konföderation" beider Staaten. Es ist ein lohnendes Gedankenexperiment, weil es den Blick dafür schärft, was sich durch die Einheit verändert hat. Also, wie würden Deutschland und Europa ohne wiedervereinigtes Deutschland heute wohl aussehen?
Beginnen wir mit Ostdeutschland. Nehmen wir an, die Bundesrepublik hätte der DDR großzügig mit Geldern und Expertise geholfen. Ostdeutsche hätten sich in den alten Ländern niederlassen dürfen. Die DDR hätte eine eigene Währung mit anpassungsfähigem Wechselkurs behalten, und sie hätte nicht den teuren Sozialstaat West übernommen. Unter diesen Bedingungen wäre die Entwicklung der DDR wohl ähnlich verlaufen wie in anderen osteuropäischen Ländern. Zunächst hätte eine tiefe Transformationskrise, verbunden mit einem Absturz der Währung, zu einem drastischen Wohlstandsverlust geführt. Millionen Arbeitsmigranten wären nach Westdeutschland aufgebrochen, ein Ventil, das anderen Ex-Ostblockstaaten so nicht zur Verfügung stand.
Die Industrie wäre nicht komplett kollabiert
Doch irgendwann wäre die Krise vorbei gewesen. Im übrigen Mittelosteuropa schloss sich an die schwierige erste Phase ein Investitionsboom an: Westliche Konzerne entdeckten die billigen Standorte und ließen die Produktivität rasch steigen. Aber bis Löhne und Einkommen über das Niveau von 1990 stiegen, dauerte es in manchen Ländern annähernd zehn Jahre. Eine lange Durststrecke.
In der DDR wäre es womöglich schneller gegangen: Westdeutsche Konzerne hätten sich verstärkt in Großprojekte gestürzt, ohne dass dafür hohe Subventionen nötig gewesen wären. Die vorhandene Industrie wäre nicht komplett zusammengebrochen, sondern hätte, unterstützt von der billigen Währung, die Chance gehabt, sich an die neuen Bedingungen anzupassen. Sobald ein selbsttragender Wachstumsprozess erreicht gewesen wäre, wären viele ostdeutsche Übersiedler zurückkehrt.
Westdeutschland hätte in diesem Szenario eine Menge Geld gespart. Rund anderthalb Billionen Euro Transferzahlungen sind in den ersten zwei Jahrzehnten der Einheit von West nach Ost geflossen, zwei Drittel in Form von Sozialtransfers. Ohne die Einheit, das darf man getrost annehmen, wären Staatsschulden, Steuern und Abgaben heute niedriger.
Allerdings: Es wären harte und turbulente frühe Jahre geworden. Vor allem für den Osten, aber auch für den Westen. Die Entwicklung wäre weniger vom Staat als vom Markt bestimmt worden. Sofern alles gut gegangen wäre: Die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen der ersten Transformationsphase hätten kaum kalkulierbare politische Risiken mit sich gebracht - inklusive der möglichen Regierungsübernahme durch rechtspopulistische Parteien, wie das auch anderswo im Ex-Ostblock der Fall war. Womöglich wären auch die russischen Soldaten nicht einfach aus der DDR abgezogen. So gesehen war die rasche Wiedervereinigung der sicherere Weg.
Für das übrige Europa jedoch fällt die Bilanz zwiespältig aus. Es hatte Signalwirkung, dass nun ausgerechnet die Westdeutschen ihren eigenen Nationalstaat schmiedeten, jene Gesellschaft, die bis 1989 alles Nationale überwinden und am liebsten in Vereinigten Staaten von Europa aufgehen wollte. Doch nach 1990 erfuhr die Idee, dass jede Nation in ihrem eigenen Nationalstaat leben sollte, enormen Aufwind - von der Aufspaltung der CSSR und Jugoslawiens bis zu den heutigen Unabhängigkeitsbewegungen Schottlands oder Kataloniens. Es ist nicht verwegen anzunehmen, dass eine fortdauernde deutsche Zweistaatlichkeit diese Tendenzen zumindest gedämpft hätte.
Eigene Interessen und Vorlieben hintanstellen
Insgesamt sähe Europa heute deutlich anders aus. Deutschland wäre nicht die eine - ebenso unbestrittene wie umstrittene - Führungsmacht der EU. Ohne den großen Klumpen in der Mitte wäre die europäische Integration in mancher Hinsicht leichter gefallen. Den Euro gäbe es vermutlich nicht; schließlich war die Währungsunion ein Projekt, um das übergewichtige Gesamtdeutschland unverrückbar in europäische Strukturen einzubinden. Ohne Euro wiederum wäre die Finanzkrise - die es so oder so gegeben hätte (siehe USA und Großbritannien) - weniger gravierend ausgefallen, weil stark betroffene Länder ihre Währungen hätten abwerten können.
Die deutsche Wiedervereinigung, so viel ist klar, hat der politökonomischen Topografie Europas neue Konturen hinzugefügt. Auch wenn es die Deutschen zunächst nicht glaubten: Insgesamt haben sie durch die Einheit gewonnen. Hingegen fällt aus europäischer Sicht das Urteil ambivalent aus: In vielen Bereichen nimmt die Bundesrepublik heute eine geradezu erdrückend dominierende Rolle ein.
Aus dieser Erkenntnis erwächst Verpflichtung: zur Selbstbeschränkung, zur Rücksichtnahme - zu einer Interpretation von Führung, die gelegentlich die eigenen Interessen und Vorlieben hintanstellt. Europäischen Partnerstaaten zu drohen - sei es mit dem Rausschmiss aus der Währungsunion (siehe die letzte Griechenland-Krise), sei es mit Sanktionen wegen der Flüchtlingspolitik - passt nicht zu dieser Rolle.
Die wichtigsten Wirtschaftstermine der kommenden Woche
Montag
NEW YORK - Weltparlament - Generaldebatte der Uno-Generalversammlung.
Hannover - Geld und gute Worte - Tarifverhandlungen für die Beschäftigten im kommunalen Sozial- und Erziehungsdienst.
DIENSTAG
BERLIN - Einheit in Zahlen - Das Statistische Bundesamt präsentiert eine Bilanz von 25 Jahren deutscher Einheit.
BERLIN - Bürgergesellschaft - Kanzlerin Merkel trifft Vertreter von Verbänden und Aktivisten, die sich bei der Flüchtlingsaufnahme engagieren.
BRÜSSEL - Euroland im September - Neue Konjunkturdaten zu Wirtschaftsvertrauen, Geschäftsklima und Verbrauchervertrauen in der Euro-Zone.
WIESBADEN - Preisfragen - Das Statistische Bundesamt veröffentlicht die geschätzte Inflationsrate im September.
MITTWOCH
NEW YORK - Krisensitzung - Der Uno-Sicherheitsrat berät auf Ministerebene über die Konflikte in Syrien, im Nahen Osten und in Nordafrika.
NÜRNBERG - Steigender Druck - Die Bundesagentur für Arbeit legt Arbeitsmarktdaten für September vor. Die große Frage lautet, ob und wann die von Ministerin Nahles in Aussicht gestellte Verschlechterung der Arbeitslosenzahlen aufgrund der hohen Zuwanderung eintritt.
DONNERSTAG
BERLIN - Immer wieder TTIP - Der Bundestag berät über die deutsche Haltung zum Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU.
FREITAG
PARIS - West-östlicher Dialog - Putin, Poroschenko, Merkel und Hollande sondieren über die Möglichkeit einer Beilegung des Ukraine-Konflikts.
BERLIN - Einheitsdebatte - Der Bundestag diskutiert den Bericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit.
SAMSTAG
FRANKFURT/BERLIN - Deutschstunden - Offizielle Feierlichkeiten zum Tag der deutschen Einheit mit Prominenz (darunter Gorbatschow, Juncker, Gauck, Merkel).
SONNTAG
LISSABON - Austerität an der Urne- Parlamentswahl in Portugal.

Institut für Journalistik, TU Dortmund
Henrik Müller ist Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der Technischen Universität Dortmund. Zuvor arbeitete der promovierte Volkswirt als Vizechefredakteur des manager magazin. Außerdem ist Müller Autor zahlreicher Bücher zu wirtschafts- und währungspolitischen Themen. Für den SPIEGEL gibt er jede Woche einen pointierten Ausblick auf die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der Woche.